1566. Das Rösslein beim Räggälistein.

[316] Schon öfters war der Ratsherr Franz Müller († 1826) aus dem Äbnet auf seinem Gange nach Altdorf in den Rat beim Räggälistein zu Spiringen auf ein Rösslein gestossen, das jedesmal um ihn herum, vor ihm her gümpelte und mit dem Kopfe Zeichen gab, er solle sich auf seinen Rücken setzen. Eines Tages dachte der Äbneter: »A, du probierst und steigst auf, das wird dich wohl nicht verderben«, und bestieg das seltsame Reittier, und es trug ihn ganz sittli (sanft) talaus bis zum Helgennussbaum, wo es aber auf einmal stille stand und nicht mehr ab Fleck wollte. Der Reiter stieg also ab, und da war auf einmal das Ross verschwunden und stand ein Weibervolk statt dessen auf der Stelle, das ihm sagte, es werde ihm noch mehr erscheinen, wenn er nichts dagegen habe. Der Ratsherr erhob keine Einsprache, und das Wybervolch verschwand. Jener suchte einen Geistlichen auf und beriet sich mit ihm. Der machte ihm den Vorschlag, er solle beim nächsten Begegnen das Wybervölchli anreden und in den drei höchsten Namen fragen, was es begehre und wie ihm zu helfen sei. Willig ging der Ratsherr darauf ein, und da eines Abends, als er talein kam, das Wybervolch beim Räggälistein sich stellte und ihn bat, er solle es auf seinen Rücken nehmen und ohne Abstellen bis zur Stiege beim Schulmeisterhaus tragen und auf diese Weise erlösen, dachte er, das werde kein Kunststück sein, und lud sich die seltene Bürde auf den Rücken. Nun, anfangs war sie federleicht, dann aber fing sie an zu drücken und drückte ihn immer stärker, dass er meinte, er trage die ganze Welt und müsse einfach einmal abstellen.[316] Die Kräfte drohten ihm zu versagen. Doch er wusste sich zu bezwingen und erreichte glücklich die bezeichnete Stiege und stellte seine Last ab. Jetzt stand der Geist ganz im Weissen vor ihm und sagte, er sei erlöst. »Hättest du mich ein einziges Mal abgestellt, so hätte ich weiss Gott wie lange mich nicht mehr zeigen dürfen und dann hätte es auch wieder fehlen können.« Zuletzt bot er dem Ratsherrn zum Abschied seine Rechte dar; dieser aber umwand die seine mit einem Sacklumpli, bevor er einschlug. Es zeigte nachher die Brandspuren der Geisterhand.


Fr. Nell-Gisler, 52 Jahre alt, Spiringen.

Quelle:
Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945, S. 316-317.
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