[123] 23. Oletschka

Irgendwo in einem Zarenreich, in einem fernen Reich, lebten einst ein Zar und eine Zarin, die hatten eine Tochter mit Namen Oletschka1. Die Zarin aber starb, und da nahm der Zar eine zweite Frau, doch die war über alle Maßen böse. Sie liebte die Stieftochter nicht und wollte sie um jeden Preis umbringen. Oletschka war sehr schön, die Zarin aber wollte schöner sein als alle. Und eines Tages, als sie sich schmückte, nahm sie ihr geliebtes Spieglein in die Hand und befragte es: »Spieglein, mein teures, sag mir die Wahrheit, verbirg mir nichts: bin ich in aller Welt die Schönste, die Rosigste und die Weißeste?« Das Spieglein antwortete ihr und sprach: »Schöner als [123] alle in der Welt und rosiger und weißer ist die wunderschöne Olga-Zarewna.« Bauz! warf sie den Spiegel auf den Boden, daß er zerbrach.

Am nächsten Tage setzte sich die Zarin vor ein anderes Spieglein, um sich zu schmücken, und befragte es: »Spieglein, mein teures, sag mir die Wahrheit, verbirg mir nichts: bin ich in aller Welt die Schönste, die Rosigste und die Weißeste?« Aber auch dieses Spieglein gab ihr zur Antwort: »Schöner als alle in der Welt und rosiger und weißer ist die wunderschöne Olga-Zarewna.« Bauz! warf sie den Spiegel auf den Boden, daß er zerbrach.

Am dritten Tage setzte sich die Zarin wiederum vor ein Spieglein hin und befragte es: »Spieglein, mein teures, sag mir die volle Wahrheit, verbirg mir nichts: bin ich in aller Welt die Schönste, die Rosigste und die Weißeste?« Das Spieglein antwortete ihr und sprach: »Schöner als alle in der Welt und rosiger und weißer ist die wunderschöne Olga-Zarewna.« Bauz! warf sie auch dieses Spieglein auf den Boden, daß es zerbrach.

Nun hielt's die Zarin aber nicht länger aus und schickte nach einer Hexe. Die Hexe kam und fragte: »Was willst du von mir, Mütterchen-Zarin?« – »Dieses will ich von dir, Großmütterchen: meine Stieftochter ist mir zuwider geworden, wie könnte man sie wohl aus der Welt schaffen?« – »Ach, Mütterchen, das ist ein schweres Stück! Großes Unheil wird uns vom Zaren kommen, wenn er davon erfährt. Aber es ist nichts zu machen, dir muß geholfen werden. Schicke sie auf das freie Feld spazierenzufahren und befiehl, sie in den dunklen Wald zu führen und dort zu töten. Damit du aber gewiß weißt, daß sie getötet [124] ist, laß mit ihrem Blut ein Tüchlein tränken und es dir bringen.« Da schickte die Zarin Oletschka mit ihrer Wärterin auf das Feld und befahl dem Kutscher und der Wärterin strengstens, in den dunklen Wald zu fahren, die Stieftochter dort zu töten und ein Tüchlein mit ihrem Blut zu tränken. Und so geschah es.

Sie fuhren lange, lange und kamen in den dunklen Wald. Doch dem Kutscher und der Wärterin tat Oletschka leid, weil sie so sanft und gut war. Was konnten sie aber tun? Wie sollten sie den Jammer abwenden? Sie hatten im Sinn, ein Tier an ihrer Stelle zu töten, aber Tierblut gleicht nicht Menschenblut. Da bedachten sie sich lange und beschlossen, zwei Tauben zu töten und das Tüchlein in Taubenblut zu tränken; denn kein anderes Blut ist Menschenblut so ähnlich, wie das der Tauben. Und sie taten so und fingen zwei Tauben; sie töteten sie und benetzten das Tüchlein mit Blut, Oletschka jedoch ließen sie in alle vier Winde ziehen. Dann kehrten sie heim und gaben das Tüchlein der Zarin zurück. Die Zarin aber wurde sehr, sehr froh darüber, daß sie Oletschka getötet hatten. Zu dieser Zeit war der Zar abwesend, und als er zurückkehrte, sagten sie ihm, daß Oletschka gestorben sei. Der Zar grämte sich, doch damit hatte die Sache ihr Ende.

Im Walde aber weinte Oletschka bitterlich, wanderte umher und stieß auf einen Apfelbaum. Ein Äpfelchen riß sie ab und aß es, legte sich unter den Baum und schlief ein. Am Morgen erwachte sie, erhob sich und wanderte, wohin die Augen schauen. Sie ging und ging über Weg und Steg, war es lang, war es kurz, war es weit, war es nah? [125] Rasch wird das Märchen erzählt, langsam die Tat getan. Da sieht sie ein Hüttchen stehn auf Hühnerbeinchen, auf Hundepfötchen, zum Walde mit dem Gesicht, zu ihr mit dem Rücken. Oletschka rief ihm zu: »Hüttchen, Hüttchen, dreh zu mir das Gesicht, zum Walde den Rücken!« Da wendete sich das Hüttchen um, und sie ging hinein. Dort saß die Baba-Jaga, das Knochenbein, bis zur Decke reichte ihre Nase. Oletschka sprach ihr Gebet, verneigte sich nach allen vier Seiten und sagte dann: »Guten Tag, Großmütterchen!« – »Willkommen, Olga-Zarewna! Kommst du zu mir mit Willen oder wider Willen?« – »Nicht so sehr mit Willen, Großmütterchen, als wider Willen und aus tiefem Kummer.« – »Erzähl mir, Kindchen, deinen Kummer!« Oletschka fing an zu erzählen, wie die arge Stiefmutter sie aus der Welt habe schaffen wollen. »Nun, mein Kindchen, ich hab Mitleid mit dir, aber du kannst bei mir nicht bleiben: jeden Tag kommt der Drache mit den sechs Köpfen von der Felsenhöhle hergeflogen; merkt er, daß es nach Russenknochen riecht, frißt er dich auf. Aber jetzt laß mich einstweilen dein Köpfchen waschen; und setz dich und iß, dann leg dich nieder und schlaf; in der Früh weck ich dich beizeiten auf: der Morgen ist klüger als der Abend.« Die Baba-Jaga weckte sie in der Frühe: »Steh auf, Olga-Zarewna, sonst kommt im Nu der Drache von der Felsenhöhle hergeflogen; es ist Zeit für dich, über Weg und Steg zu wandern. Hier hast du ein Knäuel zum Andenken an mich. Wenn du mich verlassen hast, so geh immer, immer geradeaus; dort wird eben solch ein Hüttchen stehn, meine Schwester wohnt da. Bring ihr meinen Gruß.«

Olga Zarewna nahm Abschied von der Baba-Jaga und wanderte [126] fort. Sie ging und ging und sah ein Hüttchen stehn auf Hühnerbeinchen, auf Hundepfötchen, zum Wald mit dem Gesicht, zu ihr mit dem Rücken. »Hüttchen, Hüttchen, dreh zu mir das Gesicht, zum Walde den Rücken!« Das Hüttchen wendete sich um, und sie ging hinein. Dort saß die Baba-Jaga, das Knochenbein, bis zur Decke reichte ihre Nase. Oletschka sprach ihr Gebet, verneigte sich nach allen vier Seiten und sagte dann: »Guten Tag, Großmütterchen!« – »Willkommen, Olga-Zarewna! Besuchst du mich mit Willen oder wider Willen?« – »Nicht so sehr mit Willen, Großmütterchen, als wider Willen.« – »Nun, so erzähl mir, Kindchen, deinen Kummer!« Olga-Zarewna erzählte ihr von ihrem Kummer. »Ich hab Mitleid mit dir, Olga-Zarewna, aber du kannst bei mir nicht bleiben: der Drache mit den zwölf Köpfen von der Felsenhöhle kommt hierhergeflogen; merkt er, daß es nach Russenknochen riecht, so frißt er dich. Aber jetzt laß mich einstweilen dein Köpfchen waschen; und setz dich und iß, dann leg dich nieder und schlaf; in der Früh weck ich dich beizeiten auf: der Morgen ist klüger als der Abend.« Kaum ward es hell in der Früh, weckte sie die Baba-Jaga: »Steh auf, Olga-Zarewna! Es ist Zeit für dich zu wandern, sonst, gib acht, kommt der Drache von der Felsenhöhle geflogen. Hier hast du ein Hämmerchen zum Andenken an mich. Verläßt du mich, so geh immer, immer geradeaus; dort wird eben solch ein Hüttchen stehn, da wohnt unsere älteste Schwester; bring ihr meinen Gruß.«

Olga-Zarewna nahm Abschied von der Baba-Jaga und wanderte fort. Sie ging und ging und sah ein Hüttchen stehn auf Hühnerbeinchen, auf Hundepfötchen, zum Wald mit dem Gesicht, zu ihr mit dem Rücken.

