12. »Du magst schlecht oder gut, reich oder arm sein, ohne nachbarn kannst du nicht leben!«

[81] Es war einmal ein mann, der sehr reich war, seine nachbarn aber waren arm. Dieser mann soll seine nachbarn nicht bewirtet, nicht verpflegt haben, weil die nachbarn arm waren; er soll immer mit fremden, reichen leuten gespeist und getrunken haben. Während sie nun (einmal) assen und tranken, soll einer von den gästen gesagt haben: »Du magst schlecht oder gut, reich oder arm sein, ohne nachbarn kannst du nicht leben!« Infolge dieser worte seines gastes wollte er wissen, ob solche reden wahr sein könnten,[82] und machte also: er schaffte sich ein grosses fass met an, legte es in den raum unter der diele, lud seine schmausfreunde ein, bewirtete und verpflegte sie reichlich und sagte: »Wohlan – jetzt wollen wir essen und trinken! Es steht schlecht um mich; was ist damit zu machen?« Erschrocken fragten die gäste: »Was giebt es denn?« »Im raume unter der diele ist ein toter mensch; was soll man nun mit ihm machen?« fragte er. Erschrocken sagte der eine wie der andere von den gästen: »Was geht diese sache uns an? Du hast ja nachbarn; deine nachbarn können für solche sachen rat schaffen!« und sie gingen alle, einer nach dem andern, weg.

Nachdem diese gäste weggegangen waren, lud er alle seine nachbarn ein und sagte: »Nun, meine nachbarn! Was sollen wir jetzt thun? Es steht schlecht um mich: ich habe hier im raume unter der diele einen toten menschen. Was soll man mit ihm machen?« Die nachbarn sagten: »Oh! Das ist eine schlimme sache! Es ist nicht gut, ihn (den toten menschen) hier zu halten. Man muss ihn fortschaffen!« »Schafft ihr ihn denn fort?« fragte er. »Warum sollten wir ihn nicht fortschaffen! Was? Sollten wir denn unsern nachbar im stich lassen!« sagten sie. Darauf holte der reiche mann ein tau herein, öffnete die diele, ging selbst unter die diele hinab und sagte: »Lasst das tau herunter, ich werde es anbinden; holt von oben (das tau) ein!« Er band (das tau) an das metfass an und hiess (die nachbarn) einholen. Mit mühe holten sie ein und brachten das metfass heraus, in dem glauben, dass es der tote mensch sei. Nachdem sie (das metfass) herausgebracht hatten, bewirtete und verpflegte sie der reiche mann mit dem met und sagte: »Nun, meine nachbarn! Man sagte mir: ›du magst schlecht oder gut, reich oder arm sein, ohne nachbarn kannst du nicht leben!‹, und das ist wahr«, und er erklärte ihnen ausführlich sein vorgehen in dieser sache.

Quelle:
Wichmann, Yrjö: Wotjakische Sprachproben, 2.: Sprichwörter, Rätsel, Märchen, Sagen und Erzählungen, Helsingfors: 1893/1901, S. 81-83.
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