Die Eule von Cwm Cowlwyd.

[162] Cwm Cowlwyd ist eine tiefe und finstre, von Klippen hoch umragte Thalschlucht in Nordwales, woselbst einst die alte Eule gewohnt haben soll, von der folgende Geschichte erzählt wird.

Der Adler von Gwernabwy war lange Zeit mit seinem Weib verheirathet gewesen und hatte viele Kinder[162] von ihr. Da starb sie und er blieb lange Wittwer. Endlich jedoch beschloß er sich mit der Eule von Cwm Cowlwyd zu verheirathen. Aber da er fürchtete, daß sie zu jung sein und er, zum Schaden seiner eignen zahlreichen Familie, noch Kinder von ihr bekommen möchte, so gieng er, um sich bei den Aeltesten auf der ganzen Welt nach ihrem Alter zu erkundigen. Demgemäß wandte er sich zuerst an den Hirsch von Rhedynfra, fand ihn am Stumpf einer alten Eiche liegen, und fragte ihn, ob er das Alter der Eule wiße?

»Diese Eiche«, sagte der Hirsch, »die nun vor Alter zusammengefault ist, und ohne Rinde und Laub daliegt, obwol sie niemals Schaden oder Verletzung gelitten hat, außer daß ich mich eines Tags einmal gegen sie gerieben habe: diese Eiche habe ich schon als Eichel gekannt; doch ich erinnere mich nicht, die Eule, von der du sprichst, jünger oder älter gesehn zu haben, als sie auf diesen Tag zu sein scheint. Aber da ist noch ein älterer, als ich bin, und das ist der Lachs von Glynliffon.«

Da wandte sich der Adler an den Lachs wegen des Alters der Eule. Der Lachs antwortete: »Ich bin so viele Jahre alt, als Schuppen auf meiner Haut sind und Laichkörnchen in meinem Leibe. Doch nie sah ich die Eule, von der du sprichst, anders, als sie jetzt ist. Aber da ist noch ein älterer, als ich bin, und das ist die Amsel von Cilywri.«

Der Adler begab sich darauf zu der Amsel von Cilywri; er fand sie auf einem kleinen Steine sitzend und fragte sie nach dem Alter der Eule.[163]

»Siehst du«, sagte die Amsel, »den Stein, auf welchem ich sitze? Er ist nicht dicker, als ein Mann ihn in die Hand nehmen kann. Diesen Stein habe ich gesehn, als er so schwer war, daß hundert Ochsen an ihm zu ziehn hatten, und er hat weder durch Reiben noch Schleifen gelitten. Nur einmal an jedem Abend hab' ich meinen Schnabel an ihm gewetzt und einmal an jedem Morgen, ehe ich ausflog, die Spitze meines Flügels an ihm gestrichen. Doch die Eule hab' ich nicht älter noch jünger gesehn, als sie heut zu sein scheint. Aber da ist noch ein älterer als ich bin, und das ist der Frosch von Mochno-Bog. Und wenn der ihr Alter nicht weiß, so lebt kein Geschöpf, das es weiß.«

Da gieng der Adler zuletzt zu dem Frosch und wünschte das Alter der Eule zu wißen.

Der Frosch antwortete: »Ich genoß niemals etwas Andres als das Gewürm des Bodens, auf dem ich wohne, und auch das sehr sparsam. Und siehst Du die großen Hügel, welche den Sumpf, wo ich liege, umgeben und überragen? Sie sind nur von dem entstanden, was mein Körper auswirft, wenn ich verdaut habe. Aber ich kann mich nicht erinnern, die Eule jemals anders gesehn zu haben, als ein altes Scheusal, das mit seinem gräßlichen Geschrei: Tu! hu, hu! die Kinder der ganzen Nachbarschaft in Furcht und Schrecken setzt.«

Da ist der Adler von Gwernabwy zu der Eule von Cwm Cowlwyd gegangen und hat sie geheirathet.

Quelle:
Rodenberg, Julius: Ein Herbst in Wales. Land und Leute, Märchen und Lieder. Hannover: Rümpler, 1857, S. 162-164.
Lizenz:
Kategorien: