Als Buch bei Amazon
Fünfzigste Geschichte
Was dem Saladin mit einer Dame, der Gattin eines seiner Vasallen, begegnete

[241] Eines Tages sprach der Graf Lucanor also zu seinem Rate Patronius: Ihr seid, wie ich wohl weiß, so hellen Verstandes, daß von allen, die jetzt auf Erden leben, keiner so guten Bescheid auf jegliche Frage zu geben vermag als Ihr; und daher bitte ich Euch, mir zu sagen, welches die beste Eigenschaft eines Menschen sei. Ich frage dies darum, weil ich die Erfahrung gemacht, daß dem Menschen gar viele nötig sind, um nicht nur richtig zu urteilen, sondern auch zu handeln; denn durch die bloße Erkenntnis ohne Tat wird, meines Bedünkens, nur wenig gefördert, und da nun dieser erforderlichen Eigenschaften ebenso viele sind, so wünschte ich wenigstens eine davon zu wissen, um ihrer jederzeit eingedenk und sicher zu sein.[242]

Herr Graf Lucanor, erwiderte Patronius, Eure Güte überhäuft mich mit Lob, und insbesondere rühmt Ihr stets meinen Verstand. Aber ich fürchte, Ihr täuscht Euch darin, da man in nichts auf der Welt öfter und leichter irrt als in der Kenntnis der Menschen, ihrer Gemütsart und Einsicht, eben weil da zweierlei sehr Verschiedenes in Anschlag kommt: die Gesinnung und die Einsicht. Seine Gesinnung bewährt der Mensch durch das, was er tut, und ob er es um Gottes willen oder um der Welt willen tut. Gar vieler Tun und Werke nämlich scheinen und sind auch wirklich gut, doch nur für diese Welt; und wahrlich, all diese Güte wird ihnen einst teuer zu stehen kommen, denn für dieses Gut, das einen Tag währt, werden sie großes Übel erleiden ohne Ende. Andre dagegen, das bessere Teil erwählend, das ewig unverloren bleibt, tun recht um Gottes willen und kümmern sich dabei nicht um die Welt. Und also halten denn die einen wie die andern nicht beide Pfade, den der Welt und den zum Himmel, gleichzeitig ein, denn dazu ist große Kraft nötig, und es ist ebensoleicht, die Hand in die Flamme zu strecken und die Glut nicht zu achten. Doch mit Gottes Beistand und eigner Tätigkeit vermag man's wohl, und es waren viele gute Könige und heilige Männer vor uns, die gut waren vor Gott und vor der Welt.

Nicht weniger schwierig aber ist es auch, die Einsicht der Menschen zu erforschen, denn viele[243] haben Gutes und Verständiges vorzubringen, können aber kaum drei Worte ordentlich stellen, während andre wieder sehr geschickt ihre Angelegenheiten zu besprechen wissen und doch voller Tücke sind und alles nur für sich und nichts für ihre Untertanen tun. Und das sind die, von denen geschrieben steht: sie sind wie der Narr mit dem Schwert in der Hand und wie ein Fürst, der große Macht hat. Wollt Ihr daher nun den Menschen wahrhaft sondern und erkennen, welcher gerecht vor Gott und der Welt, wer scharfen Verstandes, wer von glatter Zunge oder redlicher Gesinnung sei: so beurteilt jeden nur nach seinen Werken, und zwar nur nach dem, was er nicht etwa kurze Zeit, sondern gewöhnlich tut, und ob er sich bessert oder schlimmer wird, denn dadurch wird alles offenbar, was ich vorhin erwähnt. Dies sage ich Euch indes hier nur, weil Ihr mich und meinen Verstand gepriesen, da ich doch gewiß weiß, Ihr würdet mich so nicht loben, wenn Ihr jene Dinge gehörig beachtetet. Was aber nun endlich Eure Frage betrifft: welches die beste Eigenschaft eines Menschen sei, so wünschte ich sehr, Ihr hörtet zu besserem Verständnis der Antwort die Geschichte des Saladin und der tugendhaften Gemahlin eines seiner Vasallen.