[127] »Hüttchen, Hüttchen, dreh zu mir das Gesicht, zum Walde den Rücken!« Da wendete sich das Hüttchen um, und sie ging hinein. Dort saß die Baba-Jaga, das Knochenbein, bis zur Decke reichte ihre Nase. Oletschka sprach ihr Gebet, verneigte sich nach allen vier Seiten und sagte dann: »Guten Tag, Großmütterchen!« – »Willkommen, Olga-Zarewna! Kommst du mit Willen oder wider Willen zu mir?« – »Nicht so sehr mit Willen, Großmütterchen, als wider Willen.« – »Nun, so erzähl mir deinen Kummer.« Olga-Zarewna erzählte ihr von ihrem Kummer. »Ich hab Mitleid mit dir, Olga-Zarewna, aber du kannst bei mir nicht bleiben: der Drache mit den achtzehn Köpfen von der Felsenhöhle kommt hierhergeflogen; merkt er, daß es nach Russenknochen riecht, so frißt er dich. Aber jetzt laß mich einstweilen dein Köpfchen waschen; und setz dich und iß, dann leg dich nieder und schlaf; in der Früh weck ich dich beizeiten: der Morgen ist klüger als der Abend.« In der Frühe weckte sie die Baba-Jaga und versorgte sie für den Weg. »Hier hast du ein Hühnchen«, sagte sie, »das Fleisch iß auf, aber die Knöchelchen tu in den Sack. Verläßt du mich, so roll das Knäuel vor dir her, das meine jüngste Schwester dir gab, und geh ihm nach. Du wirst zu einem kristallenen Berg kommen; schlag die Hühnerknöchelchen mit dem Hämmerchen ein, das unsere zweite Schwester dir gab, und steig auf ihnen auf den Berg; dort wird ein kristallener Palast stehn, und dort sollst du wohnen.«

Olga-Zarewna nahm Abschied von der Baba-Jaga, rollte das Knäuel vor sich hin und ging ihm nach. Sie ging und ging und kam zum kristallenen Berg; da nahm sie die Hühnerknöchelchen aus dem Sack, schlug sie in den Berg ein [128] und stieg auf ihnen hinauf. Sie erkletterte den Berg und sah einen kristallenen Palast stehn. Sie ging hinein, trat in das erste Zimmer, niemand war darin. Sie zog ihre Pantöffelchen aus und ließ sie dort. Dann ging sie in das nächste Zimmer; auch dort war niemand, nur ein Tisch stand darin, gedeckt für zwölf Personen; sie legte ihren Pelz ab und ließ ihn dort. Dann ging sie in das dritte Zimmer, und dort war wieder keine Seele, nur zwölf Betten standen darin; sie legte ihr Tuch ab und ließ es dort. Dann ging sie in das vierte Zimmer, und dort stand ein Bett mit seidenem Himmel; in goldenen Käfigen saßen Vögel, schön wie aus dem Paradies, und sangen herrliche Lieder. Oletschka wußte nun, daß im ganzen Palast keine Menschenseele war; sie wanderte in den Zimmern umher, trat an den gedeckten Tisch heran, brach ein Stückchen Brot ab, bestreute es mit Salz und aß es auf. Dann ging sie wieder in das vierte Zimmer, schloß die Tür hinter sich ab und legte sich aufs Bett; sie ergötzte sich am Gesang der Vögel und schlief ein.

Doch nachher im Halbschlummer hörte sie, wie sich auf dem Hof ein Sturm erhob; ein Blitz zuckte auf, und der Donner grollte. Zwölf Falken flogen heran, setzten sich auf die Freitreppe und verwandelten sich in schmucke Burschen. Sie gingen in das erste Zimmer und sahen die Pantoffeln stehn. Da sprachen sie zueinander: »He, Brüder, bei uns ist irgendein Fremder!« Sie traten in das zweite Zimmer – da lag ein Pelz, im dritten – ein Tuch. Sie wollten in das vierte Zimmer, aber die Tür war geschlossen. Sie klopften, doch niemand machte ihnen auf. Da sahen sie, daß der Gast weiblichen Geschlechts war und riefen: »Öffne, wer du auch sein magst! Bist du in älteren Jahren – sei unser Schwesterchen, bist du ein junges [129] Blut – sei einem von uns die Braut!« Nun stand Oletschka auf und öffnete die Tür. Als die Brüder sie erblickten, waren sie über die Maßen froh, daß eine Frau in ihr Heim gekommen war. Dann setzten sie sich an den Tisch; plötzlich waren auch Diener da und reichten allerlei Speisen. Sie sahen aber, daß dem jüngsten Bruder von seiner Schnitte Brot ein Stück abgebrochen war; sie errieten, daß Olga-Zarewna es getan habe, und sprachen: »Nun, so sei du, Olga-Zarewna, seine Braut, uns aber eine Schwester.« Und so blieb sie denn bei ihnen wohnen. Die Falkenbrüder flogen jeden Tag fort und kehrten wieder heim. Oletschka aber blieb im Hause als Herrin über alles. Die Brüder gewannen sie so lieb, daß sie sich beim Ansehen nicht satt sehen, beim Plaudern nicht satt plaudern konnten.

Die Stiefmutter Oletschkas aber dachte, als sie die Tochter hatte umbringen lassen, daß niemand mehr auf der Welt schöner sei denn sie. Und als sie sich vor dem Spieglein schmückte, befragte sie es: »Spieglein, mein teures, sag mir die Wahrheit, verbirg mir nichts: bin ich in aller Welt die Schönste, die Rosigste und die Weißeste?« Das Spieglein aber gab ihr zur Antwort: »Schöner als alle in der Welt und rosiger und weißer ist die wunderschöne Olga-Zarewna.« Da warf die Zarin aus Wut und Bosheit das Spieglein zu Boden, daß es zerbrach. Ihr Herz aber ließ ihr keine Ruhe. Wieder sandte sie nach der Hexe, und die Hexe kam. »Großmütterchen, mein Herz gibt mir keine Ruh: sicher ist meine Stieftochter noch am Leben.« Die Hexe wahrsagte aus Bohnen und sprach: »So ist es, Mütterchen Zarin, auch ich sehe, daß sie noch am Leben ist, und jetzt weiß ich, wo sie wohnt. Aber sei ruhig, wir werden sie auch dort finden, sie entgeht uns nicht.«

Am nächsten Tage zog sich die Hexe Lumpen an, tat, als sei sie eine Bettlerin, und wanderte zum kristallenen Berg. Sie [130] kam hin, ging zum kristallenen Palast und bettelte um ein Almosen. Oletschka erblickte sie, ward des fremden Menschen froh und rief die Alte zu sich herein. Sie gab ihr Speise und Trank und erhielt dafür ein Äpfelchen. Oletschka aß von dem Apfel, erstickte daran und starb. Zu diesem Zweck hatte ihr die Hexe ihn natürlich auch gegeben. Die Falken kamen geflogen. Sonst hatte Oletschka sie empfangen, heute aber tat sie es nicht. Als die Falken das sahen, sprachen sie: »Sicherlich ist bei uns, Brüder, etwas Ungutes geschehen.« Sie traten ein und sahen Oletschka tot daliegen. Lange weinten sie über ihr und sagten dann: »So leid uns Oletschka auch tut, Brüder, wir müssen sie doch begraben.« Doch der jüngste Bruder rief: »Nein, Brüder, wozu begraben? Besser, wir legen sie in den Sarg und hängen ihn im Zimmer unter der Decke auf.« – »Gut, machen wir's so«, antworteten die Brüder. Sie fertigten einen goldenen Sarg an; doch kaum hoben sie Oletschka auf, um sie hineinzulegen, als ihr ein Stückchen Apfel aus dem Munde fiel, und sie ward wieder lebendig. Da war die Freude groß! Sie fragten Oletschka, was mit ihr geschehen sei, und sie erzählte ihnen alles, was sich ereignet hatte. Die Falkenbrüder befahlen ihr nun strengstens, niemand Fremden bei sich einzulassen.

Und so lebte Oletschka wieder bei ihnen. Die Stiefmutter aber schmückte sich vor dem Spieglein und befragte es: »Spieglein, mein teures, sag mir die Wahrheit, verbirg mir. nichts: wer ist in aller Welt die Schönste, die Rosigste und die Weißeste?« Das Spieglein antwortete ihr und sprach: »Am schönsten auf der ganzen Welt, am rosigsten und weißesten ist die wunderschöne Olga-Zarewna.« [131] Da warf die Zarin das Spieglein zu Boden, daß es zerbrach. Und wieder sandte sie nach der Hexe. »Großmütterchen, mir ist das Herz so schwer: ob nicht unsere Oletschka wieder am Leben ist?« Die Hexe wahrsagte aus Bohnen und sprach: »So ist es, Mütterchen Zarin, auch ich sehe, daß sie noch am Leben ist. Gib mir nun ein goldenes Ringlein, ich werd es verzaubern; dann will ich hingehen und sie gewißlich verderben!« Die Zarin gab ihr das Ringlein, und die Hexe zog sich Lumpen an und ging davon. Wiederum kam sie zum kristallenen Palast und bat um ein Almosen. Oletschka erkannte sie nicht, rief sie herein und gab ihr Speise und Trank; die Hexe aber schenkte ihr das Ringlein und sagte dazu: »Steck es nur gleich an.« Doch als Olga-Zarewna es an den Finger steckte, da fiel sie um und war tot. Die Falkenbrüder kamen geflogen, sahen Oletschka tot daliegen, weinten und weinten um sie und wollten sie schon in den Sarg legen, doch der jüngste Bruder sprach: »Laßt mich, Brüder, wenigstens das Ringlein abziehen als ein Andenken für mich.« Kaum aber hatte er ihr das Ringlein vom Finger gezogen, als sie wieder auflebte! Wie groß war da die Freude! Sie fragten sie, wodurch sie den Tod erlitten habe, und befahlen ihr strengstens, niemand Fremden bei sich einzulassen.

Wiederum lebte Oletschka bei ihnen. Die Stiefmutter aber hielt's nicht aus: immer wollte sie die Schönste von allen sein. Sie schmückte sich vor dem Spieglein und befragte es: »Spieglein, mein teures, sag mir die Wahrheit, verbirg mir nichts: wer ist in aller Welt die Schönste, die Rosigste und die Weißeste?« Das Spieglein antwortete ihr und sprach: »Die Schönste auf der ganzen Welt, die Rosigste und Weißeste ist die wunderschöne Olga-Zarewna.« [132] Da warf die Zarin das Spieglein zu Boden, daß es zerbrach. Und wieder schickte sie nach der Hexe. »Großmütterchen, ich kann's nicht glauben, daß unsere Zarewna nicht mehr am Leben sei, mein Herz ist nicht umsonst so vergrämt.« Die Alte wahrsagte aus Bohnen und sprach: »So ist es Mütterchen Zarin, aus den Bohnen sehe ich, daß sie noch am Leben ist. Gib mir aber goldene Ohrringe, die will ich verzaubern und damit gewißlich Oletschka verderben.« Die Zarin gab ihr goldene Ohrringe, und die Hexe wanderte fort. Sie kam zum kristallenen Palast und bat um ein Nachtlager. Die Zarewna erkannte sie wiederum nicht, ließ sie ein und gab ihr zu essen und zu trinken. Die Hexe aber schenkte ihr dafür die goldenen Ohrringe und sagte dazu: »Leg sie dir nur an.« Doch kaum hatte Oletschka sie angelegt, da war sie auch gleich tot. Die Falkenbrüder kamen geflogen und sahen Oletschka tot daliegen. Sie weinten lange um sie, schließlich aber legten sie sie in den goldenen Sarg und hängten ihn im Zimmer an der Decke auf.

Der Zar aber härmte sich ab nach seinem lieben Kinde. Er ritt in fremde Länder, seinen Kummer zu vertreiben; ritt lange, lange und kam in das kristallene Reich. Die Falkenbrüder nahmen ihn wohl auf und freuten sich, daß er zu ihnen gekommen war. Da erzählte ihnen der Zar seinen Gram um die Tochter, sie aber erzählten ihm von dem Tode der Braut des jüngsten Bruders. Der Zar bat, den Sarg herabzunehmen und ihm die Tote zu zeigen. Sie taten's – die Zarewna lag da, als wäre sie lebendig. Kaum hatte der Zar sie erblickt, so erkannte er, daß sie seine Tochter war. Lange weinte er um sie, und dann sprach er: »Man muß sie begraben nach christlichem Brauch, muß sie waschen und in die Erde senken.« [133] Sie wuschen sie und bemerkten die teuren Ohrringe an ihr. Da sagte der Zar: »Warum soll das Gold in die Erde verscharrt werden? Wir wollen es lieber behalten als ein Andenken.« Den einen Ohrring nahmen sie ab, da bewegte sich die Zarewna, sie nahmen den zweiten ab, da ward sie ganz lebendig. Die Freude war groß! Und Oletschka erzählte ihrem Vater, wie die Stiefmutter sie hatte verderben wollen. Sie blieben einige Zeit im kristallenen Palast, und dann lud der Zar sie alle zu Gast in sein Reich. Sie machten sich auf und reisten hin. Und als sie zu Hause waren, befahl der Zar sogleich, den allerwildesten Hengst aus dem Stalle zu führen, die Zarin und die alte Hexe an den Schweif zu binden und ihre Knochen über das freie Feld zu schleifen; die andern aber fingen an, die Hochzeit zu feiern. Und als sie zu Ende war, gab der Zar seinem Schwiegersohn die Hälfte des Reichs, und sie lebten alle glücklich und zufrieden.

Fußnoten

1 Koseform für Olga.

Quelle:
Löwis of Menar, August von: Russische Volksmärchen. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 123-134.
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