[188] 33. Die Schnepfe

Es waren einmal ein Mann und eine Frau, die hatten drei Söhne. Zwei davon waren klug, aber der dritte war ein Dummkopf. Die Klugen machten sich auf, das Feld zu bestellen, und säten Erbsen. Und als die Erbsen anfingen reif zu werden, schickten die Brüder den Dummkopf aus, den [188] Acker zu bewachen. Der Dümmling baute sich ein Hüttchen aus Stroh, saß darin und hielt Wache. Da kam eine Schnepfe geflogen und pickte die Erbsen auf. Der Dummkopf aber schlich sich herbei, fing die Schnepfe und wollte ihr den Hals umdrehen. Da sagte die Schnepfe: »Iwanuschka, dreh mir den Hals nicht um, ich werde dir noch von Nutzen sein.« – »Wie willst du denn das anfangen?« fragte Iwan. »Komm zu mir: ich geb dir ein Tischtuch.« – »Was soll ich mit ihm? Ich hab selbst eins.« – »Wenn auch! doch nicht solch eins wie ich. Sprich nur zu meinem Tuch:


Tüchlein, Tüchlein,

Breit dich aus!

Roll dich auf!

Bring mir gutem Gesell

Trank und Speisen schnell!


Dann wird es dir gleich zu essen geben.« – »Gut«, sagte Iwan und ließ die Schnepfe frei, und sie flog davon.

Hernach wollte er zu ihr gehn, machte sich auf und sah Hirten am Wege, die weideten Pferde. »Hirten, Hirten, Pferdehirten! Wo wohnt denn hier die Schnepfe?« – »Geh weiter; dort, wo man Kühe hütet, wird man's dir sagen.« So ging er denn weiter und erblickte Hirten, die weideten Kühe. Da fragte er abermals: »Hirten, Hirten, Rinderhirten! Wo wohnt denn hier die Schnepfe?« – »Geh weiter; dort, wo man Schweine hütet, wird man's dir sagen.« Er ging weiter und erblickte Hirten mit einer Schweineherde; er trat hinzu und fragte: »Hirten, Hirten, Schweinehirten! Wo wohnt denn hier die Schnepfe?« – »Geh weiter; dort, wo man Lämmer hütet, wird man's dir sagen.« Und er ging weiter, kam zu den Lämmern und fragte: »Hirten, Hirten, Lämmerhirten! Wo wohnt denn hier die Schnepfe?« – »Geh weiter; dort, wo man Gänse hütet, wird man's dir sagen.« Er kam zu der Gänseherde und [189] fragte: »Hirten, Hirten, Gänsehirten! Wo wohnt denn hier die Schnepfe?« – »Geh weiter; dort, wo man Enten hütet, wird man's dir sagen!« Er ging hin und fragte: »Hirten, Hirten, Entenhirten! Wo wohnt denn hier die Schnepfe?« – »Geh dorthin«, antworteten sie ihm, »wo die weißen Häuser stehn mit roten Pfeilern, dort wohnt die Schnepfe!«

Da ging er hin und kam zu der Schnepfe, grüßte sie und sprach: »Schnepfe, du hast mir ein Tischtuch versprochen, gib es her!« Die Schnepfe gab ihm das Tischtuch, und Iwanuschka befahl:


»Tüchlein, Tüchlein,

Breit dich aus!

Roll dich auf!

Bring mir gutem Gesell

Trank und Speisen schnell!«


Kaum hatte er das gesagt, so standen Speise und Trank vor ihm. Dann ging er nach Hause, doch unterwegs begegnete ihm die Baba-Jaga. »Iwanuschka, Väterchen! komm herein zu mir; ich will dich baden, geb dir zu essen und zu trinken und leg dich schlafen.« Da ging er hinein zu ihr, und sie brachte ihn ins Bad und legte ihn dann zur Ruh. Als er sich aber niederlegte, sagte er: »Gib acht, Baba-Jaga, und sage nicht: ›Tüchlein, Tüchlein, breit dich aus! roll dich auf! bring mir gutem Gesell Trank und Speisen schnell!‹« Doch als er eingeschlafen war, ging die Baba-Jaga hin und befahl:


»Tüchlein, Tüchlein,

Breit dich aus!

Roll dich auf!

Bring mir gutem Gesell

Trank und Speisen schnell!«


Und das Tüchlein breitete sich aus. Da erkannte die Baba-Jaga, wie das Tüchlein beschaffen war, und nahm es gleich an sich, dem Iwanuschka aber legte sie ein anderes hin. Und als er am nächsten Morgen aufstand, steckte er das Tuch ein und ging nach Hause. Daheim aber sprach er zu seinem [190] Vater: »Ich will ein Gastmahl geben, Väterchen; ruft die Schwägerinnen und die Brüder und alle Verwandten herbei!« Der Vater tat es. Iwanuschka legte das Tuch auf den Tisch und befahl:


»Tüchlein, Tüchlein,

Breit dich aus!

Roll dich auf!

Bring mir gutem Gesell

Trank und Speisen schnell!«


Doch das Tüchlein breitete sich nicht aus. Die Brüder und die andern aber dachten, daß er sie verhöhnen wolle. Und sie packten ihn und jagten ihn zum Hof hinaus.

Wieder ging er zu der Schnepfe und sprach zu ihr: »Schnepfe, du hast mich betrogen!« – »Nein«, sagte die Schnepfe, »aber hier hast du ein Pferd.« – »Was soll ich mit ihm? ich hab mein eigenes Pferd!« – »Nimm es nur und sprich zu ihm: ›Pferdchen, Pferdchen! wiehere hell!‹ Dann wird es wiehern und aus dem Maule Gold hervorschütten!« Iwanuschka tat so, und aus des Rosses Maul fiel eine Menge Gold heraus; die ganze Mütze war voll! Dann machte er sich auf und ritt heim. Wieder begegnete ihm unterwegs die Baba-Jaga, und abermals trat er bei ihr ein. Sie heizte ihm gleich die Badstube, wusch ihn und legte ihn schlafen. Er sprach aber zu ihr: »Gib acht und sage nicht: ›Pferdchen, Pferdchen! wiehere hell!‹« Doch als er eingeschlafen war, lief sie hinaus zum Roß und sagte: »Pferdchen, Pferdchen! wiehere hell!« Da wieherte es, und das Gold fiel in Mengen heraus. Sie nahm das Pferd für sich, dem Iwanuschka aber stellte sie ihr eigenes hin; und als er erwachte, gab sie ihm dieses Pferd. Iwanuschka kehrte heim; doch der Vater fragte ihn: »Warum bist du hierhergekommen?« – »Ein Pferd hab ich mitgebracht.« – »Wir haben ja selbst eins!« – »Wenn auch, doch nicht solch eines, wie dieses hier. Befiehl der [191] Schwägerin, Teppiche auszubreiten!« Und sie breiteten einen Teppich aus; Iwanuschka aber führte das Pferd herbei und ließ es sich auf den Teppich stellen; dann sprach er: »Pferdchen, Pferdchen! wiehere hell!« Da war aber kein Gold zu sehen! Wiederum jagten sie ihn von Haus und Hof.

Und er kam abermals zu der Schnepfe und sprach zu ihr: »Schnepfe, Schnepfe, du hast mich betrogen!« – »Nein«, sagte die Schnepfe, »aber hier hast du eine Zange; sprich zu ihr: ›Zange, Zange, aus dem Kasten!‹« Er sagte es, und die Zange sprang heraus und fing an ihn zu zwicken. Da rief er: »Schnepfe, Schnepfe, nimm sie fort! Schnepfe, Schnepfe, nimm sie fort!« Die Schnepfe befahl: »Zange, auf deinen Platz!« Dann ging Iwanuschka heim. Wieder kam ihm die Baba-Jaga entgegen, heizte die Badstube für ihn und legte ihn schlafen. Er sprach zu ihr: »Gib acht, Baba-Jaga, und sage nicht ›Zange, aus dem Kasten!‹« Dann schlief er ein, die Alte aber rief: »Zange, aus dem Kasten!« Die Zange sprang heraus und fing an sie zu zwicken. Da schrie die Baba-Jaga: »Ach, lieber Iwanuschka, nimm sie fort; dein Tischtuch und dein Roß sollst du wiederhaben!« – »Also du hast sie mir gestohlen!« sagte Iwanuschka. Er schickte die Zange auf ihren Platz, bekam Tuch und Roß von der Alten und ging nach Hause.

Und als er daheim war, sprach er: »Na, Väterchen, jetzt versammle alle Verwandten; jetzt will ich ein Fest geben!« – »Du wirst uns nur wieder betrügen!« meinte jedoch der Vater. »Nein, diesmal betrüg ich euch nicht!« erwiderte Iwanuschka. Die Verwandten wurden zusammengerufen; Iwanuschka setzte sich an den Tisch und befahl:


»Tüchlein, Tüchlein,

Breit dich aus!

Roll dich auf!

Bring mir gutem Gesell

Trank und Speisen schnell!«


[192] Da gab es von allem reichlich. Und dann befahl er: »Breitet Teppiche aus!« Man breitete sie aus; er aber führte das Pferd darauf und sprach: »Pferdchen, Pferdchen! wiehere hell!« Da wieherte das Pferd, und das Gold fiel in Mengen aus dem Maule heraus: alle Teppiche waren damit bedeckt! Da war der Vater mit Iwanuschka zufrieden, doch die Brüder wurden neidisch auf ihn. »Wir wollen ihm alles stehlen!« sagten sie zueinander und stahlen ihm darauf das Tischtuch und das Roß.

Iwanuschka aber sprach zu den Brüdern: »He, Brüder, warum habt ihr mir Roß und Tischtuch gestohlen?« Da wurden sie böse auf ihn und wollten ihn prügeln, aber er befahl: »Zange, aus der Tasche!« Die Zange sprang hervor und fing an die Brüder zu zwicken. Sie schrien: »Ach, Väterchen Iwanuschka! Nimm sie fort; Roß und Tischtuch sollst du wiederhaben!«

Jetzt steht dort bei ihnen ein Faß, und auf dem Faß liegt eine Kelle, aus ist mein Märchen, guter Geselle!

Quelle:
Löwis of Menar, August von: Russische Volksmärchen. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 188-193.
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