38. Der Riese.

[221] Ein Priester und sein Schüler gingen einst durch ein großes Waldgebirg, und es ereilte sie da die Nacht. Da sie einsahen, sie würden diesen Tag nicht mehr zu dem Ort gelangen, welchen sie zu erreichen gehofft hatten, sahen sie sich nach allen Seiten im Gebirg um, wo sie übernachten könnten, und gewahrten in der Ferne ein Feuer in einer Höhle. Sie gingen darauf zu und riefen aus: »Guten Abend, ist Jemand da?« Doch was sehen sie? weder Menschen noch sonst etwas, sondern nur einen Riesen mit einem Auge an der Stirn. Den fragten sie: »Willst du uns hinein lassen?« und er gab ihnen eine bejahende Antwort. Die Oeffnung der Höhle aber war mit einer großen Steinplatte verschlossen, welche hundert Menschen nicht hätten wegrücken können. Der Riese stand auf, hob die Steinplatte weg, ließ sie ein, und wälzte den Stein wieder vor den Eingang, hierauf schürte er ihnen ein großes Feuer an, und sie setzten sich um sich daran zu wärmen. Nachdem sie ein wenig durchwärmt waren, fing sie der Riese am Nacken zu befühlen an, um zu sehen, welcher von beiden feister sei, damit er ihn schlachten und braten könne, er fand den Geistlichen feister, fiel über ihn her und that ihn ab, steckte ihn an den Spieß und brachte ihn zum Feuer, daß er gar würde. Der Schüler sah dies Alles voll Kummer mit an,[222] aber aus der Höhle zu entfliehen, war ihm unmöglich. Nachdem der Geistliche gebraten war, lud der Riese den Schüler ein, mit ihm zu essen, der arme Schüler mochte aber nicht, und antwortete, daß er nicht hungrig sei. »So wirst du,« sprach der Riese, »gezwungen es zu thun, wenn du es nicht freiwillig thust.« Was sollte der Schüler machen? er setzte sich zu ihm, der verfluchte Riese aß, der Schüler steckte wohl auch etwas in den Mund, aber spie es wieder seitwärts aus. »Iß,« schrie der Riese, »denn auch dich werde ich Morgen ebenso speisen.«

Nachdem der Riese sich gesättigt hatte, legte er sich neben dem Feuer nieder, während der Schüler anfing ein kleines Stück Holz zuzuspitzen. Der Riese fragte ihn: »Wozu spitzest du das Holz?« Der Schüler antwortete ihm, während er müßig bei den Schafen sitze, habe er sich gewöhnt, immer so zu schnitzen, und daß ihn auch jetzt diese Lust ergriffen habe. Da schloß der Riese das Auge und schlief ein, den armen Schüler aber, der einsah, daß das Messer morgen auch seiner Kehle drohe, überkam ein schneller Gedanke, und das zugespitzte Holz dem Riesen ins Auge bohrend, blendete er diesen. Wüthend sprang der erblindete Riese auf und schrie dem Schüler zu: »Du hast mir das Eine Auge genommen, da ich nicht so klug war, dir Beide zu nehmen, aber immerhin! Dank sei Gott, du sollst mir doch nicht entgehen.« Als der Morgen graute, betastete der Riese die Oeffnung der Höhle, und da er sie verschlossen fand, fing er an in der Höhle hin und her zu tappen, um den Schüler zu[223] fangen, aber er konnte ihn durchaus nicht finden, weil in der Höhle viele Schafe waren, und der Schüler darauf verfiel einem Widder die Haut ab und über seinen Leib zu ziehen, und unter die Schafe sich zu mischen. Dem Riesen ward es klar, daß er der Schafe wegen nichts thun könne, er ging deshalb an die Oeffnung der Höhle, rückte ein Ende der Platte weg, und fing die Schafe zu locken an, damit er eines nach dem andern hinaus ließe. Der Schüler in der Widderhaut näherte sich mit den Schafen, deren eins nach dem andern durch das Loch sprang, so gelangte er endlich auch bis zum Riesen, der ihn packte und unter die übrigen Schafe hinaus warf. Als der Schüler auf dem Felde war, und die ganze Heerde vor sich sah, rief er dem Riesen zu: »Suche mich nicht weiter, ich bin schon draußen.«

Als der Riese sah, daß er ihm entkommen war, überdachte er was er thun sollte, er öffnete also den Eingang der Höhle, und reichte ihm einen Stab mit den Worten: »Wenn du mir schon entkommen bist, so nimm den Stock, um die Heerde damit zu treiben, denn ohne ihn wirst du kein Schaf von der Stelle bringen.« Der unglückliche Schüler ging, ließ sich täuschen und erfaßte den Stock, so wie er ihn aber berührt hatte, blieb ein Finger daran fest haften. Da er so seinen Untergang vor Augen sah, fing er im Kreise um den Riesen hin und her zu springen an, damit ihn dieser nicht packen könne. Plötzlich fiel ihm sein Schnappmesser, das er bei sich trug, ein, das nahm er heraus, schnitt damit den an dem Stocke haftenden Finger ab, und entkam[224] so glücklich. Nun aber spottete er des Riesen und verlachte ihn, die Heerde vor sich hintreibend. Der Riese, obgleich blind, lief hinter ihm her und so kamen sie an ein großes Wasser; da merkte der Schüler alsbald, daß er den Riesen in dem Wasser ersäufen konnte und fing um ihn herum zu pfeifen und seiner zu spotten an. Der Riese rückte nach und nach immer näher heran und dachte ihn zu fangen, da kam er gerade bis an den Rand des Wassers, der Schüler aber rannte von rückwärts auf ihn los, stürzte ihn in die Flut und der Riese ertrank. Hierauf trieb der Schüler in Frieden die Heerde von dannen und kam wohlbehalten, jedoch ohne den Priester, nach Hause.

Quelle:
Karadzic, Vuk Stephanovic: Volksmärchen der Serben. Gesammelt und aufgezeichnet von Wuk Stephanowitsch Karadschitsch. Ins Deutsche übersetzt von Wilhelmine Karadschitsch. Berlin: Reimer, 1854, S. 221-225.
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