Die versprochenen Kinder.

[157] Es waren einmal zwei reiche Kaufleute, der eine lebte in Moskau, der andere in Kiew. Sie reisten oft zusammen, trieben Handel miteinander und waren sehr befreundet. Einmal kam der Kiewer Kaufmann nach Moskau und erzählte seinem Freunde:

»Gott sandte mir eine große Freude, meine Frau schenkte mir einen Sohn.«

»Und ich habe eine Tochter bekommen!« erwiderte der Moskauer.

»Gib mir die Hand«, sagte der Kiewer. »Ich habe einen Sohn, du eine Tochter. – Was gibt es Besseres als Bräutigam und Braut! Wenn sie herangewachsen sind, sollen sie einander heiraten, beschließen wir es, so werden wir verwandt.«

»Einverstanden – aber die Sache ist nicht so einfach. Gib mir für den Fall, daß dein Sohn von der Braut zurücktritt, zwanzigtausend zum Pfand.«

»Nun, und wenn deine Tochter stirbt?«

»Dann bekommst du dein Geld zurück.«

Der Kiewer Kaufmann zog zwanzigtausend aus seiner Tasche und gab sie dem Moskauer. Der nahm sie, ging nach Hause und sagte seiner Frau: »Weißt du, was ich tat? Ich habe meine Tochter verlobt.«

[158] Die Frau staunte und sprach:

»Hast du deinen Verstand verloren? Sie liegt ja noch in der Wiege.«

»Was schadet das? Ich habe sie trotzdem versprochen. Da sind zwanzigtausend als Pfand.«

So war es! Die Kaufleute lebten jeder in seiner Stadt und sie sahen einander nicht mehr. Es war weit und die Geschäfte hielten sie zu Hause. Die Kinder wuchsen und wuchsen. Der Sohn war schön, aber die Tochter noch schöner. Es vergingen achtzehn Jahre und der Moskauer Kaufmann erhielt keinerlei Kunde von seinem alten Bekannten – da verlobte er seine Tochter mit einem Hauptmann. Zu der Zeit rief der Kiewer Kaufmann seinen Sohn zu sich und sagte zu ihm:

»Fahre nach Moskau, dort ist ein See, in den legte ich eine Schlinge; fing sich darin eine Ente, dann nimm sie mit dir; findest du keine Ente, so bring die Schlinge zurück.«

Der Kaufmannssohn brach auf und reiste nach Moskau. Er reiste und reiste, bis er nur mehr eine Station von Moskau entfernt war. Da mußte er über einen Fluß, auf dem lag eine Brücke, die war nur bis zur Hälfte mit Brettern belegt und zur andern Hälfte nicht. Desselben Weges kam auch der Hauptmann gefahren, er stand vor der Brücke und wußte nicht, wie er hinüber gelangen sollte. Da sah er den Kaufmannssohn und fragte:

»Wo reist du hin?«

»Nach Moskau.«

»Wozu?«

[159] »Es ist dort ein See, in den hat mein Vater vor achtzehn Jahren eine Schlinge gelegt. Er schickt mich jetzt hin, um nachzusehen, ob sich darin eine Ente fing; ist das geschehen, nehme ich die Ente mit mir, ist sie nicht da, bringe ich die Schlinge zurück.«

»Das ist ein sonderbares Rätsel!« dachte der Hauptmann. »Wie kann man für achtzehn Jahre eine Schlinge legen, und wenn gerade noch das, wie könnte eine Ente so lange darin bleiben?«

Er dachte sehr, sehr lange darüber nach, erriet aber nichts.

»Wie können wir über diese Brücke kommen?« fragte er.

»Ich drehe sie um«, sagte der Kaufmannssohn.

Er fuhr bis zur Mitte der Brücke, zog dann die rückwärtigen Bretter nach vorne, legte sie nebeneinander und kam so auf die andere Seite, der Hauptmann mit ihm. Sie kamen in die Stadt, da fragte der Hauptmann den Burschen: »Wo kehrst du ein?«

»In dem Hause, wo der Frühling mit dem Winter vor dem Tor ist.«

Sie nahmen Abschied voneinander und jeder ging seines Weges. Der Kaufmannssohn kehrte bei einer armen Alten ein und der Hauptmann eilte zu seiner Braut.

Er erzählte ihr:

»Ich traf unterwegs einen Kaufmannssohn aus Kiew. Den fragte ich, weshalb er nach Moskau reise, da gab er zur Antwort: ›In Moskau ist ein See. In den legte vor achtzehn Jahren mein Vater eine Schlinge, jetzt sendet er mich hin, um nachzusehen, [160] ob sich darin eine Ente fing. Ist das geschehen, nehme ich die Ente mit mir, ist sie nicht da, bringe ich die Schlinge zurück.‹ Wir mußten zusammen über einen Fluß setzen, da war die Brücke nur bis zur Mitte mit Brettern belegt. Der Bursche wußte trotzdem gleich, wie man übersetzen konnte, indem er die hintern Bretter nach vorne zog.«

»Wo nahm er Quartier?« fragte die Braut.

»In dem Hause, wo Frühling und Winter vor dem Tore sind.«

Das Mädchen lief in ihr Zimmer, rief ihre Dienerin und sagte: »Nimm einen Topf mit Milch, einen Laib Brot und einen Korb Eier; von der Milch trinke, von dem Brot iß, aus dem Korb nimm ein Ei und iß es. Dann geh in das Haus, wo vor dem Tore Gras mit Heu zusammengebunden ist. Suche den Kaufmannssohn, gib ihm Milch, Brot und Eierkorb und frage ihn: Steht das Meer noch gleich hoch wie früher, oder fiel es ab? Ist der Mond voll oder nicht? Sind alle Sterne am Himmel oder fielen welche herab?«

Die Dienerin ging zum Kaufmannssohn, gab ihm ihre Geschenke und fragte:

»Steht das Meer noch so hoch wie früher oder fiel es?«

»Es fiel.«

»Ist der Mond voll oder im Abnehmen?«

»Im Abnehmen.«

»Sind noch alle Sterne am Himmel?«

»Nein, einer fehlt.«

Die Dienerin ging nach Hause und berichtete dem Mädchen die Antworten, da sagte es:

[161] »Väterchen, der Bräutigam, den Ihr mir erwählt habt, der gefällt mir nicht. Ich habe einen andern seit langer Zeit, einen, den sein Vater mit Handschlag und Vertrag mir zugesprochen hat.«

Da wurde der rechte Bräutigam geholt, und eine Hochzeit und ein Fest veranstaltet. Dem Hauptmann sagten sie ab. Ich war auf der Hochzeit, trank Honigseim. Er floß mir über den Bart, aber in den Mund kam nichts hinein.

Quelle:
Afanaßjew, A. N.: Russische Volksmärchen. Wien: Ludwig, 1910, S. 157-162.
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