Die weisse Maus.

[80] Es war eine Frau, die war eine Hexe und bekam manchmal Anfälle, dass sie wie todt auf der Erde lag und die Würmer sie frassen. Die nun hatte eine Tochter, aber die Tochter war nicht mehr im Dorfe bei ihr, sondern anderswo verheirathet. An einem Sonntage, es war während der Kirchenzeit, kam sie auf Besuch zur Mutter, sah im Garten vorm Hause eine Frau wie todt liegen und die Würmer sie fressen. Dann ging sie in das Haus, fand aber ihre Mutter nicht in der Stube. Nach einer Weile kam die Mutter, freute sich und gab der Tochter viel Brot und Butter zu essen. Die Tochter aber ass nur wenig und sagte: »Ach, wenn wir das zu Hause hätten! Aber wir müssen »trocken« Brot essen; hier habe ich es heute in Fülle und schmeckt mir doch nichts«. Da sagte die Mutter: »Bist (sei) nur mit Deinem Brot zufrieden, brauchst Dir nicht zu wünschen, wie ich es habe. Warum hast nichts gegessen?« Und die Tochter sagte: »Wie ich hierher kam, sah ich eine Frau im Garten, die haben Würmer (cerwje) gefressen [I, 290] und davor thu ich mich noch ekeln«. Da sagte wieder die Mutter: »Das war ich, die Frau, die Du da gesehen hast«. Und die Tochter sagte: »Ihr waret aber doch ganz todt«. Da sagte die Mutter: »Das will ich Dir gleich mal zeigen,« schlief sogleich wieder ein und ein kleines Mäuschen that ihr aus dem Munde laufen, das war ihr Geist. Nun war sie todt, weil die Maus heraus war, ihr Geist. Und die Tochter sielte240 sich mit ihr herum, denn sie hatte Angst, ihre Mutter würde todt241 bleiben. In ihrer Angst rief sie den Namen der Mutter. Da kam das Mäuschen wieder, lief in den Mund und die Mutter wurde wieder lebendig. Dann sagte sie: »Wenn Du das lernen willst, so will ich's Dir beibringen. Dann kannst Du alles haben, so gut wie ich's hab', musst Dich aber von den Würmern fressen lassen, wie Du's im Garten gesehen hast«.[80]

Das aber wollte die Tochter nicht, ging wieder nach Hause und ist nicht mehr zur Mutter gekommen. Die aber nahm ihr das sehr übel und behexte nachmals alles Vieh der Tochter, so dass das ganze Vieh, eins nach dem andern, einging242. Doch die Tochter ging deshalb doch nicht zu ihrer Mutter, aber schaffte sich, so lange die alte Hexe lebte, kein Vieh fürder mehr an. S.

240

D.h. suchte sie zu rütteln und schütteln, aufzuheben u. dergl.

241

Haupt und Schmaler, Wend. Volkslieder, II, 182: »Mir selbst wurde von einem Mädchen erzählt, dass sie jeden Abend einen Topf mit Wasser an ihr Bett stelle, damit ihr Geist, wenn er vielleicht Appetit hätte, nicht zu weit zu gehen brauchte. Denn sie befürchtete, er könne sich leichtlich hierbei verirren und sie müsste dann todt bleiben. Schmaler.«

242

Starb.

Quelle:
Schulenburg, Willibald von: Wendisches Volksthum in Sage, Brauch und Sitte. Berlin: Nicolai, 1882, S. 80-81.
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