Heuchelei

[89] Heuchelei – Nicht das Ergebnis einer Untersuchung, nur eine Aufgabe: die Herkunft der ungeheuren Ausbreitung der Heuchelei in unseren Sitten und in unseren Sprachen zu erklären. Das deutsche Wort heucheln ist in der Schriftsprache neu, offenbar ursprünglich von ducken und kriechen (hauchen) des Tieres hergenommen, das wie kein andres vom Menschen erzogen worden ist: vom Hunde. Bis zum 16. Jahrhundert[89] war es der Schriftsprache fremd: dann von Luther häufig im Sinne von Fuchsschwänzen gebraucht. Wurde seit Stieler, auch von Kant, auf hauchen zurückgeführt, aber irrtümlich auf hauchen, anhelare, nicht auf das mundartliche hauchen, hucken, hocken, sich ducken. Das Altertum kannte natürlich die Lüge; sie wurde nicht einmal tragisch genommen. Für Heuchelei aber hatten die Griechen kein besondres Wort; hypokrisis war ursprünglich Antwort, dann die Kunst des Schauspielers, Deklamation, Komödienspielen überhaupt, und so die Kunst, in einer fremden Rolle aufzutreten; erst spätere Schriftsteller verstanden unter hypokrisis, was man jetzt Heuchelei nennt. In gutem Latein bezog sich hypocrisis und hypocrita nur auf Schauspielkunst; erst die Vulgata nennt einen Heuchler hypocrita.

Worauf es mir aber ankommt, ist die Tatsache, daß das Altertum und das Mittelalter nicht die Gewohnheit kannte, die bei uns eigentlich zu den Tugenden gerechnet wird, auf dem ganzen Gebiete der letzten Fragen dauernd und fast ohne Absicht der Lüge, eine fremde Rolle zu spielen. Wer die hergebrachte Weltanschauung, das Verhältnis zu Gott und zu den Staatsautoritäten durch ein unherdenmäßiges ehrliches Wort verletzt, der scheint tadelnswert, verstößt gegen die respectability, gegen die Höflichkeit des Herzens oder wie immer man Heuchelei umschreiben mag. Es ist wirklich so weit gekommen, daß die Bezeichnung ein guter Mensch nicht verdient, wer nicht regelmäßig heuchelt, so wie er regelmäßig saubere Kleider trägt. Und ohne böse Absieht der Gelehrten ist diese weltbeherrschende Heuchelei langsam auch in die Wissenschaft hinübergeglitten, wenigstens in alle Zweige der Geschichtswissenschaft. Man kann keine Biographie mehr lesen, in der der Held nicht wie ein Gott oder wie ein König umschmeichelt und umheuchelt wird. Wer menschlich schwache Züge an Luther, an Lessing, an Bismarck – ich nenne Männer meiner leidenschaftlichsten Liebe – nicht zu beschönigen und zu bewedeln vermag, der besitzt in unsrer Zeit keinen Herzenstakt. Offiziös ist die Sprache unsrer Könige und unsrer Minister,[90] unsrer Pfaffen, besonders der protestantischen und unsrer Journalisten; offiziös ist unsre Geschichtsschreibung, von den klassischen Werken herunter bis zum Nekrolog. Nil nisi bene, natürlich nicht nur de mortuis. Der Bedeutungswandel des Wortes officiosus vollzog sich freilich schon im Lateinischen; officium war Pflicht, pflichtmäßige Handlung, Amtsgeschäft; aber officium konnte schon bei klassischen Schriftstellern Beischlaf heißen, und officiosus wurde bald dienstbeflissen, zuvorkommend, gefällig, bis es bei uns unmerklich in den Sinn von liebedienerisch, also doch wohl pflichtwidrig hineinrutschte. Von Staat und Kirche reden wir fast nicht anders als offiziös, heuchlerisch; ebenso von den schwierigsten Aufgaben des Rechts und der Moral. Die neue Bedeutung hat sich im Französischen ausgebildet, wo office über die Bedeutungen des lat. officium hinaus auch für Dienst im Sinne von Gefälligkeit (besonders bons offices) viel gebraucht wurde, so daß officieux fast gleichbedeutend wurde mit obligeant. Die Unterscheidung zwischen presse officielle und presse officieuse, die ebenfalls zuerst in Frankreich aufkam, scheint mir ursprünglich ein Scherz gewesen zu sein. Caillères erklärt: le mot d'office en ce sens (de service) a fait celui d'officieux qui est fort bon; c'est un homme officieux pour dire un homme qui aime à faire plaisir. Mensonge officieux, eine Lüge, mit der man dem andern nur ein Vergnügen machen will; worüber Rousseau: ce qu'on appelle mensonges officieux sont de vrais mensonges.

Ich kann es nicht belegen, und es wäre auch nur durch Bände von Auszügen zu belegen, daß die Sitte der Heuchelei oder Offiziosität zeitlich ungefähr zugleich mit der großen Lüge aufkam, die die Renaissance heißt. Die abendländische Welt hatte ihren eigenen Stil verloren und borgte sich einen Stil und seine Sprache aus dem Altertum. Die alte Kirche und der um die gleiche Zeit neubegriffene Staat gewöhnten sich daran, in einer unpassenden, in einer toten Sprache zu reden. Fürsten und Päpste der neuen Zeit gebrauchten anstatt des lebendigen Mönchslateins die abgegriffenen Phrasen des schönen toten Lateins und fühlten es lange nicht, daß kein[91] Wort mehr ehrlich war, weil kein Wort mehr paßte. Und als die Nationalsprachen aufkamen, wurde die ganze Heuchelei der Gelehrtenspradne in die Nationalsprachen übersetzt, getreuer in die romanischen Sprachen, plump und schwerfällig in die germanischen und slawischen. Im Deutschen wurde damals das Bild des Heuchlers vom Hunde hergenommen, der die Sache, das Hauchen und Kriechen und Sich-ducken, vom Menschen erst gelernt hat.

Quelle:
Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philosophie. Leipzig 21923, Band 2, S. 89-92.
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