Vorwort.

[99] Die Mythologie ist reich, aber so reich ist sie nicht, daß sich aus ihrem Gebröckel eine Mährchenwelt erzeugen könnte.


(Uhland's Schriften VIII. Band).


Deutsche Sage und deutsches Lied lassen ihre besten Töne über kühne Reckenthaten, zarte Frauenminne und treue Freundesliebe an den Ufern des schönsten deutschen Stromes, des Vaters Rhein, erklingen. In seiner purpurnen Tiefe ruht das rothe Gold des Nibelungenhorts, um den so mancher Held Leib und Leben gelassen; um seine Hügel weht der Hauch des großen Karl, und aus seinem tiefblauen Wasserspiegel strahlen jene gigantischen Dome, die ein starkes und frommes Geschlecht errichtet. So weit des Stromes Lauf geht, auf helvetischer wie auf deutscher Erde, blüht das Reich der Poesie in schimmerndem Glanze, und die Sage rankt sich um jede Burg und schaut aus jeder Hütte hervor, von alten Zeiten erzählend und von Geschlechtern, die längst vergangen, ein Nibelungenhort mitten in unsern Tagen, so kostbar wie jener, um den Siegfried geblutet.

Seltsam, doch wahr ist es, daß jener deutsche Sagen- und Märchenschatz auch an den wilden Ufern des Vorder- und Mittelrheines sich erhalten, mitten auf romanischem Grund und Boden. Wohl tönt dort eine andere Zunge, aber das deutsche Märchen lebt noch in frischester Ursprünglichkeit in jenen rauhen Thälern, freilich zuweilen umhaucht vom glühenden Athem, der herüberweht von naher italischer Erde, aber stets kernig und unverfälscht. Im Gewande der Poesie begegnen wir im romanischen Märchen den alten deutschen Reckengestalten, dem kühnen Wolfdietrich, dem muthigen Siegfried, ja dem altehrwürdigen Hildebrand. Sie alle und noch andere Helden leben noch unter dem Volke, das da weilt am Fuße des Badus. Die alten deutschen Schlösser aus[99] grünem Marmelstein tauchen am romanischen Rheine wieder auf, die stolzen Gestalten der Chriemhilde und der Brunhilde mit glänzendem Hofstaate bevölkern die Halle, die rauhe Els badet in ihren Wellen und steigt verjüngt empor, von den Zinnen der Burg blickt die zarte Hildeburg herab ins grüne Alpenland, Dietrich von Berne zieht aus, den Drachen zu besiegen, ja der alte Wuotan steigt wieder herab zu den Menschenkindern, und Jdun hütet die goldenen Aepfel unsterblicher Jugend. Sogar die Schwanenjungfrau, das holde Duftgebilde im uralten eddischen Liede, Wölundarkwidha winkt auf rätischer Alpenhöhe und umkost den rauhen Hirten mit süßem Geflüster.

So leben denn in den fernen Alpenthälern längst entschlummerte Geister, vom Volke der Hirten als ein kostbares Gut treu bewacht. Nur ungern erzählen sie dem Fremdlinge die von Großmütterchen ihnen anvertrauten Märchen. Wer diese frisch und rein haben will, der steige dort auf grüne Alp und lausche Abends beim prasselnden Feuer dem alten Senn, wie er den lieben Jungen von den grimmen Drachen und tapfern Rittern erzählt, oder er geselle sich zu den Kindern, die an den langen Winterabenden um den Ofen geschaart, wo Großmütterchen auf ihrem Ehrensitze thronend, von den Raben, die sprachen, und von Jungfrauen mit Schwanenfedern erzählt.

Wie aber die Bergkirschbäume mit ihrem schattigen Laubdach und ihren süßen Früchten sich immer mehr in die einsamen Berghöfe zurückziehen, um auch dort bald zu verschwinden, so wird manches Märchen auch nur vom Großmütterchen im hochgelegenen Hofe gehütet, und mit ihr wird dasselbe den Zwergen zurückgegeben, die in den Tiefen der Erde des Rheines Rotherz hüten.

Und auch der Sammler dieser Märchen, selbst ein Sohn surselvischer Berge, hat dem Herzschlag des Volkes gelauscht und aus den rauhfaserigen, aber duftenden Alpenblumen einen schlichten Kranz gewunden, den Freunden rätischen Volkslebens gewidmet.

Quelle:
Jecklin, Dietrich: Volksthümliches aus Graubünden. 3 Teile, Zürich 1874, Chur 1876, Chur 1878 (Nachdruck Zürich: Olms, 1986), S. 99-100.
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