Was ist das für eine Geschichte? fragte der Graf, und Patronius erzählte:

Saladin, der Sultan von Babylon, führte viel Kriegsvolk mit sich, und da nun eines Tages nicht[244] alle mit ihm lagern konnten, kehrte er in dem Hause eines seiner Ritter ein, welcher nebst Frau und Kindern seinem hohen Gaste alle nur mögliche Ehre und Dienste zu erzeigen suchte. Doch der Teufel, der immer geschäftig ist, den Menschen zu verleiten, gab dem Saladin in den Sinn, alles zu vergessen, was er lieben sollte, und die Frau jenes Ritters zu lieben, wie er nicht sollte; und diese Liebe war so groß, daß er wegen Befriedigung seiner Wünsche mit irgendeinem seiner schlechten Diener sich zu beraten beschloß. Wahrlich, es sollten alle Gott bitten, ihren Gebieter vor bösem Anschlag zu bewahren, denn hat er ihn einmal gefaßt, so könnt Ihr auch versichert sein, es wird ihm zur Ausführung nie ein Helfershelfer fehlen. Und so hatte denn auch Saladin gar bald einen solchen willfährigen Ratgeber gefunden. Dieser riet ihm, er möge den Ritter rufen lassen, ihn unter großen Gunstbezeigungen zum Befehlshaber über ein Kriegsheer setzen und nach einigen Tagen in Geschäften in irgendein entferntes Land absenden; so könne er dann während dessen Abwesenheit hier ungestört seine Lust büßen. Das gefiel dem Saladin nicht wenig, er befolgte den Rat, und sobald der Ritter, der sich durch die Huld seines Herrn sehr beglückt wähnte, fortgegangen war, begab er sich in dessen Haus, wo die gute Dame, von der ihrem Gemahl erwiesenen großen Gnade bereits unterrichtet, alles aufbot, ihn auf das herrlichste[245] zu empfangen. Nachdem aber die Tafel aufgehoben war und Saladin sich in sein Gemach verfügt hatte, ließ er die Dame vor sich rufen. Sie, die nichts Arges dabei dachte, ging hin, und er sagte ihr, daß er sie sehr liebhabe. Als sie das hörte, wußte sie gleich, was er meinte, stellte sich aber, als verstände sie's nicht, und wünschte ihm Gottes Segen zum Dank, denn sie verlange nichts sehnlicher als sein Wohlergehen und bitte täglich Gott für ihn, wie's sich gebühre, da er Gebieter und gegen sie und ihren Mann so gnädig sei. Saladin entgegnete indes, er liebe sie aus ganz andern Gründen und mehr als irgendein Weib in der Welt; doch sie nahm auch dieses nur als eine Gnadenbezeugung und ließ sich's noch immer nicht merken, daß sie jene andern Gründe recht gut verstehe. Nun mußte Saladin endlich reinen Wein einschenken; doch sie, als eine tugendsame und verständige Frau, antwortete folgendermaßen:

Herr, obgleich ich nur ein Weib von geringem Stande bin, so weiß ich doch, daß die Liebe in keines Menschen Macht steht, sondern er vielmehr in der ihrigen, und wenn Ihr daher mich so sehr zu lieben behauptet, so kann dies allerdings wahr sein. Ebensogut aber weiß ich auch, daß ihr Männer, und vorzüglich ihr großen Herren, wenn ihr an einem Weibe Gefallen findet, alles versprecht, was sie nur wünscht; sobald sie aber einmal gefallen ist, sie, wie billig, verachtet und[246] ihrem Unglück überlaßt. Und so, fürcht ich, Herr, könnt es auch mir ergehen.

Saladin wollte hierüber vor Ungeduld vergehen und verhieß zu tun, was sie irgend verlange, um sie recht glücklich zu machen. Als die gute Dame ihn aber so reden hörte, erwiderte sie: wenn er verspräche, bevor er ihr Gewalt und Schmach antäte, ihr eine Bitte zu erfüllen, so wollte sie, sobald er sein Wort gelöst, ihm dann gänzlich zu Willen sein. Saladin befürchtete, sie möchte ihn bitten, nichts mehr von diesem Gegenstande zu sprechen; sie entgegnete jedoch: das begehre sie keineswegs, noch sonst etwas, das er nicht leicht erfüllen könnte. Nun gab Saladin das Versprechen, und die gute Dame, ihm Hände und Füße küssend, sagte: sie verlange nichts anderes von ihm, als daß er ihr angebe, welches die beste Eigenschaft des Menschen, Anfang und Mutter aller Tugenden sei.

