[218] 38. Der verzauberte Lindenbaum

Eines Abends saß Wanjuschka1 bei seinem Großvater und fragte ihn: »Warum gleichen die Bärentatzen unseren Händen und Füßen?« Antwortete ihm der Großvater: Hör zu, Wanjuschka! Was ich selbst von alten Leuten gehört hab, [218] das will ich dir erzählen. Die alten Leute sagten: die Bären waren einmal ebensolche Menschen wie wir rechtgläubigen Christen. In einem Dorf aber lebte einst ein Tagelöhner. Sein Häuschen war elend schlecht, ein Pferd hatte er nicht, eine Kuh erst recht nicht, und kein Brennholz fand sich mehr bei ihm. Der Winter kam heran, in der ungeheizten Stube ward es kalt. Der Tagelöhner nahm ein Beil und ging in den Wald. Dort fiel sein Blick gerade auf den verzauberten Lindenbaum. Er klopfte mit dem Beil an den Stamm und wollte schon anfangen einzuhauen. Da sprach aber die Linde mit menschlicher Stimme: »Alles, was du nur willst, geb ich dir. Fehlt dir Reichtum, fehlt dir ein Weib, alles sollst du haben!« Der Bauer antwortete: »Gut war's, Mütterchen, wenn du mich reicher als alle Hofbauern machen würdest, denn ich hab keine Kuh und kein Pferd, und das Häuschen ist schlecht!« Die Linde antwortete: »Geh nur nach Hause! Alles wird dir zuteil!« Der Bauer geht heim und sieht: sein Haus ist neu geworden, die Zäune sind aus Balken, die Rosse so mutig, als ob sie fliegen wollten, und die Scheuern sind voller Korn. Nur eines noch fehlte dem Tagelöhner: sein Weib war nicht hübsch. Was tun? »Ich geh zum Mütterchen Linde!« Er nahm sein Beil mit und ging in den Wald.

Er kam zur Linde und schlug mit dem Beil an den Stamm. »Was willst du?« – »Mütterchen Linde! Die andern haben Weiber, wie sie sein sollen, aber meine taugt gar nichts. Sei doch so gut und gib mir ein hübsches Weib.« Die Linde antwortete: »Geh nur nach Hause!« Der Tagelöhner geht heim; sein Weib erwartet ihn und schaut so schön aus, wie Milch und Blut; und die Kammern sind gefüllt mit Vorräten aller Art! Nun fing der Tagelöhner an mit seinem jungen Weibe zu hausen, dachte aber doch im stillen: »Gut lebt sich's als reicher Mann, aber der Obrigkeit sind wir doch untertan! [219] Ob ich nicht selbst zur Obrigkeit gehören kann?« Er beriet sich mit seiner Frau und ging wieder zur verzauberten Linde.

Er kam in den Wald und schlug mit dem Beil gegen den Stamm. Die Linde fragte: »Was willst du, Bauer?« – »Nur dies, Mütterchen Linde: uns geht's zwar gut als reichen Leuten, aber wir stehen doch unter der Obrigkeit; kann ich denn nicht selbst Dorfschulze sein?« – »Gut, geh nur nach Hause, alles soll dir zuteil werden!« Kaum war der Tagelöhner heim gekehrt, kam schon die Verfügung: »Der Tagelöhner soll Dorfschulze sein.« Er lebte sich ein als Schulze und dachte bei sich: »Bequem hat man's schon als Dorfschulze, aber dem Gutsherrn ist man doch untertan. Ob ich denn nicht selbst Gutsherr werden kann?« Er bedachte sich's, hielt Rat mit seiner Frau und ging wieder zum Lindenbaum.

Er kam hin und schlug mit dem Beil an den Stamm. Die Linde fragte: »Was willst du?« – »Dank dir für alles, Mütterchen Linde! Aber muß ich denn vor dem Gutsherrn immer die Mütze ziehen? Kann ich denn nicht selbst ein Herr sein?« – »Was soll ich nur mit dir anfangen? Geh nur nach Hause, sollst alles haben!« Kaum war er heimgekehrt, da kam der Gouverneur angefahren und brachte vom König die Ernennung: »Er soll Edelmann sein.« Fein war's als Edelmann; er gab Gelage und Bankette. So lebte sich's gut, aber noch war er ohne Rang! Könnte man nicht Beamter werden? Sie bedachten sich und berieten sich.

Der Bauer kam zur Linde und schlug mit dem Beil gegen den Stamm. »Was willst du, Bäuerlein?« – »Für alles dank ich dir, Mütterchen. Aber kann ich denn nicht Beamter sein?« – »Na, so geh nur nach Haus!« Kaum war er heimgekehrt, so war der Befehl vom König da: ein hohes Amt erhielt er. Gut lebte sich's nun als Beamter, aber dem Gouverneur war er doch noch untergeben. Könnte man nicht Gouverneur werden? Er [220] beriet sich mit seiner Frau und ging in den Wald zum verzauberten Lindenbaum.

Er kam hin und schlug mit dem Beil an den Stamm. Da sprach die Linde: »Was brauchst du, Bäuerlein?« – »Dank dir, Mütterchen Linde, für alles. Aber kann ich denn nicht selbst Gouverneur sein und ein reiches Erbgut haben?« – »Schwer geht's zu machen. Aber was soll ich mit dir anfangen? Geh nur nach Hause.« Kaum war der Tagelöhner heimgekehrt, so kam ein Befehl: »Der Tagelöhner soll Gouverneur sein und ein reiches Erbgut haben.« Er lebte sich ein als Gouverneur, als ob er nie ein Bauer gewesen wäre. Gut ging es ihm, aber dem König war er doch untertan. Er überlegte sich's und ging in den Wald zum verzauberten Lindenbaum.

Er kam hin und schlug mit dem Beil gegen den Stamm. Die Linde fragte: »Was willst du?« – »Alles ist gut; dank dir dafür! Aber kann ich denn nicht selbst der König sein?« Die Linde begann ihm zuzureden: »Um was bittest du, Unsinniger? Bedenk, was du warst und was du bist. Aus dem Tagelöhner bist du ein vornehmer Mann geworden; den König aber wählt Gott selber!« Die Linde redete ihm auf alle Weise zu, daß er nicht um Größeres bitten solle, sonst würde er alles verlieren. Der Tagelöhner ließ aber nicht nach, blieb hartnäckig dabei, sie solle ihn zum König machen. Die Linde aber sprach zu ihm: »Das kann ich nicht tun, und es wird nicht sein; du wirst aber auch das Letzte verlieren!« Doch der Tagelöhner gab nicht nach. Da sprach die Linde: »Werde du ein Bär und dein Weib eine Bärin!« Und er ward ein Bär und sein Weib eine Bärin. Und so sind die Bären entstanden.

Da fragte der Enkel: »Großvater, ist denn das wirklich wahr?« – »Natürlich ist das ein Märchen; aber was unmöglich ist, das sollst du nicht wünschen; sei mit wenigem zufrieden. Wünschest du dir allzuviel, verlierst du auch das Letzte.«

Fußnoten

1 Hänschen.

Quelle:
Löwis of Menar, August von: Russische Volksmärchen. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 218-221.
Lizenz:
Kategorien: