Die Thräne.

[138] (Nach einem Volkslied.)


Kaum fühlt das Kind des Lebens ersten Hauch,

Trübt eine Thräne schon sein zartes Aug'.

Mit Freudenthränen jedoch aufwärts blickt

Die Mutter, die ihr Kind ans Herze drückt.

Und zieht der Jüngling in die Welt hinaus,

Mit Thränen nur verläßt er's Vaterhaus.

Dem Wandrer, dem von fern die Heimat winkt,

Die Freudenthräne hell im Auge blinkt.


Und wenn die Thräne fließt in Freud und Schmerz,

Kann man noch zählen auf ein gutes Herz. – –

Doch ein Gefühl den Jüngling bald durchweht,

Daß er der Jungfrau seine Lieb' gesteht.

Stumm lauscht die Maid, und über Wangenglut

Spricht eine Thräne: »Ja, ich bin Dir gut!«

Wie glücklich schaut am Hochzeitstag die Braut,

Wenn eine Thrän' in ihrem Auge taut!


Und drücken Kummer, Leid des Menschen Herz,

So lindern heiße Thränen seinen Schmerz.

Und von den Wangen perlen sie herab,

Steht man bewegt an eines Teuren Grab.

O ehr' die treuen Thränen immerzu,

Denn noch zuletzt, wenn geht der Greis zur Ruh,

Sieht man in seinem Aug' die Thräne stehn,

Sie spricht ganz laut: »Lebt wohl! Auf Wiedersehn!«


15. Februar, 1883.

Erakegli.

Quelle:
Warker, N.: Wintergrün. Sagen, Geschichten, Legenden und Märchen aus der Provinz Luxemburg. Arlon: Willems, 1889/90, S. 138-139.
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