1570. Wenn nytt wärisch wie d'Sunnä.

[318] Früher stand an der Strasse zunächst hinter dem Urnerloch ein Steingädemli; da drinnen war es nicht sauber: Ein Gespenst bewohnte es, und das liess niemand ungeschoren hinein. Alle, die es aus kühnem Wagemut oder aus Unkenntnis der Sachlage unternahmen, da zu nächtigen, griff es wütend an, entriss ihnen die Handschuhe und zerfetzte diese wie Wollen- oder Seidenbüschelchen, und die Leute konnten noch froh sein, wenn es nicht ihnen selber auch so erging.

Damals wirkte in Wassen ein Pfarrer Christen, ein gebürtiger Ursner (Joh. Anton Christen von Realp, 1728–1772 †, Pfarrer in Wassen), und dieser ging nicht selten in die Heimatgemeinde zu den Seinen auf Besuch und daher an jenem Gädemli vorbei. Diesem Geistlichen rief das Gespenst jedesmal, er solle ins Gädemli kommen, wenn er es wagen dürfe, und höhnte und trätzelte ihn. Eines Tages antwortete er ihm: »Hitt nu nytt, aber denn äs andersmal!« Das nächste Mal war er vorbereitet und betrat den Stall, nachdem ihn das Gespenst wieder herausgefordert. Es schaute ihn aber gar nicht freundlich an und empfing ihn auch sonst nicht, wie man einen eingeladenen Gast zu empfangen pflegt. Nachdem es ihn mit seinen giftigen Blicken gemustert, packte es einen »Arvell« Handschuhe, zerriss und zerrieb sie wie Seide in kleine Fetzen und fauchte den Pfarrer an: »Wenn nytt wärisch wie d'Sunnä (so rein), sä gieng's-der wie deenä Händschä.« Doch der Geistliche war stärker und verbannte das Ungeheuer. Aber Arbeit hat's ihn gekostet! Er war ganz in Schweiss gebadet, als er die Stätte verliess.


Josef Maria Baumann, 85 Jahre alt, im Miseli.

Quelle:
Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945, S. 318-319.
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