Chor- und geistliche Kompositionen.

[75] Schumanns Chorkompositionen wurden zum grössten Theile durch seine Dresdener Dirigententhätigkeit angeregt. Sie fallen somit Alle in eine Zeit, in der die Neigung zum Volksmässigen einerseits und zum Balladenhaften, dramatisch Zugespitzten andererseits sich immer stärker geltend machte. Die volksmässig gehaltenen, wie z.B. das »Hochlandsmädchen«, das »Jägerlied«, haben die meiste Beliebtheit erlangt. In den Dichtungen dominirt R. Burns. Was die musikalische Behandlung betrifft, so ergiebt sich aus dem ganzen Charakter dieser Stücke, dass von wirklicher Polyphonie darin keine Rede sein kann. Hier und da finden sich imitatorische Ansätze, auch die bei Schumann so beliebte kanonische Behandlung tritt einmal auf (op. 69, Nr. 6). Im Uebrigen aber wahren alle diese Stücke den schlichten Charakter des Volkstones. Dagegen zeigt eine andere Reihe, die »Romanzen und Balladen« (op. 67, 75, 145, 146), deutlich die Absicht dramatischer Charakteristik. Das verhaltene Streben nach wirklich dramatischen Leistungen, das Schumann in seiner letzten Periode nicht mehr losliess, spiegelt sich auch in diesen Werken wieder. Es zeitigte allerhand wunderliche Gedanken, so die Komposition von R. Burns' »Zahnweh« und der »Romanze vom Gänsebuben« und aparte Instrumentaleffekte, »so zum Beispiel in der Begleitung von Uhlands ›Schifflein‹ (Flöte und Horn).« Von den Chören patriotischen Inhalts war schon die Rede; ein Gegenstück dazu bilden die »Drei Gesänge für Männerchor« (op. 62).[76]

Eine Ausnahmestellung unter all diesen Stücken nehmen die Ritornelle op. 65 ein. Sie sind allesamt kanonisch gehalten und beweisen aufs Neue, welche Lebenskraft dieser Form in der modernen Kunst innewohnt. Schumanns geübter Hand ist es hier gelungen, der Komposition für Männergesang, die nur allzuleicht dem Fluch der Eintönigkeit verfällt, ein neues belebendes Element zuzuführen und neue, überraschende Wirkungen hervorzurufen. Die hier gegebene Anregung ist leider noch viel zu wenig ausgebeutet worden, und auch die Männerchöre selbst, die hierin nicht allein bedeutende Musikstücke, sondern auch ein vorzügliches Studienwerk besitzen, haben diesen Ritornellen noch nicht die gebührende Beachtung geschenkt.

An die eben besprochenen Werke schliesst sich eine Reihe von Chorkompositionen an, welche die Brücke zu seinen geistlichen Kompositionen bilden. Das schönste unter ihnen, ein Meisterwerk in kleinem Rahmen, ist das »Requiem für Mignon«, op. 98b, für Soli, Chor und Orchester. Goethe verlangt für das Andenken Mignon's einen »holden Gesang«. Schumann, der Meister kindlichen Ausdrucks, der Herzenskündiger des jungfräulichen Lebens, war vor Allen dazu berufen, diese Forderung zu erfüllen. Er giebt uns keine Trauermusik grossen Stiles; seine Musik, von zartester Empfindung durchtränkt, ist eine sanfte Totenklage um die Dahingeschiedene, sie zeigt uns zugleich Goethes Idealgestalt im Lichte holder Verklärung. Der elegische Grundcharakter wird trotz leiser dramatischer Zuthaten und trotz der bis zum Schlusse anhaltenden Steigerung beibehalten, und so gehört dieses Werk, das freilich den Pomp der Konzertsäle nun und nimmer verträgt, zu Schumanns einheitlichsten und glücklichsten Tonschöpfungen.

Es ist bezeichnend für Schumanns rastlosen Schaffensdrang, der ihn dazu trieb, nach und nach alle Gebiete des musikalischen Schaffens zu erobern, dass er am Schlusse seiner Thätigkeit sich auch noch der geistlichen Musik zuwandte. Es war ihm trotz aller Anstrengungen nicht beschieden, mit seinen Werken auf diesem Gebiete aus dem Schatten seiner übrigen Meisterwerke herauszutreten. Der ihm eigenthümliche Stil, der seine schönsten Blüthen auf dem Gebiet kleinerer Formen zeitigte, erwies sich dem hohen Kothurn der geistlichen Musik gegenüber als unzulänglich, so sehr sich auch seine Neigung zu Schwärmerei und Mystik gerade zur Komposition des katholischen Messtextes hingezogen fühlen mochte.123 Charakteristisch ist übrigens, dass er sich zuerst an geistlichen Liedern zeitgenössischer Dichter versuchte. Es gehören hierher die Motette »Verzweifle nicht« von Rückert (op. 93) für doppelten Männerchor, der er später noch eine Orgelbegleitung hinzufügte, ferner desselben Dichters »Adventlied« (op. 71) für Solo, Chor und Orchester und »Neujahrslied« (op. 144) für Chor und Orchester.

Die Messe (op. 147) und das Requiem (op. 148) sind, obwohl durch das katholische Düsseldorf angeregt, doch nicht zur eigentlichen liturgischen Benützung bestimmt gewesen, wie aus ihrer der Messhandlung zuwiderlaufenden Form hervorgeht. Der Schwerpunkt beider Werke liegt der Natur der Sache gemäss in den Chorpartieen, mithin auf einem Gebiete, das nie Schumanns besondere Stärke gewesen. Trotzdem enthält namentlich die Messe so manche schöne und ergreifende Partien, um derentwillen das Ganze wohl öfter aufgeführt zu werden verdiente, als thatsächlich der Fall ist. Die Todtenmesse dagegen steht, mit einziger Ausnahme des Dies irae, an künstlerischem Werthe bedeutend zurück.

Quelle:
Abert, Hermann: Robert Schumann. Berlin 1903, S. 75-77.
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