Feiertagsentheiligung; Fluchen; Beten und Betruf; Gelübde.

720. Die überraschte Spinnerin.

[157] 1. Zillä, eine arbeitsame Witwe und fleissige Spinnerin zu Wattingen bei Wassen, wie man gegenwärtig keine solchen mehr findet, liess eines Samstagabends ihr Rädlein schnurren bis nach Mitternacht. Sie dachte gar nicht daran, dass es unterdessen Sonntag geworden. Da kam es ans Fenster und rief:


»Schoch, schoch spinnst noch?«

»Ja ja, ich spinne noch,«


antwortete keck die Fleissige.


»Für wen spinnst denn noch?«


examiniert das am Fenster weiter.


»Fir mich und fir dich und fir dië, wo's mangelbar sind,«


lautete die Auskunft. Das war die rechte Antwort. Die Stimme liess sich nicht mehr vernehmen, das Examen war bestanden. Aber die Spinnerin stellte jetzt das Rädchen ebenfalls auf die Seite und spann nie mehr in den Sonntag hinein.

»Ich ha's nu sälber 'kännt, das Zilli,« belehrt mich meine fromme Erzählerin ab der Scheeni zwischen Wassen und Geschenen.


Franziska Kruog, 70 J. alt.


Spielart: Nicht lokalisiert. Zwei Spinnerinnen. Die Antwort lautete: »Fir dich und fir ys, fir all Lytt und fir dië[157] armä Seelä.« Da nahm das Gespenst zwei Kalksteine, zerrieb sie zu Mehl und sagte, wenn sie nicht so geantwortet hätten, wäre es ihnen ergangen wie diesen Steinen.

a) Die Anfrage heisst auch:


»Noch, noch! spinned-er noch?

Spinned-er fir ych uder spinned-er fir ander Lytt?«


Frau Regli Baumann, 76 J. alt, Wassen, u.a.


b) Ursern. Die Frage lautet:


»Spinnsch fir dich oder fir dä Loh(n)?«


Die Antwort:


»Ich spinnä fir mich.«


2. Früher war es Brauch, an Samstagabenden beizeiten Feierabend zu machen. Eine alte Spinnerin konnte sich aber nicht von ihrem lieben Spinnrad trennen und spann in die tiefe Samstagnacht hinein und zwar beim Armenseelenlichtlein. Da kam es ans Fenster und rief:


Schoch, schoch, wie spinnst du noch!

Durch dich (drum) muss ich in den weiten Wald,

Und es ist so kalt.


Frau Gisler-Zwyssig, Isental.


3. Z'altä Tagg z'spinnä, das het's äu nit 'tohlet. Als einst ein Müetterli solches dennoch tat, kam eine Stimme ans Fenster und rief:


»Schoch, schoch, spinnst noch?

Spinnst für dich oder für andere Leut?«


Aber jetzt verliess die Spinnerin ihr Rad und machte sich ins Bett.


Theresia Gisler, 73 J. alt, Spiringen.


4. Einst sass ein altes, emsiges Müetterli bis spät, spät in die Nacht hinein an seinem Spinnrädchen. Da erschien ein Wäuti am Fenster und rief:


»Noch! spinnst noch so spat?

Spinnst nochmal so spat,

So bischt in meiner G'walt.«


Aber jetzt liess die Alte das Rädchen stehen und machte sich ins Bett.


Marie Schilter, Attinghausen.


Der Spruch lautet auch:


Alti! schoch, schoch! spinnst noch so spat?

Und äs isch so frisch und chalt,

Und ich müess nu z'obrisch i Wald.«


Franz und Melchior Kieliger, Bristen.


5. Eine alte Jungfer spann einmal gegen ihre Gewohnheit bis spät in die Nacht hinein. Endlich kam ein Wäuti an[158] das Fenster, schob es beiseite und schleuderte die Frage ins Stübchen: »Wessen ist der Abend?« – »Mynä-n- und dynä,« wirft schlagfertig die Spinnerin als Antwort zurück. – »Güet, das äso g'antwortet hesch! susch hät-ti z'Huddlä-n- und z'Strämpä zerrissä,« zischelt noch das Wäuti und bricht, verschwindend, das Redegefecht ab.


Katharina Wipfli, 80 J. alt, Seedorf.

Quelle:
Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945, S. 157-159.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Anatol / Anatols Größenwahn

Anatol / Anatols Größenwahn

Anatol, ein »Hypochonder der Liebe«, diskutiert mit seinem Freund Max die Probleme mit seinen jeweiligen Liebschaften. Ist sie treu? Ist es wahre Liebe? Wer trägt Schuld an dem Scheitern? Max rät ihm zu einem Experiment unter Hypnose. »Anatols Größenwahn« ist eine später angehängte Schlußszene.

88 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon