338. Der gestohlene Alpkessel.

[234] a) In einer Erstfelder Alp hatten sie einen heillosen Verdruss wegen dem Alpchessi. Jeden Winter wurde es ihnen gestohlen, und sie konnten dem Dieb gar nicht auf die Spur kommen. Endlich »legten sie dem Dieb den Segen«, das heisst, sie liessen ihn bannen, b'stellen, dass er mit samt seinem Raube musste stehen bleiben, bis die Besitzer selber ihn befreiten. Jetzt hätten sie am nächsten Morgen früh vor Sonnenaufgang in der Alp sich stellen sollen, um ihm das Chessi abzunehmen. Aber sie vergassen es. Als sie nun im nächsten Sommer die Alp bezogen, da stand der Dieb in der offenen Hüttentüre, steif und starr und brandschwarz, das Wellchessi auf dem Rücken; sie betrachteten und erkannten ihn; wie sie ihn antasteten, zerfiel er zu Staub und Asche. Gestohlen wurde ihnen nie mehr.


Franziska Kruog.


b) Wird auch so erzählt: »Der Dieb brachte den Kessel, war aber ganz in Feuer eingehüllt, so dass der Besitzer den Kessel ihm nicht abnehmen durfte. Da fuhr der Dieb in die Lüfte, und drei Tage und drei Nächte hörte man sein Geheul. Die Älpler hatten gesagt: »Das Chessi müeß zrugg, und wennds der Tyfel müeß bringä!«

c) Jeden Winter wurde in einer Alp das Wellchessi gestohlen. Endlich legten sie, wie ihnen geraten wurde, den »Diebensegen« bei der Alpabfahrt in das Chessi. Als sie im[234] Frühling auffuhren, fanden sie den Dieb, einige Schritte von der Hütte entfernt, tot unter dem gestohlenen Chessi.


Josef Baumann, im Miseli, 80 J. alt, Gurtnellen.


d) Als ein Schächentaler Älpler im Spätherbst zu Galtenebnet die Hütten gegen Schneedruck und Lawinen befestigte, bemerkte er, dass der Alpkessel abhanden gekommen war, weshalb er bald nachher die Kapuziner aufsuchte, damit sie diesen zurücktreiben möchten. Der Pater sagte, er wolle das besorgen, und stellte die Frage: »Wollt ihr ihn dann selber dem Dieb, wenn er sich einstellt, abnehmen, oder soll er ihn an Ort und Stelle unbeobachtet niederlegen?« Der Älpler bedachte nicht, dass die Jahreszeit schon vorgeschritten, und erklärte, er möchte den Schelm sehen und ihm deshalb das Chessi mit eigenen Händen abnehmen. Hierauf bestimmte der Pater einen Tag, an dem der Dieb den gestohlenen Gegenstand zur Hütte bringen und der Älpler daselbst zur Entgegennahme bereit sein sollte. Doch zum Unglück traf gerade auf diesen Tag winterliches Schnee- und Sturmwetter ein und verunmöglichte den Gang zur fernen Alp jenseits der Gebirgskette. Im folgenden Frühling bei der Alpauffahrt trafen sie den Dieb mit seinem Raub am Rücken unter der Hüttentüre stehend an. Im Augenblick, da sie ihm das Chessi abnehmen, sinkt er in Staub und Asche zusammen. Aber auch jener Älpler, der es im Herbst hätte in Empfang nehmen sollen, kam bald nachher eines bösen Todes ab der Welt.


Fr. Gisler-Bissig, 65 J. alt, Unterschächen.

Quelle:
Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945, S. 234-235.
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