647. Der merkwürdige Ring.

[114] »So ein Geschichtlein, wie sie in diesem Buche haben drucken lassen, will ich auch erzählen, aber das ist dann kein Märlein. – Ich war so ein dreizehnjähriger Bub, als ich beim Blättäli-Seebi im Blättäli zu Erstfeld als Geissbub diente. In diesem Landgut fiel mir ob dem Hause ein Ring auf im Grase, der etwa eine Handlänge breit und scharf und sehr deutlich in der Wiese ausgeprägt war, weil nur mit magerm Spitzgras bewachsen. Die Fläche aber innerhalb dieses Ringes trug rechtes Gras wie die übrige Wiese. Der Durchmesser des ganzen Kreises mit Einschluss des Ringes mag bei drei Meter betragen haben. Endlich fragte ich den Seebi, was wohl der Ring zu bedeuten habe. Der sagte, ja, das sei ein eigentümlicher Ring; der rücke alle Jahre dem Hause näher. Ein Feckerweib habe ihm – dem Seebi – einmal aus den Linien der Hand geweissagt und hinzugefügt, wenn der Ring einmal ganz nahe beim Hause sei, werde jemand daraus sterben. Und tatsächlich, ich habe es selber beobachtet, näherte sich der Ring jedes Jahr dem Hause, und, als er im dritten Jahre nur noch drei Sprünge davon entfernt war, starb im Jahre darauf der Seebi. – Es nimmt mich wunder, ob der Ring noch da sei; ich möchte einmal hingehen und schauen.«


Jos. Indergand, 45 J. alt, Kaufmann, Erstfeld.

Quelle:
Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945, S. 114.
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