Das Nachtvolk oder die Nachtschaar.

[77] Das Nachtvolk oder die Nachtschaar zeigt sich, wie der Name bezeichnet, nur bei Nacht, immer in Schaaren.

Es liebt bestimmte Wege und Stege, über welche es zieht. Gerne fährt es durch Kreuzgassen, Grat- und Kreuz-Tobel; aber auch einzelne unbewohnte Häuser und verlassene Alphütten sind seine beliebten Tummelplätze, Findet es sogar vier im Quadrate stehende Häuser, so fährt es nächtlicher Weile mit großer Vorliebe kreuz und quer zwischen denselben hin und her. – Auch ein Haus mit Vorder- und Hinterthüre ist das Augenmerk der Nachtschaar. Der Bewohner dieses Hauses muß beide Thüren des Nachts offen lassen, damit das Nachtvolk durchziehen kann; riegelt er aus Versehen eine derselben, machen die späten Gäste einen solchen Lärm, daß er gerne aufsteht, um den Paß zu öffnen. –

Durchgängig benimmt sich das Nachtvolk weit gesitteter, als das wüthende Heer. Es kommt und verschwindet mit Geräusch und Gesumme; oft sogar mit herrlicher Musik, je nach Bedeutung seiner Wanderung. Soll sein Kommen ein gutes Jahr anzeigen, bringt es Musik mit, steht aber Krieg oder Krankheit bevor, muß es tosend und lärmend sich zeigen.

Wuotan hat beim Nachtvolke nichts zu schaffen, er bleibt seinem wüthenden Heere getreu. Es ist Eckard, der auch hier den Führer macht. Er eilt dem Zuge voraus, in der Hand einen weißen Stab, und räth Jedem, dem das Nachtvolk begegnet, rechts auszustellen und das rechteStrumpfband zu lüften. – Der Letzte im Nachtvolke führt ein Beil bei sich, womit er Jedem, der nicht rechts ausstellt, in's Knie schlägt.

Das Nachtvolk braust nur einen Schuh über dem Erdboden einher. Legt sich dann Einer, der ihm nicht mehr ausweichen konnte, auf den Boden und spreizt die Arme, so fährt das Nachtvolk über ihn hinweg, und ihm geschieht kein Leid; ein ungeheurer Luftzug ist es einzig, was ihn belästigt.


Die Sagen vom wüthenden Heere, vom Nachtvolke finden wir im Prätigau, in Schanfigg, auf Davos, im Oberlande, namentlich auf Obersaxen.

[77] Varianten der Sagen vom Nachtvolke in der Jeninser-Alp, am Obersaxen finden wir in Vorarlberger Sagen (vide Vonbun).


In der Sage vom entführten Sennen spielt das Nachtvolk als Windsbraut, in der Wanderung nach Einsiedeln finden wir Eckard den Führer allein.


Oft sind sowohl beim wüthenden Heere, als auch beim Nachtvolke zwei Züge, ein männlicher und ein weiblicher, die bald vereint, bald getrennt, die Gegend durchstreifen. Wie Wuotan beim wüthenden Heere und Eckard beim Nachtvolke die Führer sind, leiten Frau Holda und Berchta, die milden, freundlichen Göttinnen, auf einem mit zwei Katzen bespannten Wagen daher fahrend, den weiblichen Zug; seltsame Gestalten folgen auch hier der Führerin, es sind aber lauter Frauen und Kinder.

Ihr Umzug ist das Zeichen eines guten künftigen Jahres; bleiben sie aber aus, ist's ein Zeichen ihrer Ungunst, ihres Mißfallens und sicherlich sieht man dann einem bösen Jahre entgegen. – Hat das Nachtvolk Musik mitgebracht, und wird es von Holda's oder Berchta's Zug begleitet, so freut sich der Gläubige einer gesegneten Zukunft.

Quelle:
Jecklin, Dietrich: Volksthümliches aus Graubünden. 3 Teile, Zürich 1874, Chur 1876, Chur 1878 (Nachdruck Zürich: Olms, 1986), S. 77-78.
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