Der Geist im Urden-See.

[34] »Mein Arm ist schwach, mein Haar ist grau,

Nicht leb' ich mehr länger, ich arme Frau.


Vom Weinen sind meine Augen roth,

Mein einziges Hoffen ist der Tod.


Mein einziges Hoffen ist der Tod,

Er löst mich aller Angst und Noth.


Er löset mich von Qual und Pein,

Dann geh' ich zum himmlischen Frieden ein.


Dann hör' ich der Engelein Lobgesang.

Jetzt will ich thun den letzten Gang.
[34]

Wohl ist die Kirche viel' Stunden weit,

Doch kehr' ich dann besser zum Tode bereit.«


Und wie sie wankte durchs grüne Thal,

Da brannte heiß der Sonne Strahl.


Es lag auf den Gliedern wie Blei ihr schwer,

Es glühte die Luft, ein Flammenmeer.


»So hilf mir, Herr, zum ersehnten Ort,

Dir hab' ich vertraut, du bist mein Hort.« –


Die Sennhütt' winkt aus der Wiese Grün;

Sie schleppte mit sterbenden Kräften sich hin.


Der Senne schlug die Thüre zu:

»Geh' fort, du Bettelweib, laß mich in Ruh!«


Da sank sie zu Boden, entkräftet, bleich:

»O Senn, nur ein Tröpflein Milch mir reich'!«


Da streckte sie aus den hagern Arm:

»O Senne, hab' Mitleid, erbarm' dich, erbarm'!«


Und klagte, und weinte bitterlich,

Bis endlich des Mannes Starrsinn wich.


Er trat heraus, ein Geschirr er trug:

»Nun, Alte, sollst du bald haben genug!«


Und schaute sie an so seltsam dazu,

Und melkte in Eil' seine rothe Kuh.


Die Milch bot er der Alten an,

Da hat er schnell Gift hinein gethan.


»Was du mir gethan, vergelte dir Gott!«

Da verzog er den Mund zu hämischem Spott.


»Leb' wohl, und der Himmel beschütze dein Dach!«

Da schaut er mit teuflischer Lust ihr nach. –


Und als sie ging ihren Weg fürbas,

Da schmerzt' es sie heftig, sie wußte nicht was.
[35]

Und als sie erreichte des Hügels Höh,

Durchzuckte sie jach, wie Dolche, das Weh.


Sie sank dann zur Erde mit lautem Schrei;

Es rollten die donnernden Wolken herbei.


Es stand der Himmel schnell in Glast,

Es spaltet die Erd' sich, in schauriger Hast.


Die Alpe sank nieder, und wo sie geruht,

Da decket die Tiefe der Wasser Fluth. –


Das ist der See von Urden; noch führt

Ein Fußweg zu ihm, und drinn sich verliert.


Dort gehen die Hirten schnell vorbei,

Dort hört man oft in den Lüften Geschrei.


Und alle sieben Jahre soll

Durchtosen den See ein dumpfes Geroll.


Dann milkt der Senn seine rothe Kuh,

Die Wolken donnern, und blitzen dazu.


Und hat er sein nächtlich Geschäft dann vollbracht,

Versinkt er heulend in alte Nacht.

Quelle:
Jecklin, Dietrich: Volksthümliches aus Graubünden. 3 Teile, Zürich 1874, Chur 1876, Chur 1878 (Nachdruck Zürich: Olms, 1986), S. 34-36.
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