6. Kampf der Ochsen.

[35] In der Alpe von Luvis kam täglich während dem Käsen ein Mann mit einer Axt unter dem Arme in die Sennhütte, und stand längere Zeit da, ohne ein Wort zu reden; dann ging er wieder weiter.

Den Knechten kam das kurios vor, aber Keiner wollte ihn anreden.

Der Senn allein wagte dieß, als der Fremde am folgenden Tage richtig wieder kam; und der Unbekannte gab auf die Frage, warum er alle Tage zu ihnen komme, aber nie ein Wort rede, die Antwort: »Ich bin ein unglücklicher Mann, Ihr[35] aber könnt von meinem Elende mich erlösen, wenn ihr Muth habet.«

Dann fügte er hinzu, es solle einer der Hirten, oder der Senn selber, des Nachts zwischen 11 und 12 hinaus an den See gehen, der in der Nähe der Hütte ist. Es würden dann zwei gewaltig große Ochsen, ein rother und ein schwarzer, aus dem See heraufsteigen, und miteinander kämpfen; und zwar werde der Rothe dem Schwarzen weichen müssen. – Gelinge es ihm dann, mit dieser Axt dem Schwarzen einen Hieb zu geben, so sei er erlöst; gelinge es ihm aber nicht, so solle er die Axt in den See werfen.

Nach dieser Erklärung überreichte der Unbekannte dem Sennen die Axt.

Der Senn übernahm die Ausführung, und verfügte zur rechten Stunde sich an den See hin.

Er brauchte nicht lange zu warten, so kamen die zwei fürchterlich großen Ochsen mit entsetzlichem Gebrülle zum Vorscheine, und zwar jagte der Schwarze den Rothen aus dem See heraus und auf dem Wiesengrunde umher.

So sehr es dem Sennen darum zu thun war, dem Schwarzen einen Hieb zu versetzen, gelang das ihm doch nicht; denn der Schwarze schob durch seine Wendungen den Rothen immer dem Sennen zu, daß Dieser, in Lebensgefahr, durch die beiden kämpfenden und ringenden Ochsen niedergestoßen zu werden, den Plan zur Rettung der Seele des Mannes, für welchen er das Wagestück bestand, aufgab, und die Axt in den See warf, worauf die streitenden Ochsen mit gräßlichem Gebrülle in die Wellen sich stürzten. –

Seither soll zu gewissen Zeiten dieser See durch unsichtbare Macht stark erregt werden, und hohe Wellen werfen; und das Gebrülle der, selbst unter dem Wasserspiegel streitenden Ochsen zu vernehmen sein.

Der fremde Mann aber erschien nie wieder in der Alphütte.

Quelle:
Jecklin, Dietrich: Volksthümliches aus Graubünden. 3 Teile, Zürich 1874, Chur 1876, Chur 1878 (Nachdruck Zürich: Olms, 1986), S. 35-36.
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