1. Die vergessene Braut.

Ein Müller hatte einen einzigen Sohn. Als dieser herangewachsen war, trug ihm der Vater auf, in die Welt hinauszuziehen und sich eine reiche Frau zu suchen. Der Jüngling machte sich auf den Weg. Nach längerer Wanderung kam er in die Nähe eines Glasberges, bei welchem ein Bach vorbeifloss, und hier beschloss er, sich einige Tage auszuruhen. Auf dem Berge wohnte eine Frau mit ihren drei Töchtern. Die Jungfrauen kamen täglich vom Berge herabgeflogen und badeten sich in dem Bache, nachdem sie ihre Flügel abgelegt hatten, und der Jüngling hatte einige Male Gelegenheit, sie dabei zu beobachten. Die schönste von ihnen aber war die jüngste. Als nun die Mädchen eines Tages wieder im Wasser waren, da eilte der Müllerssohn hinzu und nahm der Jüngsten die Flügel fort. So konnte sie nicht mehr auf den Berg zurückkehren, und der Jüngling führte sie nun als seine Braut mit sich in seine Hütte. – Die Mutter der Jungfrau wollte zwar in eine Ehe einwilligen, doch nur dann, wenn er die Arbeiten ausführen würde, die sie ihm geben würde. Und nun brachte sie ihm am nächsten Tage gläsernes Handwerkszeug und trug ihm auf, eine gläserne Kapelle zu bauen. Aber der Jüngling zerschlug alles. Da legte er sich auf die Erde und weinte. Am Mittag brachte ihm seine Braut das Mittagessen, und als sie ihn weinen sah, fragte sie ihn nach der Ursache seines Weinens. Der Jüngling sagte sie ihr. Da befahl sie ihm, sich hinzulegen und zu schlafen; dann werde schon alles gut werden. Der Jüngling tat, wie ihm geheissen war, und als er erwachte, da war die Kapelle aufgebaut.[204]

Als zweite Arbeit wurde ihm aufgetragen, er solle um den ganzen Glasberg einen drei Ellen breiten Graben ziehen. Die Frau gab ihm dazu einen gläsernen Spaten. Aber kaum hatte er sich an die Arbeit gemacht, da zerbrach der Spaten, Ratlos und hilflos stand er da und begann zu weinen. Als es Mittag geworden war, brachte ihm seine Braut wieder das Mittagessen, und er klagte ihr wieder sein Leid. Auch jetzt riet ihm die Jungfrau, sich hinzulegen und auszuschlafen; und als er wieder erwachte, da war der Graben fertig.

Jetzt eilten die beiden fort. Sobald die Mutter das bemerkte, schickte sie ihre älteste Tochter hinter den Fliehenden her. Als diese sie herankommen sahen, sagte die Braut: ›Ich werde mich jetzt in einen Dornbusch verwandeln, und du wirst zur Blume werden.‹ Kaum waren sie verwandelt, da kam die Schwester heran und wollte die Blume pflücken, aber vor den Dornen konnte sie nicht herankommen. Sie kehrte deshalb um, und nun schickte die Mutter die zweite Tochter den Fliehenden nach. Da verwandelte die Braut sich in eine Kapelle und den Müllerssohn in einen Priester. Wie nun die zweite Schwester in die Kapelle hineingehen wollte, da schlug der Priester drei Kreuze vor ihr, und sie musste umkehren. Jetzt machte sich die Mutter selbst auf den Weg. Die Braut machte sich nun zu einem Teiche und ihren Bräutigam zu einem Enterich, der auf dem Wasser herumschwamm. Wie nun die Mutter zu dem Teiche kam, da rief sie nach ihrer Tochter; aber vergeblich, denn die Tochter kam nicht; und so kehrte auch sie um, nachdem sie noch drei Kleider am Rande des Teiches niedergelegt hatte. Nachdem die Braut sich und den Müllerssohn wieder in Menschen verwandelt hatte, nahm sie die Kleider, und die beiden wanderten nun unbehelligt weiter und kamen zu der Heimatstadt des Bräutigams. Hier liess der Müllerssohn die Jungfrau zurück und begab sich zu seinen Eltern in die Mühle.

Dort hatte er seine junge Braut bald vergessen und sich ein anderes Mädchen ausgesucht, das er als Gattin heimzuführen gedachte. Seine frühere Braut aber trat bei einem Müller in Dienste. Einmal kam der junge Mann zu dem Müller zum Besuch, als sie gerade mit der Wäsche beschäftigt war. Er trat zu ihr und fragte sie, ob sie sich nicht etwas mit ihm unterhalten möchte, denn er hatte sie nicht erkannt. Sie sagte: ja, wenn er ihr waschen helfen wolle. Da nahm er ein Schnupftuch und spülte es aus. Aber nun konnte er nicht wieder loskommen, und er musste bis zum nächsten Morgen am Waschtroge stehen. Ein anderes Mal traf er das Mädchen beim Melken. Er wollte ihr helfen und fasste eine Kuh beim Schwanze. Da konnte er den Schwanz nicht wieder loslassen und musste die ganze Nacht so stehen bleiben. Doch auch jetzt hatte er seine frühere Braut nicht wiedererkannt.

Jetzt nahte der Tag der Hochzeit heran. Die Magd wurde als Brautführerin eingeladen. Sie nahm das hässlichste von den drei Kleidern, die ihr die Mutter einst am Teich zurückgelassen hatte, und ging zur Hochzeit. Wie nun der Müllerssohn die schöne Brautführerin erblickte und sah, dass ihr Kleid viel schöner war als das seiner Braut, da bat er sie, das Kleid seiner Braut zu schenken. Sie tat es, eilte aber nach Hause und zog das zweite Kleid an, das sie von ihrer Mutter erhalten hatte. Wieder war es viel schöner als das der Braut, und wieder bat der Bräutigam sie, das Kleid seiner Braut zu schenken. Sie tat es auch und zog nun das dritte Kleid an, das noch viel schöner war als die beiden ersten. So erschien sie wieder auf der Hochzeit. Jetzt fiel es dem Bräutigam wie Schuppen von den Augen; er erkannte seine Braut, die er treulos in der Stadt verlassen hatte, und heiratete sie; die andere aber wurde nach Hause geschickt.


Aus polnischer Quelle im Kreise Samter. Vgl. Grimm, KHM. Nr. 56. 113. 186, und zum Eingange Nr. 193.

Quelle:
Knoop, Otto: Sagen aus Kujawien. In: Zeitschrift für Volkskunde 26 (1916) 204-208, Berlin: Behrend & Co, S. 101-102,204-205.
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