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[31] Man feierte das Erntefest. Auf einem blumigen Hügel am Ufer der Weichsel tanzte das junge Volk. Fässer mit Bier und Schnaps standen da, denn auch die Alten wollten fröhlich sein. Mitten im lautesten[31] Jubel machte plötzlich ein lauter Schrei die Musik und die fröhlichen Lieder verstummen. Man hörte auf zu tanzen. Alle drängten dahin, woher der Lärm zu kommen schien. Und sie mußten etwas Schreckliches sehen: ein Werwolf hatte das schönste Mädchen des Dorfes gefaßt und schleppte es im Rachen fort.

Die jungen Männer eilten ihm nach, und bald war das Untier eingeholt. Aber dieses ließ seine Beute auf die Erde fallen, stellte sich voll Wut davor und erwartete den Angriff. Die armen Burschen wußten sich nicht zu helfen; einige liefen nach Hause um ihre Flinten, andere traten furchtsam ganz zurück. Als der Werwolf das sah, hob er schnell das Mädchen wieder auf und rannte in vollem Lauf dem Walde zu.

Fünfzig Jahre später war auf demselben Hügel die Jugend des Dorfes wieder zu fröhlichem Spiel versammelt. Da sahen sie einen eisgrauen Alten herankommen und baten ihn, an ihrer Fröhlichkeit teilzunehmen. Er aber setzte sich schweigend nieder und leerte traurig das Glas mit Schnaps, welches man ihm reichte. Einer der Bauern, der fast ebenso alt war, ging zu dem Fremden hin und fing an mit ihm zu reden. Jener sah ihm lange ins Gesicht, endlich rief er mit Tränen: »Was, Du bist es, mein lieber Stephan?«

Und sogleich erkannte der Bauer seinen älteren Bruder, der vor fünfzig Jahren auf rätselhafte Weise verschwunden war. Erstaunt umringten ihn alle, und nun erfuhren sie, wie eine böse Hexe ihn in einen Werwolf verwandelt und er dann das Mädchen beim Erntefest geraubt habe, wie es aber ein Jahr darauf vor Kummer im Walde gestorben sei.[32]

»Von da an,« fuhr er fort, »warf ich mich mit Heißhunger auf alle Menschen. Wen ich nur packen konnte, den fraß ich auf, und die Blutspuren hab ich noch immer nicht verwischen können.« Hierbei zeigte er seine Hände, – sie waren ganz mit Blut bespritzt. Und er sprach weiter: »Vier Jahre irre ich nun wieder in Menschengestalt umher. Ach, ich wollte Euch noch einmal sehen, Euch und das Dorf, wo ich geboren bin. Dann, – o meine lieben Freunde! – dann fliehet vor mir, dann werd' ich wieder ein Werwolf wie vorher!«

Kaum hat er das gesagt, so springt er plötzlich, in einen Wolf verwandelt, auf schnellen Beinen davon, heult gräßlich und verschwindet für immer im Walde.

Quelle:
Volkssagen und Märchen aus Polen von K. W. Woycicki. Breslau: Verlag von Priebatschs Buchhandlung, 1920, S. 31-33.
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