36. Der Bärenprinz.

[75] Ein Kaufmann wollte einmal auf den Markt gehen; da fragte er seine drei Töchter, was er ihnen nach Hause bringen sollte. Die älteste sagte: »Ich möchte Perlen und Edelsteine.«

»Mir«, sagte die mittlere, »kannst du ein himmelblaues Kleid[75] kaufen.« Die jüngste aber sprach: »Auf der Welt wäre mir nichts lieber als eine Traube.« Als nun der Kaufmann auf den Markt kam, da sah er bald Perlen und Edelsteine, so viel er nur wollte; und auch ein himmelblaues Kleid hatte er bald gekauft; aber eine Traube, die konnte er auf dem ganzen Markt nirgends finden. Da war er sehr betrübt; denn gerade die jüngste Tochter hatte er am liebsten.

Als er nun so in Gedanken nach Hause ging, trat ihm ein kleines Männchen in den Weg, das fragte ihn: »Was bist du so traurig?«

»Ach«, antwortete der Kaufmann, »ich sollte meiner jüngsten Tochter eine Traube heimbringen, und nun hab ich auf dem ganzen Markt keine gefunden.« Sagte das Männchen: »Geh nur ein paar Schritte dort die Wiesen hinunter, dann kommst du zu einem großen Weinberg; da ist freilich ein weißer Bär drin, der wird garstig brummen, wenn du kommst; aber laß dich nur nicht erschrecken, die Traube kriegst du doch.« Nun ging der Kaufmann die Wiese hinunter, und da geschah es, wie das Männchen gesagt hatte. Ein weißer Bär hielt die Wache vor dem Weinberg und brummte dem Kaufmann schon von weitem entgegen: »Was willst du hier?«

»Sei so gut«, sagte der Kaufmann, »und laß mich eine Traube nehmen für meine jüngste Tochter, nur eine einzige.«

»Die bekommst du nicht«, sagte der Bär, »oder du versprichst mir, daß du mir zu eigen gibst, was dir zuerst begegnet, wenn du nach Haus kommst.« Der Kaufmann besann sich nicht lange und sagte es dem Bären zu; da durfte er die Traube nehmen und machte sich vergnügt auf den Heimweg.

Als er nun nach Haus kam, sprang ihm die jüngste Tochter entgegen, denn sie hatte am meisten lange Zeit nach ihm gehabt und konnte es kaum erwarten, bis sie ihn sah; und als sie die Traube in seiner Hand erblickte, da fiel sie ihm um den Hals und konnte sich vor Freude nicht fassen. Aber jetzt wurde der Vater erst[76] recht traurig und durfte doch nicht sagen warum; alle Tage erwartete er, daß der weiße Bär kommen und sein liebstes Kind von ihm fordern würde. Und als gerade ein Jahr vergangen war, seit er die Traube aus dem Weinberg geholt hatte, da trabte der Bär wirklich daher, stellte sich vor den erschrockenen Kaufmann hin und sagte: »Nun gibst du mir, was dir zuerst begegnete, als du nach Hause kamst; oder ich fresse dich.« Der Kaufmann hatte aber doch nicht alle Besinnung verloren, sondern sagte: »Da, nimm meinen Hund, der ist gleich aus der Tür gesprungen, als er mich kommen sah.« Der Bär aber fing an laut zu brummen und sagte: »Der ist nicht das Rechte; wenn du mir dein Versprechen nicht erfüllst, so freß ich dich.« Da sagte der Kaufmann: »Nun denn, so nimm da den Apfelbaum vor dem Haus, der ist mir zuerst begegnet.« Aber der Bär brummte noch stärker und sagte: »Das ist nicht das Rechte; wenn du mir nicht gleich dein Versprechen erfüllst, so freß ich dich.«

Nun half nichts mehr; der Kaufmann mußte seine jüngste Tochter hergeben; und als sie herbeikam, fuhr eben eine Kutsche vor; da hinein führte sie der Bär und setzte sich neben sie, und fort ging's. Nach einer Weile hielt die Kutsche in einem Schloßhof und der Bär führte die Tochter in das Schloß hinauf und bewillkommte sie. Hier, sagte er, sei er zu Haus, und sie sei von jetzt an seine Gemahlin; und alles Liebe und Gute, was er ihr nur an den Augen absah, tat er ihr, so daß sie mit der Zeit gar nicht mehr daran dachte, daß ihr Gemahl ein Bär sei. Nur zweierlei nahm sie immerfort wunder: Warum der Bär des Nachts kein Licht leiden wollte und immer so kalt anzufühlen war.

Als sie nun eine Zeitlang bei ihm gewohnt hatte, fragte er sie; »Weißt du, wie lang du schon hier bist?«

»Nein«, sagte sie, »ich habe noch gar nicht an die Zeit gedacht.«

»Desto besser«, sagte der Bär,[77] »nun ist's aber gerade ein Jahr; darum rüste dich zur Reise, denn wir müssen deinen Vater wieder einmal besuchen.« Das tat sie mit großen Freuden; und als sie zu dem Vater kam, so erzählte sie ihm ihr ganzes Leben im Schloß. Wie sie aber hernach wieder von ihm Abschied nahm, steckte er ihr heimlich Zündhölzchen zu, daß es der Bär nicht sehen sollte. Der hatte es jedoch im Augenblick gesehen und brummte zornig: »Wenn du das nicht bleiben läßt, so freß ich dich.« Dann nahm er seine Gemahlin wieder mit sich auf das Schloß und da lebten sie wieder zusammen wie vorher.

Nach einiger Zeit sagte der Bär: »Weißt du, wie lang du schon hier bist?«

»Nein«, sagte sie, »ich spüre gar nichts von der Zeit.«

»Desto besser«, sagte der Bär; »du bist nun gerade zwei Jahre hier; darum rüste dich zur Reise, es ist Zeit, daß wir deinen Vater wieder einmal besuchen.« Das tat sie wieder, und es ging alles wie das erste Mal. Als sie aber noch zum dritten Mal bei ihrem Vater auf Besuch war, übersah es der Bär, daß ihr Vater ihr heimlich Zündhölzchen zugesteckt hatte; und wie sie nun zusammen wieder in das Schloß zurückgekehrt waren, so konnte sie es kaum erwarten, bis es Nacht war und der Bär neben ihr im Bette schlief. Leise zündete sie ein Licht an, und da erschrak sie vor lauter Verwunderung und Freude; denn neben ihr lag ein schöner Jüngling mit einer goldenen Krone auf dem Haupte; der lächelte sie an und sagte: »Schönsten Dank, daß du mich erlöst hast; du warst die Gemahlin eines verwünschten Prinzen; jetzt wollen wir erst recht unsere Hochzeit feiern; denn jetzt bin ich der König dieses Landes.« Alsbald wurde das ganze Schloß lebendig; von allen Seiten kamen die Diener und Kammerherren herbei und wünschten dem Herrn König und der Frau Königin Glück.

Quelle:
Sutermeister, Otto: Kinder- und Hausmärchen aus der Schweiz, Aarau: H.R. Sauerländer, 1869, S. 75-78.
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