646. Todankünden eines Patenkindes.

[113] Wir wohnten noch im Holzerberg zu Bürglen. Die Mutter war uns gestorben, und ihre Schwester, ds Bäsi-Nänni, war unsere Haushälterin. Eines Abends sagte der jüngste Bub, es klopfe jemand an die Gwandlatte vor dem Hause und rufe »Kaspar!« So hiess der Vater. Wir andern hörten nichts und fanden niemand, als wir hinausgingen und Nachschau hielten. Am folgenden Abend ereignete sich das nämliche. Wir sagten es dem Vater. Aber der lachte nur und sagte, es sei Einbildung. Als es sich am dritten Abend wiederholte, sagte er, das nächste Mal sollten wir ihn sofort rufen. Aber es war nicht mehr nötig; er hörte es am nächsten Abend, als wir schon im Bette waren, selber an die Gwandlatte schlagen[113] und »Kaspar« rufen. Sogleich stand er auf und schaute zum Fenster hinaus. Da stand sein Schwager von Brunnen draussen und bat, die Bäsi-Anna möchte nach Brunnen kommen und einem Kinde Patin sein. Das tat sie am nächsten Morgen. Nach einiger Zeit brachten sie das schwächliche Kind zu uns in die frische Bergluft. Wir Kinder hatten eine grosse Freude, denn wir durften allemal das Breipfännchen ausschlecken und ausräumen, wenn die Bäsi dem Kleinen gerösteten Mehlbrei gab. Aber die gute Pflege half nicht. Das Kind starb noch vor einem Jahre bei uns.


Katharina Müller, 75 J. alt.

Quelle:
Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945, S. 113-114.
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