Erklärungen.
Das wüthende Heer.

[75] Von allen Gottheiten der alten Deutschen ist Wuotan der erste Gott, der Schöpfer, Geber und Lenker aller Dinge, und behauptete seine hehre Würde als solcher, bis mit der Ausbreitung des Christenthums die mehreren Gottheiten der Germanen ihr Ansehen und ihre Bedeutsamkeit verloren. Obgleich der Glaube an ihn sich erhielt, gab er seine Rolle als Regierer der himmlischen Mächte auf, und wurde dagegen Beherrscher der Hölle.

Als höllischer Jäger führt er nunmehr das wilde Heer an. Er erscheint nicht mehr in seiner herrlichen Gestalt, mit goldenem Helme, schimmerndem Panzer, wuchtigem Speere. Der einst strahlende Gott, zum Höllenfürsten geworden, hat eine wilde, trotzige Gestalt angenommen und jagt nun als Anführer des wüthenden Heeres in rasender Eile durch die stürmische Nacht dahin, ein Schrecken jedem Landmann, der sich fromm bekreuzt vor den spuckhaften Unholden auf den flammenden Rossen.

Im Allgemeinen stellt man sich das wüthende Heer als eine böse Geisterschaar vor, welche hauptsächlich in den sog. zwölf heiligen Nächten (zwischen Weihnachten und dem Dreikönigstage) wie eine finstere Sturmwolke daher, dahin fährt, begleitet von einem furchtbaren Getöse, welches die meiste Aehnlichkeit mit dem Lärm eines ungeheuern Jagdzuges hat. – Voran geht der getreue Eckard, hinter ihm Wuotan auf weißem Rosse; dann kommt der schauerliche Haufe gespenstiger Gestalten in abentheuerlichen, scheußlichen Formen, die Einen zu Fuß einherschreitend, Andre auf zweibeinigen Rossen reitend, Andre auf Räder gebunden, die von selbst laufen, wieder Andre kopflos daher stürzend, oder ihre Beine auf den Achseln tragend. Mit Raben, Nachteulen, Wölfen, Schweinen ist der groteske Zug reichlich ausgestattet, der unter Saus und Braus, Jagdgeschrei und infernalischem Getöse über Auen, Sümpfe, dichte Wälder, wie über Städte hinweg, ihrem Anführer mit dem breitkrämpigen Hute und rückwärts rauschendem Mantel nachstürzt.

Im Nu ist der geisterhafte Spuck, gleich einem Schattengewölke, verschwunden. –

[76] Wodan hält seinen gespenstigen Umzug meist bei Nacht, und nur ausnahmsweise bei Tag, und von ihm hat der Zug, den er anführt, den Namen Wuotans-Heer, und von der rasenden Eile und dem ungestümen Gebahren die nähere Bezeichnung das wüthende Heer erhalten.

Quelle:
Jecklin, Dietrich: Volksthümliches aus Graubünden. 3 Teile, Zürich 1874, Chur 1876, Chur 1878 (Nachdruck Zürich: Olms, 1986), S. 75-77.
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