1507. Todesfälle voraussehen.

[288] Mein Grossvater war z'altä Tagä geboren. So nennen wir in Wassen die vier Fronfastenmittwoche1 und den Heiligabend zu Weihnachten. Der hat alle Todesfälle der Pfarrei vorausgesehen. Einmal wollte er mit seiner Frau gegen Göschenen z'Wirt gehen, d.h. ein Wirtshaus aufsuchen. Damals aber gehörte Göschenen noch zur Pfarrei Wassen. Etwas hinter Wattingen begegneten ihnen zwei Personen, die hart an seiner Frau vorbeigingen, Wassen zu. Er fragte die Frau, ob sie selbe zwei auch gesehen habe, was sie verneinte. Eine kleine Strecke weiter kam ihnen eine dritte Person entgegen, die wiederum die Frau beinahe streifte und gegen Wassen, also gegen die Pfarrkirche oder den Friedhof wanderte, und auch diese war nur dem Grossvater sichtbar, der jetzt sagte, man werde in den nächsten Tagen drei Leichen von Göschenen nach Wassen auf den Friedhof bringen, eine etwas später als die anderen zwei. So geschah es denn auch; eine Lawine im Standtal vernichtete zwei Tage später drei Menschenleben, und die eine Leiche wurde um einen Tag später beerdigt als die zwei ersten.

Ein anderes Mal, als er von Wassen her gegen Meien marschierte und die Schanz erreichte, begegneten ihm dort mehrere Personen hintereinander, die alle das Bätti in der Hand hielten und gegen Wassen hinunter stiegen. Alle waren ihm bekannt bis auf die letzte, die kannte er nicht. Bald hernach brach eine ansteckende Krankheit aus, an der die geschauten Personen starben, und ihnen folgte er selber als der letzte.

Solche Erlebnisse hat er viele erzählt. Personen, deren Doppelgänger in der Richtung zum Friedhof wandern, müssen bald sterben.


Katharina Gamma, 50 Jahre alt, Wassen.


Fußnoten

1 Eigentlich ist das mehr im Unterland der Fall; in Wassen, Meien, Göschenen gilt der Ausdruck meistens vom letzten Tag des Jahres, seltener überhaupt von den letzten Tagen des Jahres.

Quelle:
Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945, S. 288-289.
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