Bei diesen Worten fing Saladin an heftig nachzudenken, es wollte ihm aber durchaus die Antwort nicht einfallen. Da er es aber einmal versprochen hatte, so erwiderte er, er wolle darüber weiter nachsinnen, und sie wiederholte ihre Zusage, alles zu tun, was er befehle, sobald er ihr hierauf Bescheid gegeben. So war der Handel zwischen ihnen beigelegt, Saladin aber ging zu den Seinigen und griff die Sache bei einem andern Ende an, indem er jetzt alle seine Gelehrten darüber zu Rate zog. Die einen meinten nun, das[247] beste für jene Welt sei zweifelsohne ein gutes Gewissen, nur tauge es darum noch nicht sonderlich viel für diese Welt. Andere sagten wieder, die Ehrlichkeit sei ein gut Ding, aber es könne einer ehrlich und dabei doch knauserig, sehr feige, unwissend oder ungeschliffen sein, und also trotz seiner Ehrlichkeit immer noch etwas anderes nötig haben. Und so grübelten sie alles durch und konnten doch nicht auf den rechten Punkt kommen.

Da nun Saladin in seinem ganzen Lande niemanden fand, der ihm seine Frage beantworten konnte, so nahm er, um desto leichter durch die Welt zu kommen, zwei Hofnarren an und fuhr mit ihnen verkleidet übers Meer an den päpstlichen Hof, den Sammelplatz aller Christen, suchte jedoch auch hier vergeblich die gewünschte Auskunft. Von dort begab er sich an den Hof des Königs von Frankreich und zu allen andern Königen, aber nirgends fand er Bescheid. Darüber aber war endlich so lange Zeit verstrichen, daß es ihn schon gereute, sich auf die Sache eingelassen zu haben, denn es ist schimpflich für einen großen Herrn, das einmal Begonnene, wenn es sonst nichts Schlechtes ist, nicht zu beenden, und um so schimpflicher, wenn er sich durch Furcht oder Schwierigkeiten davon abschrecken läßt, und so wollte denn auch Saladin nicht ruhen und rasten, bis er das erforscht hätte, um deswillen er sein Land verlassen.[248]

Nun geschah es eines Tages, als er mit den Narren seines Wegs daherzog, daß sie auf einen Ritter stießen, welcher, soeben von der Jagd zurückkehrend, einen Hirsch erlegt hatte. Dieser Ritter war erst seit kurzem vermählt und hatte einen sehr alten Vater, der für den Besten jenes Landes galt, denn er war zwar vor Alter schon erblindet und gebrechlich, sein Verstand aber so scharf und vollkommen, daß ihm das Alter selbst nichts anhaben konnte. Der Ritter nun fragte die Fremden, woher sie kämen und wer sie seien, und als er hörte, daß es Possenreißer waren, war er voller Freude und sagte: Die Jagd habe ihn so erheitert, und um die Lust vollkommen zu machen, sollten sie, wenn sie sonst recht ordentliche Narren seien, heute bei ihm übernachten. Doch sie entgegneten, wie sie große Eile hätten und in einer gewissen Angelegenheit schon sehr lange von Hause fort wären, ohne damit zu Ende kommen zu können, sie wollten daher jetzt heimkehren und könnten also heute nicht mit ihm gehen. Der Ritter aber fragte sie so lange aus, bis er heraus hatte, was sie eigentlich wollten. Da sagte er, wenn sein Vater da nicht Rat wüßte, so wisse es kein Mensch auf der Welt. Dann beschrieb er ihnen, was für ein Mann sein Vater sei, und Saladin, den der Ritter gleichfalls für einen Narren hielt, ließ sich endlich bereden.

Als sie in dem Hause des Vaters angekommen waren, erzählte der Ritter diesem sogleich, daß[249] er sehr fröhlich sei, weil er eine gute Jagd gemacht, und noch fröhlicher, weil er jene Narren mit sich bringe; und nun sagte er ihm, was diese wissen wollten, und bat ihn inständigst, ihnen seine Meinung darüber zu er öffnen, denn er habe ihnen erklärt, daß sie in der ganzen Welt keinen Bessern dazu finden könnten.

