Chorballaden

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Chorballaden.

»Das Paradies und die Peri« ist nicht nur für Schumanns Entwicklung, sondern auch für die Entwicklung der neueren Kunst im Allgemeinen von hohem Interesse. Inhaltlich durch die Einführung der orientalischen Wunderwelt in den Stoffkreis des Oratoriums, formell durch die Verquickung der letzteren Kunstform mit balladischen Elementen.

In ersterer Hinsicht that Schumann auf dem Gebiet des Oratoriums einen ähnlichen Schritt wie Weber mit seinem »Oberon« auf dem Gebiete der Oper. Mit Mendelssohns »Walpurgisnacht« hatte sich allerdings auch schon vordem die Romantik dieser Kunstform bemächtigt; Schumann führt uns aus dem nordischen Zauberspuk hinweg in die flimmernde Märchenpracht Indiens. Wiederum ist es eine weibliche Seele, deren Herzensschicksale uns der auf diesem Gebiete unübertroffene Meister offenbart, und manches in dem Werke klingt wie ein potenzirtes Weiterspinnen des Gefühlskreises von »Frauenliebe und Leben«. Die Irrfahrten der Tochter der Lüfte, die nach mancherlei vergeblichen Versuchen »des Himmels liebste Gabe«, nämlich die Reuethräne des Sünders und damit die Wiederkehr in das Paradies erlangt, boten dem Tondichter Gelegenheit zur Entfaltung seiner bedeutendsten Vorzüge, der Innigkeit und Wahrheit des Ausdruckes und der meisterhaften Zeichnung des zauberischen romantischen Kolorits. Schumann hat über dieses Werk, das er selbst für sein bestes erklärte, eine solche Fülle echter musikalischer Poesie ausgegossen, dass der Hörer ganz unvermerkt über die in der Textbearbeitung versteckten Mängel hinweggleitet. Der fühlbarste davon ist das mehrfach wiederholte Motiv der Rückkehr nach den Pforten des Paradieses und der zweimaligen Abweisung, das im dritten Theile ein gewisses Erlahmen der Handlung nach sich zieht.

Die »Peri« gehört an und für sich zu den Oratorien, weist aber daneben deutliche Merkmale der Balladenkomposition auf. Dies zeigt sich namentlich in der Behandlung der erzählenden Partieen, die in dem Werke einen besonders[78] breiten Raum einnehmen. Schumann lässt sie bald vom Chor, bald von Solostimmen ausführen; er hatte die Empfindung, dass die Person eines einzigen Erzählers die Gefahr der Monotonie heraufbeschwöre. Aber auch die Erzählung selbst läuft nicht mehr in den Bahnen des alten Recitativs, sondern nähert sich mehr oder minder dem Ariösen, mit der Tendenz, die Textworte musikalisch genau zu illustriren. Nun kamen gerade in diesem Werke die erzählenden Abschnitte der musikalischen Behandlung ganz besonders entgegen. Schumann hat hier denn auch Tongebilde geschaffen, die zu den Glanzstücken des Ganzen gehören und zum grossen Theile die Chöre an Werth merklich übertreffen. Fraglich ist nur, ob sich dieses Prinzip auch als allgemein wirksam erweist. Die Gefahr liegt allzu nahe, dass diese erzählend-lyrischen Abschnitte die Wirkung der eigentlichen lyrischen Höhepunkte abschwächen und so den Gesammteindruck abspannender Monotonie hervorrufen.

Bei Schumann ist dies, wie bemerkt, nicht der Fall. Die Sologesänge der »Peri« gehören zu den schönsten Blüthen seiner Lyrik; auf ihnen hauptsächlich und dem überaus sorgfältig und reizvoll bedachten Orchester beruht die Wirkung des Ganzen, während die Chorsätze mehr zurücktreten. So erscheint das Ganze gewissermassen als eine Steigerung der Liedercyklen. Die Darstellungsmittel sind erweitert, das Orchester ist an die Stelle des Klaviers getreten, aber die Empfindungssphäre ist dieselbe geblieben, ja da und dort noch mehr verinnerlicht. Bei der Komposition des Werkes hörte Schumann eine innere Stimme sich zuflüstern: »dies ist nicht ganz umsonst, was du thust.«124 Die Zeit hat ihm Recht gegeben. Auch heute noch erweist die zarte Tochter des Paradieses, wo immer sie sich auf Erden niederlässt, ihre alte Wunderkraft, alle unbefangenen Herzen erhebend und beglückend.

Eine ins »Dörfliche, Deutsche« gezogene125 Nachfolgerin der »Peri« ist »Der Rose Pilgerfahrt«. Die genannten Ausdrücke Schumanns beziehen sich[79] nur auf das äussere Milieu der Handlung. Seinen Charakter nach streift das Werk, weit entfernt von bäuerlicher Derbheit, öfters stark die Sphäre des Weichlichen und Ueberempfindsamen. Der Text stammte von M. Horn, der jedoch von Schumann selbst eingehende Instruktionen erhielt; man kann nicht sagen, das beide damit eine besonders glückliche Hand bewiesen hätten. Der Stoff ist durchaus idyllisch und Schumann hatte demzufolge auch ganz richtig anfänglich bloss das Klavier zur Begleitung herangezogen. Erst später folgte auf Drängen seiner Freunde die Orchestrirung, die den bescheidenen Stoff nun plötzlich zur Haupt- und Staatsaktion erhob. Die Musik an sich ist glücklich erfunden und giebt den Stimmungsausdruck vollständig wieder; es sei hier nur an den einleitenden Frühlingsgesang und an den Trauerchor erinnert.

Schumanns Stellung zur Ballade im Allgemeinen ist nicht leicht zu präcisiren. Balladen im Sinne Carl Löwes hat er nur wenige geschrieben, wie z.B. die »Löwenbraut« und »Die beiden Grenadiere«; in den übrigen als »Balladen« bezeichneten Kompositionen der früheren Zeit bringt er die verschiedenartigsten Formen zur Anwendung. Ein bestimmtes Streben, eine neue Form zu schaffen, findet sich erst mit dem »Königssohn«. Die Anregung dazu hatte Schumann bei der Komposition der Peri erhalten; es handelte sich bei allen diesen Stücken (»Königssohn«, »Des Sängers Fluch«, »Vom Pagen und der Königstochter«, »Das Glück von Edenhall«), die von ihren Dichtern Uhland und Geibel als »Balladen« bezeichnet waren, darum, die knappe Form der Dichtung dergestalt zu erweitern, dass sie, halb Balladen, halb Oratorien, unter Aufbietung grösserer Mittel vor ein grosses Konzert-Publikum gebracht werden konnten. Die ursprüngliche Fassung musste sich zu diesem Zwecke Aenderungen, Verstümmelungen, Zusätze gefallen lassen, eine Methode, die, trotzdem sie viel Widerspruch erregt hat, einwandfrei ist, sobald durch die Umänderung ein wirkliches Kunstwerk entsteht. Allein Schumann verlor bei diesen Anfangsversuchen auf einem neuen Gebiete, bei denen ihm nicht, wie bei der »Peri«, der Text zu Hilfe kam, bald den Boden unter den Füssen. Das Ideal, zu dem es ihn in jenen letzten Jahren immer und immer wieder hinzog, war ein anderes als die Chorballade. »Das Ganze scheint mir von grosser dramatischer Wirkung«, so schreibt er bezüglich des »Sängers Fluch« an R. Pohl;126 es scheint, als ob den unermüdlich nach neuen dramatischen Lorbeeren strebenden Künstler diese Sehnsucht an seinem Lebensabend mit erneuter Stärke heimgesucht hätte, als ob er diese Balladen als Anweisungen auf eine spätere grössere dramatische That betrachtete – spähte er doch gerade in jenen Jahren unablässig nach einem neuen Operntext aus.

Eine weitere Gruppe in Schumanns Balladenkomposition bilden die drei melodramatischen Stücke: »Schön Hedwig« (von Hebbel, op. 106), » Vom Haideknaben« und »Die Flüchtlinge« (von Shelley, op. 122). Hier verzichtete er auf musikalische Deklamation überhaupt und vertraute den ganzen Stimmungsgehalt der Dichtung dem Klavier an, wie denn überhaupt in jenen letzten müden Wochen des Jahres 1853 das Instrument, das den Jüngling dereinst zu den Höhen des Ruhmes getragen, sich wieder häufig in seinen Kompositionen einstellt.[80]

Quelle:
Abert, Hermann: Robert Schumann. Berlin 1903, S. 77-81.
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