[193] 34. Vanjuschka und Annuschka

Es waren einmal ein alter Mann und eine alte Frau. Als die Alte starb, stemmte sie die Füße gegen die Wand, und als man sie begraben wollte, stand sie aus dem Sarge auf und kroch auf den Glockenturm, um zu läuten. Aber man kümmerte sich nicht viel darum und verscharrte sie zu derselbigen Stunde in die Erde.

Dem Alten blieben zwei kleine Kinder: Wanjuschka, der Sohn, und Annuschka, die Tochter. Hernach aber heiratete er nochmals und hatte von der zweiten Frau drei Söhne und drei Töchter. Die Stiefmutter liebte ihre Stiefkinder gar nicht. Die eigenen [193] Mädchen durften im Frühling weben, was sie im Winter gesponnen hatten, aber der Stieftochter erlaubte sie es nicht, sondern schickte sie auf das Feld, die Herde zu hüten. Wanjuschka und Annuschka hüteten die Herde auf dem Felde, weinten und jammerten und gedachten ihrer Mutter. Die Stiefmutter aber pflegte Annuschka eine Hure zu nennen: »Geh, du Hure, kannst auf dem Felde weben!« Annuschka nahm fünf Gespinste mit auf das Feld, hängte sie an einen Ast und fing bitterlich an zu weinen. In ihrer Herde aber war ein Stier, den lockte sie heran:


»Stierchen, Stierchen,

Komm und web das Tuch zu End,

Leg es in den Korb behend!«


Das Stierchen kommt gelaufen, webt und spinnt, legt es in den Korb geschwind. Und als es Abend wurde, trieb Annuschka die Herde nach Hause und brachte auch das gewebte bunte Tuch mit heim. Die Stiefmutter fragte sie: »Wo hast du so viel schönes Tuch zusammengewebt?« – »Im dunklen Walde, unter der Birke.« Die Stiefmutter aber hatte einen Verdacht auf sie und schalt ihre eigenen Töchter: »Ach, ihr Dirnen, ach, ihr Huren, seht ihr, wie eure Stiefschwester ohne Webstuhl webt, ihr aber versteht nicht einmal auf ihm zu weben!« Und sie schlug und prügelte sie.

Die Stiefmutter begleitete am nächsten Tage Annuschka mit der Herde und gab ihr ein großes Knäuel Gespinst und einen Strang Zwirnsfaden mit. »Da hast du; das Gespinst soll gewebt sein, mit den Fäden genäht sein!« Die Stieftochter nahm alles mit sich, weinte aber vor sich hin. Sie trieb die Herde ins Feld, ließ sie in den Wald und [194] auf die weite Steppe; dann hängte sie das Gespinst an einen Ast, wickelte das Garn auf und setzte sich unter einen Strauch; sie heulte mit jämmerlicher Stimme, und aus den Augen strömten ihr die Tränen. Dann rief sie:


»Stierchen, Stierchen,

Komm und web das Tuch zu End,

Leg es in den Korb behend!«


Der Stier rennt aus der Herde, es dröhnt und zittert unter ihm die Erde; er webt das Tuch, näht es und legt es in einen Haufen unter den Busch. Die Stiefmutter aber sah von weitem zu: »Ach, das ist ihre Weberei! Der hilft ihr also ...!« Sie ging heim, und Annuschka trieb ihre Herde nach Hause und schleppte alles Gewebte und Genähte mit. »Hier, Mütterchen!« sagte sie, »ich hab alles getan, was Ihr mir befohlen habt.« Die Stiefmutter nahm es natürlich und sperrte es in ihren Kasten, aber zu dem Alten sprach sie: »Schlachte den schwarzen Stier, Alter, damit er mir aus den Augen kommt.« Der Mann erwiderte: »Der Stier gehört doch nicht uns, Alte: ich hab ihn Annuschka und Wanjuschka geschenkt.« – »Ich kann aber nicht leben, wenn du ihn nicht auf der Stelle schlachtest.« Der Alte nahm ein Messer und schlachtete den schwarzen Stier, zog die Haut ab und legte das Fleisch in ein Faß. Annuschka, das Töchterchen, stand dabei und sagte zu ihrem Vater: »Liebes Väterchen, gib mir vom Stierchen wenigstens die Gedärme!« – »Nimm sie dir!« sagte der Alte. Annuschka nahm die Eingeweide, ging hinaus auf die Straße und vergrub sie an der Ecke unter ihrem Stäbchen; aber bald darauf wuchs aus diesen Gedärmen ein riesengroßer Apfelbaum empor, der viele Äpfel trug. Da der Alte in gutem Wohlstand lebte und sein Hof an der großen Straße lag, kamen oft allerlei Leute bei ihm[195] zusammen; aber keinem, der einen Apfel haben wollte, gelang es, einen abzureißen. Wer dem Baum nur nahe kam, den schlug er mit den Ästen. Nur Annuschka, die Schöne, konnte zu ihm herantreten, und wenn sie's tat, so neigte sich der Baum zur Erde und ließ Annuschka den Apfel pflücken.

Einige Zeit darauf reiste ein junger Gutsherr vorbei, machte auf jenem Hofe halt, um sich auszuruhen und die Pferde zu füttern. Er wollte gern einen Apfel essen, aber Annuschka war zu der Zeit gerade nicht im Hause. Da schickte er den Alten und sagte: »Geh, Großväterchen, bring mir einen Apfel.«

Der Alte ging hin, um den Apfel zu holen, aber es gelang ihm nicht. Er schickte nun die älteste von den Töchtern der zweiten Frau, aber vergeblich; er schickte die zweite, sie wurde von den Zweigen ganz zerschlagen; er schickte die dritte, aber auch die erreichte nichts. Da kam Annuschka herbei, und der Vater sagte zu ihr: »Annuschka, der Herr will einen Apfel essen, geh und pflück ihn.« Annuschka trat zum Baum, er neigte sich, hielt still und rührte sich nicht. Sie pflückte ein paar Äpfel und ging ins Haus. Der Gutsherr aber sah ihr von weitem zu und staunte über diese Dinge. Und da er unverheiratet war, sagte er zu den Alten: »Onkelchen und Tantchen! Ist das eure leibliche Tochter oder nicht?« – »Mir ist sie Stieftochter«, antwortete die Alte, »aber dem Vater ist sie die leibliche Tochter.« – »Gebt sie mir zur Frau!« Die Stiefmutter mochte sie ja gar nicht, darum gab sie die Tochter sofort her. Nun, und bei den Herren braucht nicht erst Bier gebraut und Schnaps gebrannt zu werden: gleich ging es zur Hochzeit, und sie wurden auf der Stelle getraut. Und als die Popen sie getraut hatten, begann der Hochzeitsschmaus. Sie tranken und vergnügten sich eine ganze Woche ohne Aufhören in Annuschkas Vaterhaus, und [196] als es dann Zeit war, machte sich der Gutsherr bereit heimzufahren. Die Alte dachte bei sich: »Jetzt will ich sie geleiten, und dann geh ich selbst in den Garten Äpfel pflücken.« Der Gutsherr ließ zwei Pferde vor den Wagen spannen, man setzte sich hinein und fuhr davon, aber auch Brüderchen Wanjuschka wurde mitgenommen. Kaum waren sie aus dem Hofe hinausgefahren, als der Apfelbaum ihnen auf den Fersen folgte und jene das Nachsehen hatten. Der Gutsherr kehrte heim, legte einen riesengroßen Garten an und pflegte mit Annuschka dort spazierenzugehn.

In seiner Nachbarschaft aber lebte die Baba-Jaga. Sie hatte zwei sehr schöne Töchter, und eine von ihnen hatte der Gutsherr früher zur Frau nehmen wollen. Diese Mädchen nun liebten die neue Herrin nicht, kamen jeden Tag zu ihr, um herauszubekommen, wie sie Wanjuschka verderben und Annuschka aus der Welt schaffen könnten; die Baba-Jaga aber wollte ihre Tochter dem Herrn zur Frau geben. Einmal heizten sie das Bad, und die Baba-Jaga tat Ziegenfett in einen Topf und stellte ihn in die Badstube. Der Gutsherr und die Herrin kamen und badeten, die Frau vergaß jedoch ihren Ring im Bade. Und als sie heimgekommen war, sagte sie: »Brüderchen Wanjuschka, lauf einmal in die Badstube hinüber, dort hab ich mein Ringlein vergessen. Aber nasch nicht vom Ziegenfett!« Wanjuschka ging hin und überlegte bei sich: »Warum hat meine Schwester mir verboten, vom Ziegenfett zu naschen? Ach, ich will's doch tun!« Er schleckte davon und ward ein Ziegenbock. Den Ring steckte er sich aufs Horn, lief nach Hause, sprang und meckerte wie eine Ziege: »Meck, meck, Schwesterchen Annuschka, hier hast du das Ringlein!« Annuschka lief hinaus und weinte bitterlich: »Ach, Dummkopf! [197] Ich hab dir doch verboten, vom Ziegenfett zu naschen, warum hast du mir nicht gehorcht?!« Und sie fütterte das Böckchen.

Die beiden schönen Töchter der Baba-Jaga kamen zu Annuschka, der Herrin, und sagten: »Komm, Annuschka, wir wollen im Flüßchen baden!« Sie gingen hin, und kaum hatten sie ihre Hemden abgeworfen, als die Baba-Jaga Annuschka packte, ins Wasser tauchte und ihr einen Stein um den Hals band. Da saß sie nun lebendig am Boden und konnte nicht vom Stein loskommen. Der Gutsherr aber wartete und wartete, doch Annuschka kam nicht, saß noch immer im Wasser. So vergingen Tag um Tag, Woche um Woche. Sie saß lebendig im Wasser, der schwere Stein zog sie zu Boden, und grimmige Schlangen sogen an ihrem Herzen. Da bedachte sich der Herr, bedachte sich lange und beschloß zu heiraten; und er nahm die Tochter der Baba-Jaga zur Frau. Die junge Herrin sagte zu ihm: »Herr, schlachte den Ziegenbock! Ich will Ziegenbraten essen.« – »Wozu soll ich ihn schlachten, dummes Weib? Mag er doch leben.« – »Nein, schlacht ihn!« Da entschloß sich der Herr, ihn zu schlachten. Und als er sich auf ein Stühlchen setzte, um das Messer zu schleifen, kam das Böckchen heran und sprach: »Ach, Herr, mein Herr! Erlaube mir zum Flüßchen zu gehn, frisches Wasser zu trinken, mein Gedärm zu spülen!« Der Herr ließ es gehn. Das Böckchen kam an das Ufer, ließ sich nieder und jammerte:


»Annuschka, mein Schwesterchen,

Komm hervor, schau heraus!

Mich Böckchen wollen sie schlachten!

Sie wetzen scharfe Messer,

Sie hitzen Satanskessel!«


Annuschka antwortete:


[198] »Ach, Wanjuschka, mein Brüderchen!

Wie gerne schaute ich hinaus!

Der schwere Stein zieht mich zum Grund,

Die grimme Schlange saugt mein Herz!«


Dann tauchte sie bis zum Halse empor und schaute hinaus. Das Böckchen lief heim, dem Herrn aber tat es leid, und an diesem Tage schlachtete er es nicht.

Am nächsten Morgen jedoch wiederholte die Frau: »Schlachte das Ziegenböckchen!« Und der Herr begann sein Messer zu schleifen. Das Böckchen kam zu ihm heran und sagte: »Ach, Herr, mein Herr! Erlaube mir, zum Flüßchen zu gehn, frisches Wasser zu trinken, mein Gedärm zu spülen!« Der Herr ließ es gehn. Das Böckchen kam zum Flüßchen gelaufen, der Gutsherr aber nahm einen Strick mit sich, ging nach und dachte bei sich: »Wohin mag das Böckchen wohl gelaufen sein?« Das Böckchen fiel am Ufer nieder und jammerte:


»Annuschka, mein Schwesterchen,

Komm hervor, schau heraus!

Mich Böckchen wollen sie schlachten!

Sie wetzen scharfe Messer,

Sie hitzen Satanskessel!«


Annuschka antwortete:


»Ach, Wanjuschka, mein Brüderchen!

Wie gerne schaute ich hinaus!

Der schwere Stein zieht mich zum Grund,

Die grimme Schlange saugt mein Herz!«


Dann tauchte sie bis zum Gürtel hervor und schaute hinaus. Der Herr aber warf den Strick über sie und zog sie samt dem Stein heraus. Er hob Annuschka auf und führte sie in sein hohes Gemach; aber seine zweite Frau und die Schwiegermutter stellte er auf das Tor, erschoß sie mit einem Zaubergewehr und warf ihr Fleisch den Hunden vor, mit Annuschka aber lebt er noch heute.

Quelle:
Löwis of Menar, August von: Russische Volksmärchen. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 193-199.
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