Da der Alte das hörte, erkannte er gleich, daß der, welcher eine solche Frage tat, kein Possenreißer war, sagte jedoch dem Sohne nur, er wolle ihnen nach dem Essen Bescheid erteilen. Dies teilte der Ritter dem Saladin mit, worüber dieser sehr erfreut war. Und als nun die Tafel aufgetragen war, sagte der alte Ritter zu den Narren: er habe von seinem Sohne gehört, daß sie auf eine Frage reisten und niemand gefunden hätten, der sie beantworten könnte; sie sollten sie ihm nur mitteilen, er wolle ihnen gern sagen, was er davon verstände. Da erwiderte der verkleidete Saladin, die Frage sei: Welches die beste Eigenschaft des Menschen, Mutter und Anfang aller Tugenden wäre. Hier erkannte der alte Ritter, der überdies auch den Sinn dieser Frage gar wohl begriffen, Saladin an der Stimme, denn er hatte lange Zeit an seinem Hofe gelebt und viel Gunst von ihm erfahren. Da sprach er: Freund, zuerst muß ich Euch nur versichern, daß bis auf den heutigen Tag dergleichen Possenreißer mein Haus noch nicht betreten haben, denn um ehrlich zu sein, sollt ich eigentlich vor allem andern hier bekennen,[250] wieviel Gutes ich einst von Euch empfangen; doch davon ein andermal, wenn ich erst insgeheim mit Euch gesprochen, damit niemand etwas von Eurem Handel erfahre. Was aber Eure Frage anbetrifft, so sage ich Euch: Die beste Eigenschaft des Menschen, Haupt und Mutter aller Tugenden ist die Scham. Denn aus Scham erduldet der Mensch den Tod, der doch das Schlimmste ist, was er erleiden kann; aus Scham unterläßt er, was ihm böse dünkt, so groß auch sein Gelüsten darnach sei; und also ist die Scham der Ursprung aller Tugenden, so wie die Schamlosigkeit aller Laster Anfang.

Saladin mußte die Wahrheit dieses Ausspruchs anerkennen, und da er also sah, daß er nun wirklich die Antwort auf seine Frage gefunden, war er äußerst vergnügt und nahm Abschied von dem Ritter und seinem Sohne. Bevor sie jedoch schieden, sprach der Alte noch einmal mit ihm und sagte, wie er wohl wisse, daß er der Saladin sei, von dem er soviel Gutes erfahren, und er und sein Sohn erwiesen ihm – doch so, daß er von den andern nicht erkannt wurde – alle möglichen Dienste, worauf Saladin sich, so schnell er nur konnte, auf die Rückreise machte. Seine Zurückkunft verbreitete große Freude im ganzen Lande; sobald aber die Freudenfeste vorüber waren, begab er sich nach dem Hause der guten Dame, die ihm jene Frage gestellt hatte. Diese bewirtete ihn auf das beste, und nachdem er gespeist und[251] sich in sein Gemach zurückgezogen hatte, ließ er die Dame rufen und erzählte ihr, was für Not er gehabt, sichere Antwort auf ihre Frage zu finden. Jetzt aber habe er sie gefunden, und da er mithin sein Wort vollständig lösen könne, so sollte auch sie nun halten, was sie versprochen. Doch sie bat es sich zur Gnade aus, daß er sein Versprechen zuerst erfülle und ihr die Antwort sage; und sei diese von der Art, daß er selbst sie für richtig anerkenne, so wolle sie dann sehr gern auch ihrerseits nicht länger zögern. Saladin war damit zufrieden und sagte: Die beste Eigenschaft des Menschen und Mutter aller Tugenden ist die Scham. Bei diesen Worten war die gute Dame sehr vergnügt. Herr, sagte sie, jetzt erkenne ich, daß Ihr die Wahrheit redet und Euer Versprechen erfüllt habt, nun bitte ich Euch, beantwortet mir nur noch eine Frage, ebenso wahrhaft und wie es einem König geziemt: Ob Ihr nämlich glaubt, daß es einen bessern Mann auf Erden gibt als Ihr. Saladin erwiderte: Er schäme sich zwar, es auszusprechen, solle er aber als König die Wahrheit sagen, so meine er allerdings, besser zu sein als die andern, und daß es keinen bessern gebe. Als die gute Dame dies vernommen, warf sie sich zu seinen Füßen und rief sehr bewegt aus: Herr, Ihr habt mir hier zwei große Wahrheiten gesagt: daß Ihr der beste Mensch seid und daß die Scham das Beste am Menschen sei. Wohlan, Herr, gebt Ihr das letztere zu und[252] seid der beste Mann auf Erden, so beschwör ich Euch, hegt auch das Beste auf Erden, die Scham, in Eurer Brust, und schämt Euch Eurer verliebten Reden.

