3. Der Geist vom Crap Saklatsch.

[121] Vor Jahren herrschten zwischen den nahe bei einander liegenden Gemeinden Süs und Lavin heftige Grenzstreitigkeiten.

Die Süser behaupteten nämlich, ihr Gebiet gegen Lavin gehe bis zum Bache, der aus Val Sagliaints fließet, und der die Straße durchschneidet.

Die Laviner aber bestritten das, und entgegneten, ihr Grund und Boden gehe über den Bach aus Sagliaints hinaus, bis zum sog. Crap Saßlatsch, einem Felsvorsprunge, der bedeutend näher Süs zu liegt.

Die Sache kam vor Gericht, und nun sollte ein »Augenschein« vorgenommen werden.

Am Abende vor diesem Beschlusse versammelten die Laviner sich, um die Streit-Frage noch einmal gründlich zu besprechen.[121]

»Ich fürchte,« sagte Einer in der Versammlung, »daß der Stein, der neben der Brücke am Bache Sagliaints steht, als Marchstein gilt, und unsere Sache verderbe. Am Besten wäre es, wenn wir in dieser Nacht ihn ausgraben, und auf die Höhe des Crap Saßlatsch hin setzen ließen.«

Seine Meinung wurde beifällig aufgenommen, und balde war ein Mann gefunden, der im Rufe stand, für Geld mehr als dienstfertig zu sein.

Der setzte noch in der gleichen Nacht den Stein auf die Höhe des Crap Saßlatsch, und an seine bisherige Stelle einen andern Stein.

Seine letzten Worte in der Versammlung waren gewesen: »inu' il dess eu metter?« (wo soll ich ihn hin setzen?) – Dann schied er, nachdem Ort und Stelle genau ihm bezeichnet worden war.

Als des andern Tages die Richter auf das streitige Gebiet hin sich begaben, fanden sie richtig auf der Höhe des Crap Saßlatsch einen hohen, deutlichen Marchstein, der ohne weitern Zweifel den Handel zu Gunsten der Laviner entscheiden mußte. »Es ist halt doch ein Marchstein,« sagten die Richter, trotzdem die frische Erde darum und daran der Echtheit des Standpunktes widersprach.

Und es erging der Spruch, daß dieß die Grenze sei zwischen Lavin und Süs, so lange »Grund und Grat« stehen.

So war die Sache nun entschieden. –

Nach langen Jahren kam dann der in aller Welt zu Hause und nur zu sehr bekannte Freund Hain an ein altes Männlein in Lavin heran, und holte vom Schauplatze seines Lebens ihn weg. – Das Bedauern Derer, die das Männlein kannten, war: »Der ist gut weg.«

Und das war eben der Mann, der vor Jahren jenen Marchstein versetzte.[122]

Und siehe, seit seinem Tode vernahm man öfters in der Nacht vom Crap Saßlatsch herab eine hohle, jammernde Stimme: »inu' il dess eu metter, inu' il dess eu metter?«

Eines Abends späte kam ein beherzter Fuhrmann des Weges; der hörte auch die Geisterstimme, und ihn däuchte, als ob diese Frage: »inu' eu dess il metter« an ihn gerichtet sei.

Er hielt sein Roß an, ließ die Frage dreimal sich wiederholen und antwortete dann mit lauter Stimme: »O pover disfortüna! metta'l, nel nom del segner, inua tü hast tut.« (»O armer Unglücklicher, stelle in Gottes Namen ihn hin, wo du ihn genommen hast.«)

»Dank sei dir,« entgegnete ganz hohl des Geistes Stimme, »im Namen Gottes bin ich jetzt erlöst.« – Seither wurde die Geisterstimme nicht mehr gehört. –


Ob nun die Süser in Folge dieses Vorfalles ihr verlornes Gebiet wieder erstattet bekamen, oder ob wirklich von Seite der Laviner eine Uebervortheilung Thatsache war, sagt keine Ueberlieferung. – Es will Niemand mehr daran sich erinnern.

Bekannt ist aber, daß schon seit langen Zeiten nicht jener Felsvorsprung Crap Saßlatsch, sondern der Bach von Sagliaints die Grenzscheide bildet zwischen den Gemeinden Lavin und Süs, und daß die Einwohner dieser Ortschaften in Frieden und Eintracht mit einander leben.

Quelle:
Jecklin, Dietrich: Volksthümliches aus Graubünden. 3 Teile, Zürich 1874, Chur 1876, Chur 1878 (Nachdruck Zürich: Olms, 1986), S. 121-123.
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