29. Hondelingen.

[61] (Zweite Sage.)


1. Einer andren Überlieferung zufolge stand das Schloß Rosenbur auf einer Anhöhe. Nach der Geburt der sieben Knäblein ging die Edelfrau, als sie wieder das Schloß verlassen konnte, zu einer alten Zauberin, die in einem benachbarten Dorfe wohnte, teilte derselben ihre Befürchtungen vor ihrem Gatten mit und fragte schließlich, was sie in dieser Angelegenheit zu thun habe. Die Hexe bat um Bedenkzeit und ersuchte die Gräfin, nach vier Tagen zurückzukommen. Nach Ablauf dieser Frist erklärte sie der Edelfrau, sechs von den neugeborenen Knäblein müßten wie Hündlein ertränkt werden. Die Mutter erschrak, als sie das alte Weib so reden hörte. Da sie sich aber ins Unvermeidliche fügen mußte, so kehrte sie betrübt nach Haus und ließ einen ihrer Jäger kommen. Diesem zeigte sie die sechs dem Tode geweihten Knäblein und teilte ihm mit, was die böse Hexe gesagt hatte. Der Jäger schauderte anfangs vor dem Verbrechen zurück; doch schließlich wickelte er, durch die Bitten und Geschenke seiner Herrin bethört, die sechs Würmchen in seinen Rock und versprach bei seinem Fortgehen, dieselben wie Hündlein ins Wasser zu werfen.

Unterwegs bekam der Mann Mitleid mit den armen Kinderchen, und, anstatt dieselben zu ertränken, trug er sie nach Haus und erzog sie als seine eigene Nachkommenschaft sieben Jahre lang.

Inzwischen war der Edelmann aus dem Kriege zurückgekehrt und hatte über kurz oder lang vernommen,[61] was sich in seiner Abwesenheit zugetragen hatte. Großmütig verzieh er seiner Gattin und ließ die sechs Knäblein sofort aufs Schloß kommen. Den braven Jägersmann aber beschenkte er reichlich, weil derselbe sich der armen Kleinen erbarmt hatte. Seit jener Zeit führten Burg und Dorf den Namen Hondelingen.

2. Einigen andren Mitteilungen zufolge hatte die Herrin von Hondelingen eine Frau, welche viel in der Burg zu thun hatte, beauftragt, die sechs Knäblein zu ertränken. Anstatt den erhaltenen Auftrag auszuführen, brachte die Frau die Kinderchen in ihr Haus und erzog dieselben heimlich als ihre eignen. Später, als der Knabe, welchen die Gräfin auf dem Schlosse behalten, seine erste heil. Kommunion machen sollte, ließ die gute Frau die sechs andren gerade wie ihren Bruder kleiden und brachte sie aufs Schloß, wo sie dem inzwischen aus dem Kreuzzug zurückgekehrten Grafen den ganzen Hergang erzählte. Der Graf war sehr froh, eine so zahlreiche Nachkommenschaft zu haben; er verzieh seiner Gattin und gab der edelmütigen Frau, welche die Kleinen vor dem Tode bewahrt und weder Mühe noch Opfer und Entbehrung für deren Erziehung gescheut hatte, eine glänzende Belohnung.

Quelle:
Warker, N.: Wintergrün. Sagen, Geschichten, Legenden und Märchen aus der Provinz Luxemburg. Arlon: Willems, 1889/90, S. 61-62.
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