1. Die zwei Brüder und die vier Riesen.

[120] Vor vielen hundert Jahren, als es noch Riesen gab, waren einmal in Scarl zwei Brüder; Die mußten für ihre Eltern gar hart arbeiten und bekamen fast Nichts zu essen, aber viele Schläge. Das verdroß sie, und als sie einst im Walde waren, Holz zu sammeln, beschlossen sie, fortzugehen, in die weite Welt. Bei einem alten Tannenbaum sagten sie sich Lebewohl und versprachen sich, nach Jahresfrist dort wieder sich zu stellen.

Der Jüngere ging muthig in den dichten, dunkeln Wald hinein. Gegen Abend kam er zu einem Baum, auf welchem vier Riesen ihre Behausung hatten. Das sind in den alten Zeiten gar grausame Leute gewesen und haben auch Menschen gefressen. Doch davon wußte der Junge Nichts. Er stieg hinauf und legte sich unter das große Bett; hineinsteigen konnte er nicht, es war ihm zu hoch. Nicht lange, so kamen die Riesen und legten sich neben einander in ihr Lager. Der drunter rührte sich nicht, und lauschte auf ihre Reden.

Der Erste sagte: »Ich weiß eine Mühle, nicht weit von hier; dort liegt ein Mädchen im Bette und das will ich fressen.«

Der Zweite sagte: »Und ich weiß einen Baum, bei dem steht ein Holzhacker, und unter der Wurzel liegt ein großer Schatz, den will ich holen.«

»Und ich weiß ein Haus,« sagte der Dritte, »da müssen die Leute das Wasser weit her tragen; aber beim Haus ist ein Stein[120] auf dem sitzt ein Frosch; da d'runter ist eine Quelle, die will ich aufdecken und viel Geld damit gewinnen.«

»Aber ich«, rief der Vierte, »kenne ein Schloß, da ist ein König und dem seine Tochter ist krank, daß kein Doktor ihr helfen kann. Aber mit einem Apfel von dem Baume, wo wir sind, kann ich sie gesund machen, und sie soll meine Frau werden.«

Darauf schliefen die Riesen ein. Der Junge aber kroch leise hervor, brach einen Apfel vom Baume und kletterte behende hinunter. Spornstreichs eilte er zu der Mühle, weckte den Müller und sagte zu ihm: »Paßt heute Nacht auf; der Riese kommt, und will Euer Kind fressen.« – Dann ging er zum Holzhacker, der fällte den Baum, welchen der Riese gemeint hatte. Er hieß den Mann nachgraben, und der fand einen großen Schatz und wollte mit dem Jungen theilen; Dieser nahm aber nur so viel, als er nothwendig zur Reise brauchte. – Darauf begab er sich zu dem Hause, wo die Leute kein Wasser hatten. Denen zeigte er den Stein mit dem Frosche, und deckte die Quelle auf; aber zum Lohne nahm er Nichts an. – Endlich kam er auf das königliche Schloß; dort war Alles in tiefer Trauer wegen der kranken Prinzessin. Aber der König, ihr Vater, hatte eben eine Botschaft ausgehen lassen in alle Länder: Wer ihre Krankheit heben könne, dem wolle er sie zur Frau geben. Da ließ der Junge zu ihr sich führen, und machte sie gesund mit dem Apfel. Da war große Freude im Schlosse und im ganzen Lande. Und der König und die Königin stellten ein großes Fest an und luden alle ihre Freunde und Bekannte dazu ein, und da wurde die Hochzeit herrlich und in Freuden gefeiert. –

Quelle:
Jecklin, Dietrich: Volksthümliches aus Graubünden. 3 Teile, Zürich 1874, Chur 1876, Chur 1878 (Nachdruck Zürich: Olms, 1986), S. 120-121.
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