Da sah Saladin ein, daß die gute Dame durch ihre Tugend und Verständigkeit ihn vor großer Sünde zu bewahren gewußt, wofür er Gott sehr dankte; und hatte er sie bisher mit ganz anderm Herzen geliebt, so faßte er von jetzt an eine noch viel größere, ehrliche und aufrichtige Liebe zu ihr, wie sie ein guter Herr zu allen seinen guten Untertanen haben soll. Er ließ daher ihren Gemahl rufen und erwies ihm so viel Gunst und Gnade, daß er und seine Nachkommen vor allen ihren Nachbarn hervorleuchteten, und alles dies geschah durch die Tugend jener guten Dame und weil sie es ans Tageslicht gebracht, daß die Scham die beste Eigenschaft des Menschen und Anfang und Mutter aller Tugenden sei.

Wenn Ihr daher, Herr Graf Lucanor, mich nach der besten Eigenschaft des Menschen fragt, so nenne ich gleichfalls die Scham, da sie den Menschen tapfer, freigebig, höflich, gesittet und zu allem Guten aufgelegt macht. Denn dies alles, glaubt mir, ist der Mensch mehr aus Scham als aus Lust dazu, gleichwie er ebenfalls aus Scham das Schlechte unterläßt, das ihm in den Sinn kommt; und so ein gut Ding es daher um den Menschen ist, der sich schämt, zu tun, was er nicht soll, und zu unterlassen, was er soll, so schlecht,[253] verächtlich und häßlich ist dagegen der Schamlose. Wie furchtbar irrt, wer Schimpfliches in der Meinung tut, sich dessen nicht schämen zu dürfen, weil es heimlich geschieht. Denn, wahrlich, es gibt nichts in der Welt, so geheim es sei, das nicht früh oder spät an den Tag käme; und wenn auch der schändlichen Tat die Schande nicht auf dem Fuße folgt, so muß der Mensch doch stets in Furcht sein, daß sie nachkommen, wenn die Tat ruchbar wird. Und kümmert ihn selbst das nicht, so sollte er wenigstens bedenken, wie erbärmlich er ist, da er die Tat, und wenn auch nur ein Knabe darum wüßte, aus Scham unterlassen würde, und sich nicht schämt und fürchtet vor Gott, der alles sieht und weiß und ihn bestrafen wird, wie er's verdient.

Und also, Herr Graf Lucanor, habe ich Euch auch diese und somit alle Fragen beantwortet, die Ihr an mich gerichtet, und ist damit so lange Zeit vergangen, daß gewiß viele von Eurer Gesellschaft schon verdrießlich darüber sind, zumal die, welche nicht gern hören und lernen, was ihnen not tut. Diesen geht es wie dem Esel, der Gold trägt und wohl die Last auf dem Rücken spürt, aber selbst nichts davon hat; denn ebenso langweilen auch jene sich bei solchem Gespräch, ohne das Gute, das es enthält, sich zunutze zu machen. Daher erkläre ich, daß ich sowohl deshalb als auch wegen der Mühe, die mir Eure andern Fragen gemacht, Euch keine mehr beantworten,[254] sondern mit dieser Geschichte dies Buch beschließen will.

Und da Don Juan die Geschichte gut fand, ließ er sie in dieses Buch eintragen und machte folgenden Reim dazu:


Scham lehrt die Hölle dich besprechen,

Und recht tun ohne Kopfzerbrechen.


Ende der Geschichten und Beispiele des Grafen Lucanor

Quelle:
Don Juan Manuel: Der Graf Lucanor. Übertragen von Joseph von Eichendorff. Leipzig: Insel, 1961, S. 241-255.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Der grüne Kakadu. Groteske in einem Akt

Der grüne Kakadu. Groteske in einem Akt

In Paris ergötzt sich am 14. Juli 1789 ein adeliges Publikum an einer primitiven Schaupielinszenierung, die ihm suggeriert, »unter dem gefährlichsten Gesindel von Paris zu sitzen«. Als der reale Aufruhr der Revolution die Straßen von Paris erfasst, verschwimmen die Grenzen zwischen Spiel und Wirklichkeit. Für Schnitzler ungewöhnlich montiert der Autor im »grünen Kakadu« die Ebenen von Illusion und Wiklichkeit vor einer historischen Kulisse.

38 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon