959. Der Alpgeist und der Gehorsam.

[320] 1. Auf einer Alpe hauste ein Geist. Die Alpe heisst Fellenen und zieht seitwärts der Gotthardstrasse bis zur Oberalp bei Urseren sich hinein. Niemand durfte dort oben alpen als ein einziger Mann von Silenen, der Stammvater des jetzt noch blühenden Geschlechtes der Walker, aus den ersten Zeiten, da die Urner hier im Ländchen sich angesiedelt hatten. Zwar beunruhigte der Geist auch den Walker, aber nur zu gewissen Tagen und Stunden. Der Älpler redete das Gespenst oft an; allein dieses gab keine Antwort, bis er einmal die Frage stellte, welches das grösste Werk sei vor Gott. »Der Gehorsam,« sprach es. »Nun,« fuhr Walker fort, »so befehle ich dir, dass du uns in Ruhe lassest, denn wir haben das Recht, hier zu sein!1« Von Stunde an gab es Ruhe, und alle Silener konnten die Alp benutzen. Doch prophezeite der Geist dem Walker, er selbst werde nicht mehr hier alpen. In der Tat, er starb im folgenden Herbste.

2. Spielart von Schächental: Ein Älpler, der auf sotane Art den Geist in seiner Alp angeredet und zu weichen genötigt hatte, lebte noch viele Jahre und wurde ein steinalter Mann. Bevor er jedoch starb, erschien ihm jener Geist nochmals und sagte: »Ich habe dir gehorchen müssen und jetzt musst du göttlichem Befehl Gehorsam leisten!«


Karl Gisler.


Fußnoten

1 Ein Zug, der auch in der Lebensbeschreibung des seligen Bruder Klaus erzählt wird.

Quelle:
Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945, S. 320.
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