Die Jungfrau mit dem Holde.

[6] Auf der hohen Alp Russein handthierte wacker ein Senne mit seinen Gehülfen. An einem schönen Sommermorgen öffnete sich[6] plötzlich die Thüre, und herein trat eine fremdartige und doch Vertrauen erweckende Gestalt; in reichen Wellen fielen ihre goldenen Flechten über die blendenden Schultern herab, in ihren zarten Händen trug sie ein Gefäß, und im Gefässe funkelte flüssiges Gold. »Jeder Hirte solle davon erhalten so viel ihm beliebe, hüte sich aber, auch nur einen Tropfen zu verschütten«, mahnte die Fee. Zwei der Sennen waren genügsam, als sie ihr Gefäß ein Mal gefüllt hatten; der dritte aber, ein geiziger, habsüchtiger Mann, wollte immer mehr, stolperte und verschüttete ein wenig vom Golde, und – Gold und die segenspendende Erscheinung entschwanden den Blicken der Hirten.

Quelle:
Jecklin, Dietrich: Volksthümliches aus Graubünden. 3 Teile, Zürich 1874, Chur 1876, Chur 1878 (Nachdruck Zürich: Olms, 1986), S. 6-7.
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