Der Zauberbalsam.

[107] Ein Mädchen, welches einst ausgieng, um sich zu vermiethen, ward von einem vornehm aussehenden Herrn, der ganz in Schwarz gekleidet war, gefragt: ob sie ein Kindermädchen werden und seine Kinder warten wolle? Da er ihr ungeheuer großen Lohn versprach, so hatte sie Nichts dagegen und willigte ein, worauf er ihr sagte: er wolle sie mit sich nach Hause nehmen, doch müßte sie sich, ehe sie die Reise anträten, die Augen verbinden laßen. Dieß gethan stieg sie hinter ihm auf sein kohlschwarzes Pferd und sie ritten einen langen Weg. Endlich stiegen sie ab, ihr neuer Herr nahm sie bei der Hand und führte sie, noch immer mit verbundenen Augen, eine beträchtliche Strecke weit. Dann ward das Tuch ihr abgenommen und sie sah nun auf einmal mehr Pracht vor sich, als sie in ihrem Leben erblickt hatte, – einen wunderschönen Palast mit mehr Lichtern, als sie zählen konnte, und viele kleine Kinder darin, so schön als wie die Engel. Auch viele schöne Damen und Herren. – Ihr Herr übergab dem Mädchen nun die Kinder, um ihrer zu warten, und zugleich eine Büchse mit Balsam, um die Augen derselben damit zu bestreichen. Dabei befahl er ihr aufs Allerstrengste, sich jedesmal die Hand zu waschen, wenn sie dieß Geschäft verrichtet hätte, sowie an ihre eigenen Augen auch nicht das Geringste davon zu bringen. Sie befolgte diese Befehle aufs[107] Genaueste und befand sich sehr glücklich dabei. Zuweilen aber dachte sie, es sei doch recht eigen, daß sie immer bei Kerzenlicht leben sollten. Auch wunderte sie sich nicht wenig, daß – so groß und prachtvoll das Schloß auch war – keins von den schönen Damen und Herren jemals Sehnsucht bekäme, einmal herauszugehn – denn außer ihrem Herrn verließ es keiner auch nur für eine Stunde.

Eines Morgens, als sie den Balsam auf die Augen der Kinder strich, juckte sie das eigene; und den Befehl ihres Herrn vergeßend, fuhr sie mit dem Finger, der voll Salbe war, nach demselben. Sogleich sah sie mit dem Theil ihres Auges, an welchen der Balsam gekommen war, daß sie von furchtbaren Flammen umgeben sei, die Damen und Herren sahen wie Teufel, und die Kinder wie die gräßlichsten Scheusale aus der Hölle aus. Mit dem andren Theil ihres Auges jedoch sah sie Alles so schön und herrlich, wie zuvor. Natürlich erschrak sie sehr über diesen Zufall; aber da sie Geistesgegenwart genug hatte, so ließ sie sich von ihrer Angst Nichts merken, sondern bat nur den Herrn, ihr zu erlauben, daß sie ihre Verwandten besuchen dürfe. Dieser sagte, er wolle sie mit sich nehmen, doch müßte sie sich wieder die Augen verbinden laßen, und so ward ein Tuch um ihre Augen geschlagen. Sie stieg wieder hinter ihren Herrn aufs Pferd, und kam bald bei ihrem Hause an. Sie blieb ganz ruhig da und nahm sich wol in Acht, zu dem verzauberten Schloße zurückzukehren. – Aber viele Jahre nachher, da sie auf einem Markte war, sah sie einen Mann Etwas aus[108] einer Krämerbude stehlen und mit dem einen Winkel ihres Auges erkannte sie ihren alten Herrn. Unvorsichtig rief sie aus: »Wie geht's Herr? Was machen die Kinder?« Da sagte er: »Wie kannst du mich sehn?« Sie antwortete: »Mit dem Winkel meines linken Auges!«

Von dem Augenblick an war sie blind auf ihrem linken Auge, und blieb es ihr Lebelang. –

Quelle:
Rodenberg, Julius: Ein Herbst in Wales. Land und Leute, Märchen und Lieder. Hannover: Rümpler, 1857, S. 107-109.
Lizenz:
Kategorien: