Das Requiem

[699] Die nächste Sorge der Witwe war das unvollendet gebliebene Requiem (K.-V. 626, S. XXIV. 1 nach J. Brahms' Revision)1. In der Besorgnis, der unbekannte Besteller könnte die Annahme des unfertigen Werkes verweigern und das bereits gezahlte Honorar zurückfordern, kam sie mit ihren Ratgebern auf den Gedanken, das Vorliegende ergänzen zu lassen und so den Besteller zu befriedigen. Zuerst wurde Jos. Eybler damit beauftragt2. Er begann auch damit, in Mozarts Handschrift bis zum »Confutatis« die Instrumentation zu vervollständigen und führte das »Lacrimosa« um zwei Takte weiter3, dann gab er die bedenkliche Arbeit auf. Nach ihm sollen sie[700] noch verschiedene Musiker abgelehnt haben, bis sie schließlich an Süßmayer kam. Er war in der letzten Zeit Mozarts Schüler in der Komposition gewesen, hatte ihn schon beim »Titus« unterstützt4 und dann auch die jeweils fertigen Stücke des Requiems mit ihm durchgenommen. Er war von dem Meister genau in den Gang des Werkes, namentlich was die Instrumentation anlangte, eingeweiht worden5, so daß er bei Mozarts bekannter Arbeitsweise wohl ein Bild von dessen Absichten gewinnen konnte, soweit das überhaupt möglich war.

Der Tatbestand, den er vorfand, war folgender. In Mozarts Partitur lagen die beiden ersten Sätze, »Requiem« und »Kyrie«, vollständig fertig vor6. Vom »Dies irae« dagegen waren nach gewohnter Art nur die Singstimmen mit dem mitunter bezifferten Baß völlig ausgeschrieben, von den Instrumenten aber in den Vor- und Zwischenspielen und an sonstigen charakteristischen Stellen nur die Motive angedeutet, als Merkzeichen für die spätere Ausführung. Mit den Worten des »Lacrimosa«:


qua resurget ex favilla

judicandus homo reus


hörte die Komposition überhaupt auf. Vom Offertorium lagen die beiden Sätze »Domine Jesu Christe« und »Hostias« im vollständigen Partiturentwurf in derselben Weise von Mozart beendigt vor. »Sanctus«, »Benedictus« und »Agnus Dei« fehlten dagegen vollständig.

Bei der Behandlung der Echtheitsfrage ist man nun von jeher fast ausschließlich von dem Befund dieser Originalpartitur ausgegangen. Es ist aber doch sehr die Frage, ob dem Bearbeiter nicht noch andere Quellen vorlagen, sei es, daß ihm Mozart noch manches vorspielte oder sonst mitteilte, zu dessen Niederschrift er dann nicht mehr kam, sei es in Form loser Skizzen. So fanden sich nach Konstanzes Mitteilung an Stad ler7 auf Mozarts Schreibpulte nach seinem Tode »einige wenige Zettelchen mit Musik« vor, die sie, ohne ihren Inhalt zu kennen, Süßmayer übergab. Auch jener Bericht Schacks von dem Vortrag des Requiems durch Mozart und seine Freunde setzt doch wohl das Vorhandensein ausgeschriebener Stimmen und eigentlich auch die Fertigstellung des »Lacrimosa« in Gesangsstimmen und Generalbaßstimme voraus8. Wird sich auch über alle diese Dinge wegen des[701] Fehlens bestimmter äußerer Zeugnisse niemals ein völlig sicheres Ergebnis erzielen lassen, so wird doch von einer stilkritischen Untersuchung noch manches zu erwarten sein, und sei es auch nur die Erkenntnis, daß die bisherige Methode, die sich allein auf den Zustand der Originalpartitur und die Mitteilungen Süßmayers stützt, die Frage keinesfalls befriedigend zu lösen imstande ist.

Zunächst kopierte Süßmayer die vorliegende Handschrift Mozarts, »damit nicht zweierlei Handschriften ineinander wären«9, und trug dann in seine Kopie die fehlende Instrumentation so ein, wie es seiner Meinung nach Mozarts Absichten am besten entsprach10. Den Schluß des »Lacrimosa« (von »judicandus homo reus« an), das »Sanctus«, »Benedictus« und »Agnus Dei« hat er nach seiner Angabe11 »ganz neu verfertigt« und nur, »um dem Werk mehr Einförmigkeit zu geben«, die Fuge des »Kyrie« bei dem Verse »cum sanctis« etc. wiederholt.

Das Ganze wurde, die beiden ersten Sätze in Mozarts Original, die übrigen in Süßmayers Handschrift, dem Besteller übergeben12. Tatsächlich war Süßmayers Handschrift der Mozartschen so ähnlich, daß nicht nur der Besteller, sondern auch verschiedene spätere Beurteiler glaubten, Mozarts Originalpartitur vor sich zu haben13, bis Mozarts Witwe auf eine an sie gestellte Anfrage am 10. Febr. 1839 den Sachverhalt richtigstellte. Kleinere Abweichungen beider Handschriften waren schon vorher entdeckt worden; jetzt konnte kein Zweifel mehr darüber bestehen, daß Süßmayer die Partitur vom »Dies irae« an geschrieben hatte; sie hat auch eine mit Fol. 1 beginnende Foliierung erhalten, die mit dem »Sanctus« von neuem anfängt14.

Konstanze lag viel daran, daß das Requiem zunächst als von Mozart vollendet gelte. So erklärte auch Rochlitz, der sich von ihr 1796 in Leipzig über die Entstehungsgeschichte Rats erholte, Mozart habe es noch vor[702] seinem Tode vollendet15. Auf die Dauer ließ sich das Geheimnis allerdings nicht wahren. Als das Requiem 1792 nach einer von Konstanze zurückbehaltenen Kopie durch van Swieten im Jahnschen Saale in Wien aufgeführt wurde, wußten die Mitwirkenden bereits, was von Mozart und was von Süßmayer herrührte16. Dasselbe war in München17 und Prag der Fall, wo man bei der ersten Aufführung, die bald nach Mozarts Tode nach einer Wiener Abschrift geschah, die Sätze vom »Sanctus« an als Süßmayers Werk kannte18. Konstanze überreichte einzelne Kopien vornehmen Herren19 und gestattete, daß auch andere sich Abschriften nahmen20. Auch J.A. Hiller schrieb sich die Partitur ab, mit dem Zusatz auf dem Titel: »Opus summum viri summi« und führte das Werk auf21, ohne daß dabei die Rede davon gewesen wäre, daß es nicht ganz von Mozart sei. Konstanze wünschte nun aber das Requiem, das sehr bald das begehrteste Stück seiner Gattung wurde, auch zu ihrem Vorteil zu veröffentlichen und dachte, da der Besteller dies ausdrücklich untersagt hatte, bereits daran, ihn durch die Zeitung um seine Erlaubnis zu ersuchen, ein Gedanke, den sie freilich bald wieder aufgab22. Inzwischen teilten ihr Breitkopf & Härtel in Leipzig ihre Absicht mit, das Requiem nach mehreren in ihrem Besitz befindlichen Kopien herauszugeben und ersuchten sie behufs Herstellung eines gesicherten Textes um Mitteilung der ihrigen; sie willigte ein, da sie die Herausgabe doch nicht hindern konnte. Auf die durch jene Gerüchte veranlaßte Anfrage, ob es mehr als ein Requiem von Mozart gebe, antwortete sie am 27. März 1799:


Was das Requiem betrifft, so habe ich freilich das berühmte, was er kurz vor seinem Tode geschrieben hat.Ich weiß nur von diesem einzigen Requiem, alle übrigen darf ich für unecht erklären23. Wie weit es von ihm selbst ist – es ist so bis nahe ans Ende – werde ich Ihnen sagen, wenn Sie es von mir erhalten. Folgende[703] Bewandnis hat es damit. Als er seinen Tod vorhersah, sprach er mit Hrn. Süßmayr, jetzigem k.k. Kapellmeister, bat ihn, wenn er wirklich stürbe ohne es zu endigen, die erste Fuge, wie ohnehin gebräuchlich ist, im letzten Stück zu repetiren und sagte ihm ferner, wie er das Ende ausführen sollte, wovon aber die Hauptsache hie und da in Stimmen schon ausgeführt war. Und dieses ist denn auch durch Hrn. Süßmayr wirklich geschehen.


Später verwies sie die Verleger an Süßmayer selbst, und dieser gab nun in dem mehrfach erwähnten Briefe vom 8. Febr. 1800 Auskunft, wobei freilich von keinerlei Auftrag Mozarts die Rede ist – man sieht, Konstanze war es vor allem darum zu tun, das Werk möglichst als eine einheitliche Schöpfung Mozarts erscheinen zu lassen.

Als nun aber die Verleger die Veröffentlichung des Werkes »nach dem von Mozarts Witwe hiezu mitgeteilten Manuskript« ankündigten24, meldete sich auch Graf Walsegg, der bisher geschwiegen hatte, obwohl er sich, wie bereits bemerkt, ganz in die Rolle des Komponisten des Requiems eingelebt hatte. Er schickte die ihm abgelieferte Partitur an seinen Anwalt Dr. Sortschan nach Wien und verlangte durch diesen von Konstanze Aufklärung und Entschädigung. In ihrem Namen führten Stadler und Nissen die Verhandlungen. Stadler berichtete über die Art der Vollendung des Werkes und über den Anteil Mozarts und Süßmayers, Sortschan übernahm es, diesen Bericht dem Grafen zu übermitteln25. Nach Konstanzes Brief an Härtel vom 30. Jan. 1800 verlangte der Graf die Rückerstattung von 50 Dukaten, würde sich aber, so meinte Konstanze, vielleicht auch mit einer Anzahl von Exemplaren begnügen. Nissen erreichte es schließlich »nach ernsten Beschwerden und Drohungen«, daß sich der Graf mit den Abschriften mehrerer ungedruckter Werke Mozarts zufriedengab26 und sogar erlaubte, daß die Witwe die gedruckte Partitur mit der seinigen noch einmal genau vergleichen ließ27.

Schon beim »Ave verum« sahen wir, wie weit sich Mozart seit 1780 von seinem früheren Kirchenmusikstil28 entfernt hatte. Das Requiem offenbart die Kluft in ihrer ganzen Größe; es ist seinem Wesen und seinen geistigen Zielen nach ein völlig anderes Werk als noch die c-Moll-Messe von 1783. Mozarts Verhältnis zur Religion hatte sich gründlich geändert. Nicht als hätten die Vorstellungen des katholischen Kultus ihre Macht über sein Gemüt verloren. Auch als Freimaurer ist er ein überzeugter Katholik geblieben.[704] Aber freilich genügte ihm das Dogma als solches jetzt nicht mehr; er strebte darnach, sich die Heilswahrheiten seiner Kirche auch innerlich zu eigen zu machen. Schon als Knaben hatte ihm ein starker Hang zur Mystik innegewohnt, und dieser tritt in den letzten fünf Jahren seines Lebens immer stärker hervor. Namentlich der Gedanke an Tod und Jenseits beschäftigte jetzt seine Seele in steigendem Grade. Dem vordem so erdenfrohen Meister tat sich mehr und mehr eine Welt des Überirdischen auf, die ihn zunächst, im »Don Giovanni«, alle ihre Schauer fühlen ließ, ihm dann aber auch ihre läuternde und erhebende Macht offenbarte. Die »Zauberflöte« verkündigt sie als das höchste Ziel des menschlichen Strebens, das Requiem behandelt sie von der metaphysischen Seite, als die allem Zeitlichen entrückte Macht, die das menschliche Schuldgefühl und Erlösungsbedürfnis erweckt. Damit begegnet sich Mozart mit der kirchlichen Lehre vom Gericht und der Gnade Gottes. So laufen die Fäden unmittelbar von der »Zauberflöte« zum Requiem hinüber. Das zeigt sich schon in der Verwandtschaft der äußeren Mittel. Die Verbindung von Bassetthörnern, Fagotten und Posaunen, gelegentlich auch von Trompeten und Pauken neben den Streichern, die schon in der »Zauberflöte« die Träger des mystisch Erhabenen gewesen waren, kehrt auch im Requiem wieder, nur sind durch das Fehlen der übrigen Holzbläser und der Hörner die Farben weit dunkler geworden, und auf der verschiedenen Kombination der genannten Instrumente allein beruht die orchestrale Charakteristik dieses Werkes. Aber auch die Hinwendung zum strengen Kirchenstil verbindet beide Werke. Sie tritt in der Oper in dem Choral der Geharnischten zutage und findet im Requiem ihre gesteigerte Fortsetzung. Diese durch Bach und Händel hindurchgegangene Kunst bestimmt recht eigentlich seinen Charakter im Gegensatz zu Mozarts früheren Kirchenwerken. Da ist keine Spur mehr von jenem Gemisch von kontrapunktischem und homophonem Stil, von liturgischen, arienhaften und instrumentalen Formen, keine Spur mehr auch von jener Breite und Redseligkeit, bei der das Geistige bisweilen von dem absolut Musikalischen überflutet wurde. Der streng kirchliche Charakter und in Verbindung damit die hohe Kunst, in die knappsten Formen den bedeutendsten Inhalt zu legen, verleiht diesem Requiem sein eigentümliches Gepräge und kann uns ein Bild von der Kirchenmusik geben, die Mozart bei längerem Leben kraft seiner Stellung am Stephansdom der Welt noch geschenkt hätte. Er wäre der Erneuerer der Wiener Kirchenmusik aus dem Geiste der älteren norddeutschen Klassiker heraus geworden. Sein Requiem weist deutlich die Bahn dazu.

Schon der dem »Kyrie« vorangehende »Introitus«, das Gebet für die ewige Ruhe der Entschlafenen, stellt diesen strengen Ton unzweideutig fest.

Die Tonart, in deren nächstem Kreis sich das ganze Requiem bewegt, ist das schicksalsschwere d-Moll29. Zu einer ganz einfachen Streicherbegleitung[705] mit nachschlagenden Akkorden erklingt in Bassetthörnern und Fagotten das Requiem-Thema:


Das Requiem

eines der wichtigsten des ganzen Werkes, charakterisiert durch die Tonika mit dem unteren Leitton und dem stufenweisen Aufstieg nach der Terz sowie durch das Eintreten auf dem schlechten Taktteil, so daß die erste halbe Note sofort eine herbe Vorhaltsdissonanz ergibt30. An und für sich ist es, gleich den meisten übrigen dieser Nummer, ein nichts weniger als »origineller« Gedanke31, aber Mozart ist es auch nicht um einen subjektiven Gefühlserguß zu tun, sondern um die Ausprägung des streng liturgischen Charakters; es soll »das Weh der Trauer durch die von alters her erprobte und geheiligte Sprache der Kirche gelindert« werden32. Zunächst begnügt er sich mit der Anlehnung an den kirchlichen Stil im allgemeinen, um dann beim »Te decet hymnus« die Kirche selbst reden zu lassen. Die ganze Art der imitatorischen Einführung des Requiem-Themas durch die Bläser verrät deutlich den Einfluß Seb. Bachs33. Es ist ein echtes Vorspiel im Sinne des späteren Mozart, kein bloßes Ritornell alten Schlages. Die Grundstimmung wird zunächst in gefaßter Trauer angeschlagen, schwillt vom dritten Takt an merklich an (man beachte die unregelmäßigen Stimmeneinsätze und das Empordrängen der melodischen Linie), um dann resigniert wieder abzuflauen und nach der Dominante a-Moll herabzusinken. Mit einem symmetrischen Rückgang nach der Tonika im Sinne der älteren Ritornelle gibt sich Mozart indessen gar nicht ab, sondern erzwingt ihn in aller Kürze mit vier erschütternden Akkorden der Posaunen, die hier schon wie die Stimme des Gerichts klingen und erst bei dessen Eintritt selbst wieder verwandt werden. Mit dem Forte-Einsatz des Chores kommt die Trauerstimmung der Gemeinde zu vollem Ausbruch. Der Nachhall jener Posaunenstöße zeigt sich vor allem in der schneidenden Synkopenfigur der Geigen, die sich wie eine musikalische Gebärde des Händeringens ausnimmt. Der Einsatz der vier Stimmen erfolgt vom Baß an aufwärts in Engführungen des Requiem-Themas; dann erscheint dieses nur noch einmal im Sopran mit höchster[706] Eindringlichkeit, die durch den beschleunigten Rhythmus der Unterstimmen unterstützt wird. Vor dem letzten emphatischen Halbschluß auf A34 schließen sich die Stimmen zu scharf deklamierender Homophonie zusammen. Dieselbe vielsagende Kürze ist auch dem ersten Zwischensatze »et lux perpetua luceat eis« zu eigen. Sein mit echt Mozartscher Energie eingeführtes F-Dur gemahnt an die verklärte Milde der in derselben Tonart stehenden Priestergesänge der »Zauberflöte«. Auch die jetzt im Gegensatz zu vorher in der Melodik scharf betonten Dreiklangsstufen weisen auf das veränderte Bild hin. Das Unisonomotiv der Streicher:


Das Requiem

stellt einen auch weiterhin im Requiem, z.B. im »Tuba mirum«, wiederkehrenden Melodietypus dar. Auch dieser kleine, geschlossene Chorsatz, dessen Hauptmotiv die Bläser imitieren, enthält eine inbrünstige Steigerung, die schließlich wieder in stille Wehmut zusammensinkt35. Nun folgt der ausgedehntere zweite Zwischensatz, der durch den ersten in seiner Stimmung genial vorbereitet ist, auf die Worte des 65. Psalms: »Gott, man lobt Dich in der Stille zu Zion, und Dir bezahlt man Gelübde.« Um sie als Schriftworte hervorzuheben, hat Mozart sie einer alten Choralmelodie untergelegt, dem zweiteiligen Tropus des neunten Kirchentons zum Psalm »In exitu Israel de Aegypto«, demselben, den er schon in der »Betulia liberata« benutzt hatte36. Zuerst trägt sie ein Solosopran vor, eingeleitet von einem kurzen Übergang, der anfangs das Requiem-Thema wieder andeutet, dann aber ein neues, später auf die Worte »dona eis requiem« im Gesange wiederkehrendes Motiv bringt:


Das Requiem

Es ist die verkürzte und umgekehrte Fassung des Requiemthemas, die sich in gerader und in Gegenbewegung um die tröstende Choralmelodie schlingt. Der Chorsopran nimmt sie auf die Worte »Du erhörest Gebet, darum kommt alles Fleisch zu Dir« auf, wobei ganz wie in den Bachschen[707] Choralchören die übrigen Stimmen frei kontrapunktieren37. Aber schon vor dem Eintritt des Chorals verschärft sich der Ausdruck wieder ungemein, besonders dank dem Hinzutritt eines altertümlich strengen, punktierten Ostinatomotives im Orchester38. Mit derselben Partie, die ihn eingeleitet hatte, schließt dieser liturgische Teil ab. Der Anfang kehrt zurück, aber sein Hauptgedanke erhält nun als ständigen Kontrapunkt jenes oben angeführte Thema aus dem Mittelteil, das jetzt erst zu den Worten »dona eis Domine« seinen vollen Ausdruck entfaltet. Auch seine Herkunft aus dem Hauptthema (durch Umkehrung) prägt sich nunmehr dem Hörer deutlich ein. Die Trauerstimmung erfährt dadurch eine mächtige Steigerung: auch erfolgen die Themeneinsätze nicht mehr regelmäßig, wie zuvor, sondern frei (auf d, a, g' f''). Das Sechzehntelthema zieht allmählich immer mehr Stimmen an sich und führt so schließlich zum Höhepunkt des Affekts bei dem F-Dur-Eintritt des Hauptthemas im Sopran, worauf mit dem prachtvollen Abstieg beider Themen die Entspannung beginnt. Sie macht vor »et lux perpetua« auf dem B-Dur einen kurzen Halt, um noch einmal den Gedanken an das ewige Licht in den Seelen aufleuchten zu lassen. Er wird aber jetzt nicht mehr vom geschlossenen, sondern vom geteilten Chore ausgesprochen, und das Motiv:


Das Requiem

an dem der Sopran so merkwürdig starr festhält, ruft noch einmal die Erinnerung an den Beginn des Chorals wach. Aber jenes B-Dur bedeutet keinen vollen Schluß, wie vorher das F-Dur, sondern sein Grundton hat von Anfang an den Drang, als Leitton nach A und damit in die d-Moll-Sphäre zurückzuführen. Auf deren Dominantharmonie klingt denn auch der Wunsch nach dem ewigen Licht in tiefstem Ernste aus. Nun folgt die große Doppelfuge mit den beiden Themen:


Das Requiem

[708] Beide sind durch Händel und Bach, ja durch noch ältere Muster39 angeregt worden, und Mozart hat sich ihrer mit vollem Bewußtsein bedient, denn seine Absicht war auch hier, vom Typischen, allgemein Vertrauten auszugehen und es erst durch seine Behandlung ins Gebiet des Individuellen zu erheben. Was er an dieser Stelle für die Idee seines Werkes brauchte, fand er gerade in jenen älteren Themen zu vollkommenem Ausdruck gebracht, und so bediente er sich ihrer mit demselben Rechte, das vor ihm Bach, Händel und Gluck in zahllosen Fällen für sich in Anspruch genommen hatten – nur eine ahnungslose Schulmeisterei vermag dabei von Diebstahl und Erfindungsnot zu reden40. Die beiden Themen gehören eng zusammen; sie sind einander verwandt und doch gegensätzlich, wie die Texte, denen sie dienen. Das erste scheint wie von selbst aus den Worten herauszuwachsen: eine wuchtige Anrufung Gott-Vaters, der unmittelbar die erschütternde Bitte des »eleison« folgt. Die mächtige Tongestalt ruft aber alsbald, noch ehe sie zu Ende geführt ist, das zweite Thema mit der Anrufung Christi, des Mittlers, auf den Plan, die sonst einem besonderen Mittelsatze vorbehalten war. In einer breiten Welle strömt hier die subjektive Erregung aus. Zunächst gehen beide Themen der Richtung nach zusammen, am Schlusse dagegen erreicht das erste als melodischen Höhepunkt die Quinte a, während das zweite umbiegt und stufenweise dasselbe verminderte Intervall durchläuft (b'-cis'), das das erste am Anfang im Sprunge durchmessen hatte. So erreicht die im Introitus angeregte Stimmung hier einen Höhepunkt von einer ans Dramatische streifenden Einheitlichkeit.

Die Doppelfuge hat neben zahlreichen Bewunderern auch heftige Tadler gefunden41. Tatsächlich weicht sie, von den ersten vier normalen Einsätzen abgesehen42, in verschiedenen wichtigen Punkten von der Schulregel ab. Vor allem fließt sie in so unaufhaltsamem, erregtem Strome dahin, daß ihre Gliederung kaum einmal einen Ruhepunkt gestattet. Längere Zwischenspiele, die sonst den Wiedereintritt des Hauptgedankens spannend vorbereiten, kennt sie überhaupt nicht, sie werden durch ganz kurze Übergänge ersetzt, die meist dem zweiten Thema entstammen. Insbesondere ist man vor dem Eintritt des Hauptthemas sozusagen niemals sicher: immer wieder und ohne größere Abstände tönt sein Donnerwort von den verschiedensten[709] Seiten in das erregte Getriebe herein. Das ist bewußte Absicht: jener Hauptgedanke und sein zerrender Begleiter dienen eben nicht dem Ausdruck gefaßter, frommer Demut – das war dem Introitus vorbehalten gewesen –, sondern spiegeln den Zustand der schuldbeladenen Menschheit vor dem Nahen des Gerichts wider und vermitteln so den Übergang zum folgenden »Dies irae«. Es liegt ein wahrhaft dämonischer Gefühlsdruck auf diesem ganzen Satze, der mitunter hart an Verzweiflung streift. Dem entspricht aber auch die Modulationsordnung. So zielbewußt sie angelegt ist, so flüssig ist ihr Verlauf. Jeder sich ergebende Ruhepunkt wird entweder durch Trugschluß von vornherein umgedeutet oder doch alsbald wieder verlassen. Bezeichnend ist zunächst, daß hier, wie im Introitus und allen folgenden d-Moll-Sätzen des Werkes, der Dominantkreis völlig hinter dem dunkeln der Unterdominante zurücktritt43. Die lichteste Tonart, die überhaupt berührt wird, ist das F-Dur des Sopraneinsatzes in Takt 16 ff., der tatsächlich auch eine Erleichterung des Druckes bringt. Um so schwerer ist aber die Umdüsterung durch das folgende g- und c-Moll. Noch einmal gelingt es dem Sopran, jetzt in hoher Lage, eine Wendung nach dem freundlicheren B-Dur herbeizuführen und damit die Wolken aufs neue zu zerteilen44. Aber auch jetzt erfolgt ein großer Rückschlag. Von der f-Moll-Stelle an beginnt die letzte entscheidende Steigerung. Zum erstenmal erscheint das zweite Thema in Engführungen, zugleich wird die diatonische Linie seines Aufstiegs zur Chromatik zusammengepreßt; es sind die »wilden Gurgeleien« und »chromatischen Schlangengänge«, die den Zeitgenossen solche Pein verursachten, als ob aus Bach dergleichen nicht sattsam bekannt wäre. Unter den schärfsten Reibungen zwängt sich diese geradezu schreckenerregende Partie schließlich nach der Grundtonart d-Moll hindurch45, die jetzt, von einigen Zwischendominanten abgesehen, nicht mehr verlassen wird46. Das zweite Thema behält seine chromatische Gestalt bei und drängt mit seinen Engführungen schließlich bis zum a'' hinauf, um dann kurz zum Schluß zu eilen. Aber gleich als ob vor den Augen der Sänger ein gräßliches Medusenantlitz auftauchte, bleiben sie plötzlich auf dem Trugschluß mit dem verminderten Akkord haften47, der mit der folgenden schweren Pause geradezu fürchterlich wirkt, und führen erst dann mit dem festen Schritt des Händelschen Adagioschlusses das Stück vollends zu Ende, das ein Musterbeispiel dafür ist, wie ein musikalischer Genius aus ganz allgemeinem, typischem Stoff ein Gebilde von höchst persönlichem Gepräge zu schaffen versteht. Es ist allen seinen Tadlern zum[710] Trotz vom unmittelbarsten, packendsten Leben erfüllt und mit dem Auge des Dramatikers geschaut, aber ohne jemals die Kirchlichkeit zu verletzen, d.h. theatralisch zu wer den; wie immer, so hat auch hier der Inhalt die freie Form erzeugt.

Das jüngste Gericht, das seine finsteren Schatten bereits in die Fuge vorausgeworfen hatte, bricht im»Dies irae« mit allen Schrecken herein. Dieser große, bis zum Offertorium (»Domine Jesu Christe«) reichende Teil, der gewissermaßen die Stelle des Gloria und Credo vertritt, bildet die sog. Sequenz der Totenmesse48. Diese bis ins 9. Jahrhundert zurückgehende Form der geistlichen Dichtung war ursprünglich so entstanden, daß man den ausgedehnten Jubilationen des Hallelujagesanges Texte unterlegte, wie dies von dem ältesten bedeutenden Vertreter der Gattung Notker Balbulus in St. Gallen (830–912) berichtet wird49. Die Sequenzen nahmen dank ihrer volkstümlichen Haltung in der Kirche allmählich derart überhand, daß Papst Pius V. sie 1568 bis auf die wenigen, heute noch gebräuchlichen verbot. Es sind die Ostersequenz »Victimae paschali laudes«, die Pfingstsequenz »Veni sancte spiritus«, die Fronleichnamssequenz »Lauda Sion salvatorem«, die Sequenz »De septem doloribus Mariae Virginis« (das berühmte »Stabat mater«, gedichtet von Jacopone da Todi, gest. 1306) und unser »Dies irae«, das von Thomas von Celano um die Mitte des 13. Jahrhunderts zur Zeit des schwarzen Todes gedichtet wurde. Die beiden zuletzt genannten kann man nur uneigentlich Sequenzen nennen, da der alte Zusammenhang mit dem Halleluja fehlt; der Name bezeichnet hier einfach einen den Hymnen verwandten, einer bestimmten Idee dienenden Kirchengesang.

Die Dichtung des »Dies irae« ist von hoher Schönheit, wenngleich sich darin im Vergleich mit Gloria und Credo ein weit stärkeres subjektives Empfinden ausspricht. Das hat ihr bei den Komponisten seit alters eine besondere Gunst verschafft, die durch die anschauliche und malerische Schilderung des Gerichtes nur noch verstärkt wurde. Freilich lag darin auch eine große Gefahr, da die Musiker dazu verleitet wurden, gerade jene Schilderung durch packende dramatische Gestaltung zur Hauptsache bei der ganzen Messe zu erheben, die doch von Hause aus dem stillen Gedächtnis der Toten und der Fürbitte für ihre ewige Ruhe dient. Die bedeutenden Requiemkomponisten und unter ihnen auch Mozart haben diese Gefahr wohl erkannt und sich bemüht, die Bilder des Schreckens nur als Folie für jene Fürbitte zu benutzen, deren Inbrunst dadurch gesteigert werden soll.

Der erste Abschnitt gilt dem Weltuntergange, der die Wiederkunft des Herrn ankündigt. Er fällt ganz dem Chore zu, der auch mit einer einzigen Ausnahme stets geschlossen bleibt. Die Wiedergabe der äußeren Schrecknisse übernimmt das Orchester, die Streicher in den sonst von Mozart[711] ziemlich sparsam verwendeten Tremoli, die immer wieder durch echt Mozartsche Synkopen unterbrochen werden. Die Besetzung ist im übrigen dieselbe wie im Vorhergehenden. Nur fehlen die Posaunen; um so stärker treten dagegen Trompeten und Pauken hervor, so daß der Klangeindruck doch ein ganz anderer wird als zuvor. Dazu gesellen sich die Singstimmen in hoher, greller Lage – mit vollem Bewußtsein hat Mozart für diesen ersten Satz den schärfsten Realismus im äußeren Klange aufgespart. Und doch hängt auch er noch, und zwar nicht allein seiner Tonart nach, deutlich erkennbar mit seinem Vorgänger zusammen. Nicht nur der 4. bis 6. Takt des Chorsoprans:


Das Requiem

nimmt das alte Requiem- Thema wieder auf50, sondern auch der ganze Baß des Anfangs. Der Ausdruck ist von kühnster Plastik, er bewegt sich in abgerissen hervorgestoßenen Phrasen, als würde der Chor wie vom Fieber geschüttelt. Nach dem Halbschluß auf der Dominante A erscheint das erste der Orchesterzwischenspiele, aus denen es wie das Pfeifen des Sturmwindes zu klingen scheint. Die gewaltsame Modulation nach F-Dur kennen wir bereits aus analogen Sätzen Mozarts; für das Requiem ist sie, wie das Folgende zeigt, besonders charakteristisch. Der zweite Abschnitt (»quantus tremor«) erhält seine Ausdrucksgewalt hauptsächlich durch die mit wildem Ungestüm zuerst chromatisch, dann diatonisch von F nach e aufwärts drängende Baßlinie mit der dadurch erzeugten dämonischen Unruhe. Auch in der fanfarenartig die Dreiklänge auf und ab jagenden Führung des Soprans mit seinen schneidenden Spitzentönen prägt sich die tödliche Angst aus; plötzlich nimmt auch der Tenor imitatorisch an diesen Rufen teil. Es ist nicht unmöglich, daß in Mozarts Phantasie das Bild des mit dem Weltuntergang verbundenen Erdbebens mit hereingespielt hat51. Nach dem schweren Abschluß in a-Moll wiederholt sich der erste Teil in gesteigertem Ausdruck. Von äußerster Kühnheit ist dabei das plötzliche Hinabtauchen von dem E-Dur-Akkord nach dem finsteren c-Moll; Heiß und Kalt scheinen da unmittelbar aufeinander zu stoßen. Aber es ist nur ein plötzlicher Schauer, denn alsbald treibt die Entwicklung sequenzenmäßig52 wieder nach d-Moll hinein, auf dessen Dominante sie wie zuvor Halt macht. Diese Dominantwirkung nutzt nun Mozart aber in kolossalstem Maßstabe aus, um die Schrecken des Gerichts noch zu erhöhen. Die ganzen folgenden zehn Takte stehen unter ihrem Zeichen; sie saugt gewissermaßen alles, andere in sich auf, als gäbe es aus diesem lähmenden Grauen überhaupt keinen Ausweg[712] mehr. Zum ersten Male teilt sich auch der Chor53: die Bässe stimmen wie aus unterirdischen Klüften ihr grauenerregendes, trillerartiges Motiv an54, das a mit seinen beiden Leittönen gis und b umkreisend, aus den übrigen Stimmen hallt kleinlaut55 das »dies irae, dies illa« wider. – Daß das im Gegensatz zu dem Baßmotiv piano gemeint ist, geht schon aus den baßführenden Celli hervor. Am Ende dieses fürchterlichen Dialoges greift jenes Trillermotiv auf den ganzen Chor über, und erst mit dem Wiedereintritt des d-Moll löst sich der starre Bann. Den Schluß bildet eine zusammengedrängte Wiederholung des allerersten Abschnittes, ohne daß freilich der Chor seine alte Geschlossenheit wiedergewönne.

Nach dieser wilden Erregung der Gemüter und Elemente tritt im »Tuba mirum« Stille ein. Der Chor macht den vier Solisten Platz. Mit einem ernsten, abwärtssteigenden Dreiklangsmotiv56 verkündet eine Tenorposaune das Nahen des Herrn. Der Solobaß nimmt die Weise auf und wird dann von ihr mit Motiven, die an Sarastro anklingen, konzertierend begleitet57; von großer Würde ist dabei gleich die plagale Wendung über dem lang ausgehaltenen Tone des Sängers. Aus der folgenden Posaunenmelodie geht übrigens klar hervor, daß Mozart sich den Herrn nicht als strengen, unbarmherzigen Weltenrichter vorgestellt hat, sondern als einen zwar ernsten und gerechten, aber doch milden Gott. Das stimmt ganz zu seinen sonstigen Anschauungen, es motiviert zugleich ohne weiteres den zuversichtlichen, ja zutraulichen Ton, mit dem dieser Abschnitt schließt und den verschiedene Verehrer Mozarts, darunter auch Jahn, als zu leicht befunden haben58. Die Einsätze der vier Stimmen spiegeln den Eindruck wider, den die majestätische Erscheinung hervorruft. Der Weg führt dabei vom Basse stufenweise aufwärts zum Sopran, und man kann dabei gut das Ausdrucksgebiet verfolgen, das Mozart den verschiedenen Stimmlagen zuweist. Der Baß hebt mit den gewohnten großen Intervallschritten die Erhabenheit des Totenerweckers hervor; auch das Schwanken zwischen Dur und Moll am Schlusse hat etwas Geheimnisvolles. Der Tenor dagegen bringt das Anfangsmotiv gleich in Moll und in der Verkleinerung, bei ihm beginnt bereits das leidenschaftliche Staunen über das Geschehende, das beim »Liber scriptus« in bange Furcht ausmündet (vgl. das doppelte »mundus«). Er durchläuft deshalb auch einen weiteren Tonartenkreis59, der ihn schließlich mit einem gewaltigen Streicherunisono nach der Grundtonart des Ganzen,[713] d-Moll, führt. Hier setzt nun der Alt ein mit dem gespanntesten Ausdruck der Leidenschaft. Vom Anfangsmotiv ist nur die allgemeine Richtungslinie übriggeblieben, die Schlußphrase erscheint unter dem Druck der Erregung sogar in der Verkleinerung. Auch setzt die Posaune vom Eintritt des Alts ab aus. Nun aber tritt die helle Sopranstimme mit ihrem B-Dur wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt ein. Sie singt unter völliger Loslösung vom Hauptgedanken60 ihr »quid sum miser tunc dicturus?« in einem so naiven, herzlichen Ton der Zuversicht und dabei so überzeugend, daß sich ihr alsbald auch die übrigen Stimmen, sowie die bisher nicht verwandten Bassetthörner und Fagotte anschließen. Der Sopran ist somit gleichsam der einzige, der den gnadenvollen Unterton in der Stimme des Herrn herausgehört hat. So geht der Satz in süßem Trostgefühl, das keine Anwandlung von Bangen mehr zu trüben vermag, zu Ende.

Dem widerspricht es nicht, daß im folgenden Abschnitt »Rex tremendae majestatis«, wo sich der Herr in seiner ganzen dunkeln Majestät offenbart, wieder das höchste Pathos entfaltet wird. Im Orchester erscheint ein machtvolles, punktiertes, nach Bachs Art frei behandeltes Ostinatomotiv61, in das vom dritten Takte an die Chorstimmen, völlig überwältigt, ihr dreimaliges »Rex!« auf den schlechten Taktteil hineinrufen, um dann, allein von den Bläsern gestützt, in haarscharfer Deklamation das »Rex tremendae majestatis!« folgen zu lassen. Nach diesem gewaltigen Anruf teilen sich die Stimmen: Alt und Sopran wiederholen die Worte kanonisch in einer Melodie voll inbrünstiger Ehrfurcht, die beiden Unterstimmen gedenken gleichfalls kanonisch, vorerst nur schüchtern und in abgerissenen Phrasen, der Gnade des Herrn. Ein dritter Kanon spinnt sich im Orchester über das Ostinatomotiv an. Nach einem kurzen Zwischenruf des ganzen Chores wiederholt sich die Partie, aber mit vertauschten Chorgruppen. Zugleich bahnt sich ein Wandel in der Harmonik an: das in g-Moll begonnene Stück wendet sich nachdrücklich nach d-Moll62, und auf dessen Dominante vereinigt sich schließlich in einer dem »Dies irae« verwandten Stelle der ganze Chor zu jenem Rufe »qui salvandos salvas gratis«. Plötzlich wird der Ton leise und gedämpft: mit gewohnter Kürze läßt Mozart dem grandiosen Bilde unmittelbar die von den beiden Chorgruppen ganz schlicht vorgetragene Bitte »salva me!« folgen, während das Ostinatomotiv nur noch ganz leise in den ersten Geigen anklingt. Bei näherer Betrachtung entspricht diese ergreifende Schlußpartie harmonisch dem Anfang des Satzes, nach d-Moll transponiert63, nur daß im drittletzten Takte statt des erwarteten g-Moll der Sextakkord g b es eintritt, der mit unbeschreiblicher Wirkung[714] in diese Schlußbitte noch einmal die vorangegangene Erregung hineinklingen läßt64.

Von dem folgenden »Recordare« sagte Mozart selbst zu seiner Frau, es sei ihm von der größten Wichtigkeit, falls er vor der Vollendung des Ganzen sterben sollte, dieses Stück noch aufgeschrieben zu haben65. Tatsächlich gehört es zu den Höhepunkten seines Werkes. Dem Geiste nach schließt es sich an die letzte Bitte des vorangehenden Satzes an, nur ist die Hingabe weit weicher; Trost und Vertrauen sind in die Herzen eingezogen. Darum breitet sich der Satz auch weit mehr aus; er hat Rondoform, und der Hauptgedanke kehrt nach dem »Recordare« bei »Juste judex« und »Preces meae« wieder:


Das Requiem

eine schöne Verbindung von Mozartscher Innigkeit und kirchlicher Gebundenheit, die durch den imitatorischen Einsatz der zweiten Stimme und die damit verbundenen herben Vorhalte erzielt wird. Dazu gesellt sich im Orchester wiederum ein durchlaufendes Motiv:


Das Requiem

aus dem sich fast der gesamte Orchesterpart entwickelt. Sehr schön ist schon im zweiten Teil des Vorspiels seine kanonische Führung in den Geigen über dem Orgelpunkt im Baß: hier gewinnt es auf den ersten Teil hin den Charakter einer musikalischen Gebärde rührenden Flehens. Die vier Solostimmen, denen dieser Satz gehört, sind mit gewohnter Symmetrie gruppiert: dem Paare Alt und Baß in der Haupttonart F-Dur, die hier wieder durch ihr bekanntes mildes Ethos wirkt, folgt das Paar Sopran und Tenor in der Dominante, dann schließt sich dem Hauptthema ein Nachsatz an, in dem auf bereits aus früheren Sätzen bekannte Motive66 das Grauen auch in diesen Satz hereinklingt. Die erste Episode (»quaerens me«) verstärkt diese Stimmung noch beträchtlich. Die Stimmen nehmen einander in kurzen Phrasen das Wort vom Munde, die Harmonie aber wendet sich in scharfem Ruck von c- nach d-Moll67, und hier erreicht die Erregung in dem äußerst leidenschaftlich deklamierten »tantus labor non sit cassus« ihren Gipfel. Dann kehrt das Hauptthema verkürzt in B-Dur, also in dunkleren Farben, wieder und vermittelt so den ergreifenden Ausdruck des Schuldbewußtseins[715] im zweiten Seitensatz (»ingemisco tanquam reus«), in dem bezeichnenderweise jene sanfte Begleitfigur zum ersten Male vollständig aussetzt und ebenso die Stimmen in einfachster Homophonie beisammen bleiben. Mit ihren aufwärts drängenden Bässen, den scharfen Sforzatos und dem plötzlichen Lagenwechsel, besonders in Sopran und Baß, spricht diese Stelle für sich selbst; die Hand des Dramatikers ist hier deutlich zu fühlen. Von ganz eigentümlicher Wirkung aber ist die Fortsetzung (»qui Mariam absolvisti«), vor allem wegen der beständig wechselnden Tonalität. Das auch hier drohende d-Moll wird zwar rasch überwunden, und bereits scheint sich die Entwicklung nach längerem Schwanken für das beruhigende F-Dur zu entscheiden. Da spielt Mozart noch einen überraschenden Trumpf aus: er lenkt den Gang beim letzten »spem dedisti« plötzlich nach C-Dur um – ein Hoffnungsstrahl, wie er leuchtender nicht zu denken ist! Finden hier doch auch die Singstimmen nach längerem inbrünstigem Flehen zum erstenmal einen festen Halt wieder. Mit vollster Zuversicht kehrt nunmehr der Hauptgedanke zurück. Noch einmal, beim Gedanken an das höllische Feuer, faßt das Ensemble ein wildes Grausen an68, was zu einer kurzen Erweiterung des Nachsatzes führt, dann endet eine wunderbar beruhigende Coda der sich begegnenden Stimmen den schönen Satz.

Um so schneidender wirkt im »Confutatis« die Schilderung der Qualen der Verdammten. Mozart hat diesen Satz wieder zu einem dramatischen Gemälde ausgestaltet, indem er den durch die beiden Männerstimmen vertretenen Verdammten die Frauenstimmen mit ihrer Bitte, den Auserwählten zugesellt zu werden, gegenüberstellt. Die Tonart ist a-Moll, sicher mit Beziehung auf ihren fremdartigen Charakter bei Mozart. Zu der qualvoll sich hin und her windenden italienischen Schleiferfigur des Streicherunisonos, wobei Mozart, wie schon öfter, zur Steigerung den Aufstieg des Basses nach der Quinte benutzt, erschallt in scharf punktierten, imitatorisch geführten Phrasen das Wehegeschrei der Verdammten, worauf mit der üblichen scharfen Modulation nach C-Dur69 die Bitte der Frauenstimmen sich vernehmen läßt, nach dem vollen Orchester nur von den unisonen Geigen begleitet70, in ihrer Kürze und Einfachheit71 an altkirchliche Bittrufe gemahnend. Abermals vernehmen wir die Stimmen der Verdammten, aber jetzt mit einer ganz eigentümlich verschärften Harmonik72, so daß dann auch[716] die Bitte der Frauen erregter wird. Und nun findet sich die ganze Gemeinde zu der erschütternden Bitte des »oro supplex et acclinis« zusammen, harmonisch einer der überwältigendsten Partien in Mozarts gesamter Kunst. Sie beruht auf einer Sequenz von vier Gliedern, die aber nicht allein die Melodie, sondern den ganzen damit verbundenen Klangkomplex unaufhaltsam in die Tiefe zieht. Ihren Ausgang nimmt die Gestaltung von der enharmonischen Umdeutung des verminderten Septakkordes am Anfang, dessen Baßton, zuerst Dis, statt nach E weiterzuschreiten, vielmehr als Es liegen bleibt und so schließlich nach as-Moll führt, ebenso entsprechend im Folgenden. Das dritte Sequenzglied (»gere curam«) wird verkürzt, indem der volle Schluß auf ges-Moll weggelassen wird und im Baß durch den Wegfall des verminderten Quintsprungs ein einfacher chromatischer Sekundschritt erscheint. Das vierte Glied ist mit leichter Veränderung wieder vollständig. Die Partie nimmt bereits die Harmonik der Romantiker vorweg73 und offenbart Mozarts ganze tiefsinnige Mystik und zugleich seine geniale psychologische Kunst. Alles, was wir bisher erlebt haben, bewegte sich im Kreise warmblütigen, menschlichen Empfindens, Schrecken und Grausen, leidenschaftliches und kindliches Flehen; hier aber weht bereits die Luft der Ewigkeit, wo es kein Wünschen und Bangen mehr gibt, sondern nur ein unbewußtes Ahnen des göttlichen Geheimnisses. Der Schluß ist darum auch nicht das trübe f-Moll, sondern F-Dur, die mystische Tonart der »Eingeweihten« aus der »Zauberflöte«.

Der letzte Satz der Sequenz, das »Lacrimosa«, der auch ihre Grundtonart d-Moll aufnimmt, führt wieder in die Sphäre der kirchlichen Trauerfeier zurück und läßt das Ganze in eine ergreifende Klage ausklingen, in der aber am Anfang doch noch die Schrecken des Gerichts vernehmbar nachzittern. Ein ganz kurzes, auf einem Seufzermotiv aufgebautes Vorspiel der Streicher (ohne Bässe!) leitet den Chorsatz ein, der wiederum mit einem Motiv von schlagender Bildhaftigkeit:


Das Requiem

zugleich einem echt Mozartschen d-Moll-Motiv74, beginnt. Aber schon bei »qua resurget ex favilla« steigen die Schreckensgeister wieder auf. In einer gigantischen Skala von d' bis a'', zuerst diatonisch und in abgestoßenen Achteln, dann chromatisch in punktierten Vierteln, bei beständig wechselnder Harmonie und mit einem mächtigen Crescendo taucht noch einmal das Bild des aus dem Grabe erweckten sündenbeladenen Menschen auf. Damit bricht Mozarts Partitur dieses Satzes ab und stellt uns zum ersten Male vor das schwierige Ergänzungsproblem, das für unseren Satz im Hinblick[717] auf Schacks Bericht (s.o.) keineswegs mit Sicherheit im Sinne von Süßmayers Verfasserschaft zu lösen ist. Dazu gesellen sich hier und in den folgenden umstrittenen Sätzen stilkritische Erwägungen, die uns deutlich daran mahnen, daß das letzte Wort in dieser schwierigen Frage noch nicht gesprochen ist.

Franz Xaver Süßmayer (geb. 1766 zu Schwanenstadt in Oberösterreich) genoß nicht nur den Unterricht Mozarts75, sondern gehörte auch zu den jungen Leuten, mit denen er einen lebhaften persönlichen Verkehr unterhielt, seinen »Narren«, worin freilich keine besondere Hochschätzung seiner Persönlichkeit liegt; auch die Tatsache, daß ihm Eybler und wohl noch andere bei der Wahl des Bearbeiters vorgezogen wurden, spricht nicht eben dafür. Trotzdem war er einer der besten Musiker, die aus Mozarts Schule hervorgegangen sind. Diese zeigt sich freilich auf Schritt und Tritt, sowohl in seinen Opern, von denen sich»Der Spiegel von Arkadien« (1794) und »Soliman II«. (1800) längere Zeit auf der Bühne behauptet haben, als auch in seinen Kirchenwerken. Er gibt darin Proben eines starken Talentes, namentlich für das Anmutige und Innige, während er in ernsten oder gar tragischen Situationen sich stark an die Sprache seines Meisters anlehnt. Allerdings zeigt seine Musik ebenso klar, daß vom Talent zum Genie noch ein weiter Schritt ist; an Kunstwert erreicht trotz allen Vorzügen kein einziges seiner Werke die Mozartsche Höhe, wie wir sie in der »Zauberflöte« und den sicher von dem Meister selbst herrührenden Sätzen des Requiems finden.

Bei dessen Ergänzung handelt es sich weniger darum, ob Süßmayer imstande war, ein Mozart ebenbürtiges Werk zu schaffen, als darum, ob er die Fähigkeit besaß, nicht allein dessen Stil verständnisvoll zu kopieren, sondern sich völlig in Mozarts künstlerisches Erleben bei diesem Werke zu versetzen. Daß hier nicht alles in Ordnung ist, lehrt allein die Instrumentation der ihm zugeschriebenen Sätze. Schon im »Lacrimosa« fällt der reichliche Gebrauch der Posaunen auf, der jeden Kenner der »Zauberflöte« und der echten Sätze des Requiems befremden muß, ganz abgesehen davon, daß Mozart sich in einem der Klage gewidmeten Satze sicher mit Bassetthörnern und Fagotten begnügt hätte. Gewiß sind die Posaunen zur Stütze der Singstimmen der damaligen Kirchenmusik sehr geläufig und finden sich demgemäß auch in Mozarts kirchlichen Jugendwerken; aber gerade das Requiem ersetzt diesen schematischen Gebrauch durch einen weit feineren und individuelleren; sie dienen hier nicht mehr dem äußerlichen Herkommen, sondern dem Ausdruck. Um so mehr staunt man über die Mozartsche Größe und Einheitlichkeit des »Lacrimosa«, auch nach dem Abbrechen der Mozartschen Handschrift76. Zunächst wird wiederum das »qua resurget«[718] durch einen spannenden chromatischen Aufstieg, diesmal im Basse, hervorgehoben, dann aber folgt bei »huic ergo parce Deus«, zudem auf ein die Dominante C mit den nächsten Stufen umkreisendes Motiv, wie wir es schon häufig in diesem Werke vorgefunden haben77, ein echt Mozartscher Umschwung, und auch das innige »pie Jesu Domine« ist Mozarts würdig. Seinen Höhepunkt aber erreicht dieser wie alle vorhergehenden äußerst knappe Satz nach der Wiederholung des Anfangs. Mit seiner Fortsetzung, dem zweiten »Dona eis requiem«, deren absteigende diatonische Linie deutlich auf den früheren chromatischen Aufstieg Bezug nimmt, findet die ganze Sequenz im Sinne echter Kirchlichkeit einen versöhnenden Abschluß, nicht ohne daß am Ende auf das Wort »requiem« das alte Requiem-Thema anklingt. Einen solchen Genieblitz suchen wir in Süßmayers eigener Kirchenmusik vergebens; man hat also nur die Wahl, entweder anzunehmen, daß er bei der Ergänzung dieses Werkes plötzlich vom Talent zum Genie aufgestiegen wäre, oder aber daß er eben Mozartsche Skizzen benützt hat, was der Natur der Sache wie auch Schacks Bericht weit besser entspricht.

Im Offertorium der Totenmesse hat sich allein noch die alte, größere Ausdehnung dieser liturgischen Gesänge erhalten78. Sein Text behandelt die Bitte, daß die Seelen der Verstorbenen nicht zur Hölle fahren, sondern vom Erzengel Michael zum Lichte geführt werden mögen, das Gott dereinst Abraham und seinem Samen verheißen habe. Auch in diesem Satze mischen die mit besonderem Nachdruck betonten Höllenbilder der frommen Bitte immer wieder einen dunkeln, ja finsteren Grundton bei. Mozart hat den Satz in drei Teilen behandelt, von denen der dritte (»quam olim Abrahae«) der Tradition gemäß eine breit ausgeführte Chorfuge ist. Die beiden andern sind durch den allgemeinen Charakter und durch den Klanggegensatz von Chor und Soli geschieden, dagegen motivisch miteinander verbunden, denn das Dreiklangsmotiv des Anfanges:


Das Requiem

kehrt auch bei »sed signifer sanctus Michael« wieder, wie vorher bei »libera eas«, so daß also etwas wie eine freie Rondoform herauskommt. Nur ist alles wieder von äußerster Kürze. Bewundernswert ist bei aller Freiheit die Symmetrie im Bau. Die ersten Abschnitte des ersten Teils beginnen beide mit dem Hauptgedanken (»Domine« und zweites »Libera«) und lassen ihm eine ausdrucksvolle, aufsteigende Sequenzbildung folgen, daran schließt sich als Abgesang der dritte, fugierte Abschnitt, wiederum mit einer großen[719] Steigerung am Schlusse; gemeinsam ist allen dreien auch die herbe, kräftige Sechzehntelfigur in den Streichern. Der Dramatiker aber offenbart sich ganz deutlich in der schlagenden Kürze, mit der sich einzelne Stellen, besonders dämonischer Natur, herausheben und zwar nach Mozarts Art mit den schärfsten dynamischen Kontrasten. So folgt gleich dem gehaltenen kirchlichen Anfang das leidenschaftliche doppelte »Rex gloriae!« und weiterhin79 das scharfe »de poenis inferni«80, das allein schon durch seinen dynamischen Umschlag Grauen erregt; es wird durch eine der für das Requiem charakteristischen kühnen Modulationen (von dem dunkeln As-Dur nach c-Moll) bei »et de profundo lacu« noch ins Muystische gesteigert. Ähnlich, nur noch in dunkleren Tinten gehalten, ist der Verlauf bei dem »Libera« mit der schreckhaft sich aufbäumenden Gestalt des Löwen. Nach allen diesen quälenden Vorstellungen zeichnet das Fugato mit seinen Septimensprüngen81 und dem wilden Unisono des Orchesters psychologisch sehr fein die allgemeine Erregung über das ungewisse Schicksal der Verstorbenen. Auch die Harmonik hat etwas seltsam Unstätes, wogegen der zugrunde liegende Rhythmus Das Requiem beständig vorwärts treibt; die Folge der Stimmeneinsätze ist völlig frei und bindet sich nicht an die Schulregel82. Gleich seinen Vorgängern schließt der Teil mit zwei scharf aneinandergerückten Gegensätzen ab: dem fünfmal wild herausgeschleuderten »ne cadant« folgt unmittelbar das schauerliche »in obscurum83«. Nun setzt das Soloquartett ein, zunächst ebenfalls fugierend84; charakteristisch ist, daß das Thema sich bei dem Bilde des Erzengels nach dem anfänglichen Moll jetzt nach Dur wendet: zum erstenmal leuchtet ein heller Glanz über das dunkle Bild hin. Die Fortsetzung bildet die Weise des ersten »Libera eas«; so rundet sich dieser Teil in sich selbst ab. Nun beginnt die Fuge des »quam olim Abrahae«. Sie steht nicht bloß um des Herkommens willen an dieser Stelle, sondern läßt die ganze Stimmung des Vorhergehenden mit seinen scharfen Gegensätzen von Gottvertrauen und beklemmender Angst vor den Höllenstrafen in einem gewaltigen Zuge ausströmen. Auch der Text bringt trotz dem Relativsatz durchaus keinen Nebengedanken85, sondern die Begründung[720] des Vertrauens, das der Bitte zugrunde liegt, und bildet somit dichterisch die Grundlage des Ganzen. Das Thema:


Das Requiem

gehört wieder einem alten kirchlichen Typus an. Es trägt in seinen beiden ersten Takten seine feste harmonische Ordnung in sich (T D D T), die die ganze Fuge hindurch, wenn auch gelegentlich durch Trugschlüsse verschleiert, im Wechsel der Tonarten festgehalten wird. Mozartisch ist aber die scharfe Deklamation mit den charakteristischen Pausen und dem im Ausdruck besonders hervorgehobenen dritten Glied (»et semini eius«), dessen dichterischer Gedanke schließlich auch die erregte Stimmung beruhigt. Mozartisch ist namentlich aber auch die freie Gestaltung der Fuge86. Zwar erfolgen die ersten Stimmeneinsätze diesmal regelmäßig, jedoch gibt es im Ganzen noch weniger Zwischen- und Überleitungsglieder als in der Kyrie-Fuge. Alles wird aus dem Hauptthema bestritten, das zudem stets in Engführungen erscheint; ein neuer Gedanke kommt dagegen überhaupt nicht auf, mit Ausnahme des an Bach gemahnenden Begleitmotivs im Orchester, das in strenger Imitation durchgeführt wird. Mächtig schwillt der Affekt an bis zum Einsatz des Soprans, der dann gleich darauf zusammen mit dem Alt kleinlaut nach B-Dur herabsinkt; er bringt es auch nicht bis zu dem dritten Glied, sondern bleibt an dem bittenden »promisisti« hängen. Sobald er aber in dem hellen D-Dur gleichfalls auf jenes Glied zurückkommt, ändert sich auch das ganze Bild. Die Stimmen treten aus der strengen Polyphonie heraus zu geschlosseneren Gruppen und zu einem melodischeren Satze zusammen. Auf dem großen Orgelpunkte auf D mit dem ersten Themenglied in der Umkehrung ebbt die Erregung sanft ab bis zu dem stillen »et semini eius« im piano, wo zum erstenmal auch die Begleitung aussetzt. Das wiedergewonnene Gefühl des Friedens breitet sich in der folgenden ergreifenden Stelle über den ganzen Chor aus. Noch einmal kehrt das »quam olim Abrahae« auf dem alten chromatischen Quartenabstieg im Basse wieder, aber es hat sein gedrücktes, flehendes Wesen abgestreift, atmet Kraft und Zuversicht und mündet gefaßt in den schönen plagalen Schluß aus.

So kann im folgenden »Hostias« die Gemeinde mit voller innerer Sammlung zum Opfer vor den Herrn treten. Die Tonart Es-Dur und der ernste Reigenschritt des Satzes deuten auf eine Kultushandlung von feierlichstem Gepräge hin, und nur in den Synkopen der Geigen liegt noch ein Zug der Erregung. Der kurze Satz gliedert sich in zwei Teile über denselben Text. Der erste behandelt ihn in gehaltener, objektiv kirchlicher Stimmung, während der zweite dem subjektiven Empfinden freiere Entfaltung gönnt. In[721] beiden aber ist der Chorsatz fast durchweg homophon und deklamatorisch gehalten. Auch innerhalb der beiden Teile steigert sich beim »tu suscipe« der Ausdruck, vor allem durch harmonische Mittel. Beim zweiten »Hostias« überrascht schon das dunkle b-Moll und der scharfe Kontrast der Dynamik und Stimmlage, der an das »ingemisco tanquam reus« im »Recordare« erinnert. Von »tu suscipe« an nimmt die Harmonik jenen tiefsinnigen, mystischen Charakter an, den wir schon aus früheren Sätzen kennen, auch spricht aus der Dynamik der Schauer der Ehrfurcht. Das kleine Codasätzchen »Fac eas Domine« läßt diese Stimmung in stiller Ergriffenheit ausklingen; dann schließt die wortgetreue Wiederholung der vorhergehenden Fuge das Offertorium ab.

Bis hierher können wir an der Hand der Partitur Süßmayers Anteil an der Instrumentation genau fest stellen. Obgleich einem kundigen Musiker der Weg durch Mozarts Angaben im allgemeinen vorgezeichnet war, so hatte der Bearbeiter im einzelnen doch noch einen weiten Spielraum, und auch wenn wir von einzelnen Entgleisungen wie den Posaunen des »Lacrimosa« absehen, ist uns in der Begleitung ohne Zweifel manche Feinheit Mozarts verlorengegangen. Von den Blasinstrumenten namentlich hat er fast gar nichts angedeutet, und gerade hier bleibt trotz der mündlichen Unterweisung Mozarts mancher Zweifel. Indessen muß Süßmayer zugestanden werden, daß er nirgends versucht hat, eigenes Gut einzuschmuggeln und daß seine Begleitung nicht störend wirkt.

Die drei letzten Sätze, die in der Originalpartitur ganz fehlen, werfen das Ergänzungsproblem in seiner vollen Schärfe auf. Schon als sie Süßmayer in seinem bekannten Briefe als sein Eigentum in Anspruch nahm, ließ sich eine Stimme vernehmen, »daß die bekannt gewordenen Kunstprodukte des Herrn Süßmayer die Behauptung eines wesentlichen Anteils an diesem großen Werke einer ziemlich strengen Kritik unterwerfen«87; später äußerte Rochlitz seine Bedenken bestimmter88. Auch Gottfr. Weber89 wollte in den letzten Sätzen Mozarts Hand erkennen, die er dafür in den ersten vielfach vermißte. A.B. Marx trat für die Echtheit des ganzen Werkes ein, freilich nur aus allgemein ästhetischen Gründen, da man jene Sätze Süßmayer nicht zutrauen könne90. Seyfried berichtet91, nach einer in Wien allgemein verbreiteten Ansicht habe Süßmayer die drei Sätze aus einem vorgefundenen Entwurf vollendet, auch habe Mozart die »Osanna«-Fuge nach dem »Benedictus« breit ausführen wollen und zu der Schlußfuge »cum sanctis« ein neues Thema bereits im Kopfe gehabt. Nähere Gründe für diese Ansicht sind freilich bisher nicht zutage gekommen. So neigte sich schließlich die allgemeine Meinung mehr und mehr zugunsten Süßmayers.Jahn92 bemerkt dazu, es sei immerhin auffallend, daß man die drei Sätze, wenn sie wirklich gefehlt hätten, nicht aus den in Wien unbekannten handschriftlichen Messen Mozarts ergänzte, sondern durch Süßmayer neu schreiben ließ. In neuester Zeit ist[722] auf Grund stilkritischer Erwägungen besonders R. Handke93 zu dem Ergebnis gelangt, daß die Sätze der Hauptsache nach doch von Mozart herrühren.

Das »Sanctus« schließt sich seinem ganzen Charakter und seiner Textwiedergabe nach einem Typus an, den wir auch in den früheren Messen Mozarts finden94. Das beweist natürlich nichts gegen Süßmayers Autorschaft. Auffallender ist dagegen die Ähnlichkeit des Anfangs mit der ersten Strophe des »Dies irae«95; es ist, in D-Dur statt in d-Moll, derselbe Gang der Melodie wie dort, nur daß im »Dies irae« als zweites Glied (»solvet saeclum in favilla«) noch das Requiem-Thema eingefügt ist. Bei der bedeutungsvollen motivischen Einheit des ganzen Werkes besteht da doch die Wahrscheinlichkeit, daß mozartsches Gut zugrunde liegt; auch der feste und zielbewußte Schritt der Harmonie (I IV V I V) ist ganz mozartisch, und nur die grobkörnige, unpersönliche Instrumentation deutet auf Süßmayer hin. Zweifelhafter wird die Lage beim »Pleni sunt«. Die überwiegende Mehrzahl der früheren Messen Mozarts läßt dem »Osanna« einen Ganz- oder Halbschluß auf der Dominante vorangehen. In unserem Falle erscheint dagegen ein voller Schluß in D-Dur, noch dazu als das Ergebnis eines ziemlich unsicheren Modulationsganges, dem auch ein weit matterer Charakter der Deklamation entspricht. Endlich prallt dieser Schluß mit dem ersten D des Osanna-Themas zusammen und schwächt dadurch die steigernde Wirkung dieses Teils, die bei allen früheren Messen Mozarts beabsichtigt ist, fühlbar ab. Man hat entschieden den Eindruck einer verlegenen Fortsetzung des Bearbeiters, der sich über die Absichten Mozarts nicht im klaren war96. Dagegen fügt sich das Osanna-Thema:


Das Requiem

dem thematischen Gefüge des Werkes wieder sinngemäß ein; seine beiden ersten Motive sind dem »quam olim Abrahae« verwandt, die Schlußpartie beruht auf dem Septimenintervall wie im ersten Kyrie-Thema, nur daß es hier stufenweise durchlaufen wird. Ob freilich auch die Durchführung des Themas Mozart angehört, ist sehr fraglich. Zumal nach dem ersten Einsatz aller vier Stimmen, von Takt 15 ab, fehlt dieser Fuge das charaktervolle harmonische Leben der andern Requiemfugen97, die Gestaltung wird immer matter und flacher bis zu dem recht trivialen Abschluß.[723]

Noch verwickelter liegen die Dinge beim »Benedictus«. Daß sein Anfangsgedanke von Mozart herrührt, geht aus dem früher erwähnten Übungsheft klar hervor98. Aber auch seine Fassung im Requiem trägt unverkennbar das Gepräge seines Geistes. Wir sehen sie aus dem Keime früherer Benediktussätze als letzte und reifste Frucht herauswachsen, sowohl in den beiden ersten, eng verbundenen Phrasen als in dem schönen, echt Mozartschen Abgesang »in nomine Domini«99. Ebenso harmonisch wirkt die variierende Aufnahme des Gedankens durch den Solosopran; sie weitet das ursprüngliche Terzenintervall (»benedictus«) zuerst sprung-, dann schrittweise allmählich bis zur Septime (»in nomine Domini«), was zugleich eine metrische Erweiterung des Ganzen um ein Glied zur Folge hat. Eine edlere Steigerung konnte der Ausdruck der Freude über das Nahen des Gottgesandten nicht finden. Daß die zarte und süße Grundauffassung des Satzes Mozart durchaus entspricht, wissen wir bereits aus den Jugendmessen100.

Dem doppelten Anruf durch die beiden Frauenstimmen schließt sich das ganze Soloensemble in imitatorischer Führung an, und zwar mit einer so natürlichen Weiterentfaltung des bisherigen Gedankenstoffes, daß man, von der Instrumentation immer abgesehen, nur sehr schwer an das Eingreifen einer fremden Hand zu denken vermöchte, zumal da auch die sichere Führung der Harmonie keinen Anlaß dazu bietet. Mit fester Hand wird die Dominanttonart F-Dur ergriffen und befestigt. Um so mehr befremdet dagegen das Folgende, das zunächst ziemlich aufdringlich einen neuen, dem früheren »et lux perpetua« entsprechenden Gedanken einführt. Das widerstrebt Mozarts Art durchaus. Er schließt außerdem auch gar nicht ab, sondern endet nach ziemlich unsicherem Schwanken mit einem verlegen klingenden Solo der Bassetthörner auf dem Halbschluß auf C-Dur, und harmonisch ebenso unsicher verläuft der Gesangsmittelsatz. Mozart weiß sonst seine Mittelsätze weit zielbewußter und spannender anzulegen, der unsrige flattert dagegen ziemlich unstät um das F-Dur herum und beraubt sich schließlich noch durch die Vorwegnahme des B-Dur selbst der Wirkung, die diese Tonart bei ihrem Wiedereintritt im dritten Teil eigentlich tun sollte. Dazu kommen die leeren, wenig ausdrucksvollen und vor allem mit den vorhergehenden nicht harmonierenden Motive dieser Partie sowohl im Gesange als im Orchester; die lebendigen Gebilde des Anfangs schwinden hier zu einem blutlosen, schattenhaften Wesen zusammen. Wie kam nun aber Süßmayer, dessen Hand hier offenkundig zutage tritt, überhaupt darauf, den Zwischensatz einzuschieben? Am nächsten liegt der Gedanke an ein von Mozart skizziertes Orchestermotiv in Takt 18, etwa:


Das Requiem

[724] das aber nicht einen neuen Teil einführen, sondern in einer dem Takt 27 entsprechenden Form wieder zum Anfang zurückführen sollte101. Demnach wäre das von Mozart beabsichtigte »Benedictus« zweiteilig gewesen. Dieser zweite Teil, der die beiden Unterstimmen mit dem Hauptgedanken zu Worte kommen läßt, verkürzt zunächst den Gesang des Tenors um einen Takt, spinnt aber dafür den Anteil des Ensembles weit breiter aus. Den Anlaß dazu gibt der Abstieg in die Unterdominantregion von Takt 31 ff. ab, die schließlich mit gewaltiger Steigerung zu dem Höhepunkt des 38. Taktes emporführt. Von da an entspricht der harmonische Gang durchaus dem ersten Teil bis zum 46. Takt, mit dem die kleine Coda beginnt. Die einzelnen Motive und die Satzführung sind zwar dem ersten Teile verwandt, aber in ihrem Gefühlsausdruck ungemein gesteigert; es ist dieselbe Art, einem Stamme immer vollere und edlere Triebe zu entlocken, die wir schon bei den beiden allerersten Stimmeinsätzen beobachteten, und echt mozartisch ist auch die Coda, deren ekstatischer Beginn schließlich in das leise dolce des letzten »in nomine Domini« ausmündet. Das Nachspiel nimmt den unglücklichen Süßmayerschen Mittelsatzgedanken wieder auf. Nach alledem ist Handkes Vermutung102 sehr wahrscheinlich, daß die Gesangsstimmen des ersten und dritten Teils samt der bezifferten Baßstimme von Mozart herrühren, der Mittelteil und das Nachspiel dagegen von Süßmayer. Auch die Instrumentation des Ganzen erweckt Bedenken, nicht allein wegen der zwei Posaunen, die hier ganz im Gegensatz zu Mozarts sonstigem Brauch angewandt sind, sondern vor allem auch wegen ihrer unpersönlichen, schematischen Behandlung, die sich mit wenig ausdrucksvollen Figuren, Tremoli usw. an Stelle der feinen Arbeit Mozarts begnügt103. Es ist die Art der Süßmayerschen Kirchenwerke, nicht die des Mozartschen Requiems.

Das ungeschickte Nachspiel des »Benedictus« bringt auch das folgende »Osanna« um seine Wirkung. Es erscheint als unorganisch angefügtes Anhängsel, während es doch die Stimmung des vorhergehenden Soloensembles in mächtiger Tuttiwirkung ausklingen lassen soll. Seine Stimmführung ist eine andere als im »Osanna« des »Sanctus«, auch ist es nach der ersten Durchführung um fünf Takte verkürzt; trotzdem ist der Gesamteindruck derselbe.

Noch leuchtender als in diesen Sätzen steigt Mozarts Bild im »Agnus Dei« auf, nicht allein im Ausdruck, sondern auch im Zusammenhang seiner Motive mit dem Ganzen104. Der dreimalige Ruf »Agnus Dei« gliedert das Stück in drei Teile, die alle in der Oberstimme mit dem für das ganze Requiem so charakteristischen Halbtonschrittmotiv:


Das Requiem

[725] beginnen und dazu das entsprechende Baßmotiv:


Das Requiem

aufweisen, das sich zudem beim erstenmal noch zu dem alten Requiem-Thema erweitert, wie am Anfang des »Dies irae«. Überhaupt nimmt sich das ganze erste »Agnus Dei« (bis Takt 9) wie eine inbrünstig gesteigerte Variante des Requiem-Gedankens aus105. Dazu kommt endlich die durchlaufende Begleitungsfigur:


Das Requiem

Ihr erster Keim liegt in dem »Qui tollis« der Messe K.-V. 66, sie klingt mit ihrem engen Umkreisen des Quinttons auch schon im »Benedictus« (T. 27) an106 und fügt sich mit ihren beiden Halbtonschritten dem Ganzen organisch ein. Auch in sich sind die drei Teile von einer wunderbaren Symmetrie des Baus. Jeder beginnt mit einem aus tiefstem Herzen kommenden, gleichsam händeringenden Flehen, das den Ausdruck in gewaltiger harmonischer Steigerung auf einen emphatischen Halbschluß hinauftreibt, dann folgt jedesmal durch Trugschluß107 der ergreifende, echt Mozartsche Umschlag in die friedevolle Stimmung des »Dona«, dessen ganz aus Mozartschem Geist heraus geborener Gedanke alle Teile refrainartig beschließt. Der zweite Teil wirkt nicht allein durch seine erregtere Harmonik, sondern auch durch die abwärts führende Melodielinie seiner fast schluchzend hervorgestoßenen Phrasen steigernd. Deshalb ist auch sein gegensätzlicher Abschnitt breiter ausgeführt. Denn die Melodie:


Das Requiem

eine der überwältigendsten Partien des Werkes, ist nichts als eine von Meisterhand entworfene Variante des ursprünglichen Refrains:


Das Requiem

[726] der auch alsbald im Orchester nachklingt. Der dritte Teil zieht den Kreis der Tonarten abermals weiter, vor allem durch die schöne, an das »Confutatis« anklingende Umdeutung des H im Basse in Ces, die weiterhin den Halbschluß auf B herbeiführt. Der Umschlag des »Dona« ist harmonisch diesmal nicht so scharf, dafür mündet es in den verminderten Trugschlußakkord aus, der nunmehr auf »sempiternam« den Ton b' so geheimnisvoll in der Schwebe hält, bis er sich über die wunderbare Zwischenharmonie Ges-Dur hinweg als Vorhaltston des abschließenden F-Dur-Akkords enthüllt.

Das ganze »Agnus Dei« ist von einer so starken Inspiration getragen und so eng mit dem Ganzen verknüpft, daß Süßmayers Verfasserschaft bei allem Respekt vor seinem Können so gut wie ausgeschlossen ist, es sei denn, man glaubte an das Wunder, daß sich hier das eine Genie, nämlich Süßmayer, in das Schaffen des anderen bis zur Selbstaufgabe eingelebt hätte.

Vom »Lux aeternam« an kehren die ganze Partie des Introitus vom »Te decet hymnus« an und die Kyrie-Fuge mit entsprechend verändertem Text wieder. Nach Konstanze108 war das die Absicht Mozarts. Allerdings dürfen dabei die Worte »wenn er stürbe ohne es zu endigen« nicht übersehen werden; sie können auch einen Notbehelf Mozarts andeuten, womit er einem Süßmayerschen Originalschluß vorbeugen wollte. Eine solche Wiederholung des Anfangsteils am Schluß war damals nichts Seltenes, sie findet sich auch bei Mozart in den Messen in C-Dur (K.-V. 220 und 317)109. Auch im Requiem mag man die Wiederkehr der alten liturgischen Weise und des »Dona« gelten lassen, obgleich der organische Zusammenhang, der sie im Anfangssatz mit dem Ganzen verbindet, hier gelöst wird und die Anknüpfung weit äußerlicher geschieht. Weit stärkere Bedenken erweckt dagegen die Wiederholung der Kyrie-Fuge auf den ganz anderen Text »cum sanctis tuis in aeternum«. Was hat der leidenschaftliche Schmerz des Kyrie-Themas mit den Heiligen des Herrn zu schaffen? Außerdem verliert das Gegenthema dadurch, daß es jetzt seinen eigenen Text einbüßt, viel von seinem Ausdruck. Ihrem ganzen Charakter nach scheint endlich diese Fuge wenig für den zuversichtlichen und ergebenen Schluß des Ganzen geeignet, denn sie beendet am Anfang wohl das erste Stück, deutet aber mit ihrer Erregung zugleich fühlbar auf das »Dies irae« voraus. Bei den Wiederholungen anderer Meister handelte es sich meist um Tongedanken allgemeinen Charakters, bei denen die Verschiedenheit der Texte weniger stark empfunden wurde; sie wurde ausgeglichen durch den allgemein kirchlichen Ton und den Eindruck der formalen Abrundung. Mozarts Requiem dagegen gibt sich bei aller Wahrung des kirchlichen Gepräges weit persönlicher und sucht seinen Text auch im einzelnen zu erschöpfen, wie das ja in ganz hervorragendem Maße im »Agnus Dei« der Fall ist. Tatsächlich weist diese gewaltige Eingangspartie des Schlußsatzes auf eine andere Fortsetzung hin, worin Mozart, hätte er sein Werk noch selbst vollenden können, die Einheit nicht in einer äußerlich formalen Abrundung, sondern in der Gestaltung[727] der Musik aus dem Texte und aus dem Geiste des Ganzen heraus erreicht hätte. Diese Krönung seines Werkes ist uns freilich völlig verloren, während sich in den andern umstrittenen Sätzen wenigstens die künstlerischen Absichten des Meisters mehr oder weniger feststellen ließen.

Mozarts Requiem ist ein im besten Sinne kirchliches und doch für seine Zeit ein durchaus modernes Werk. Kirchlich ist nicht allein die Verwendung liturgischer Melodien und die Anlehnung an die Formen der strengen Kontrapunktik, sondern vor allem das Streben, von Bekanntem, Typischem auszugehen und es erst durch die Behandlung ins Individuelle zu erheben, ferner die knappe Sachlichkeit, die ohne alle Abschweifungen in die reine Musikfreudigkeit stets Dienerin des Wortes bleibt. Es war ganz verfehlt, wenn manche Kritiker, offenbar unter dem Eindruck der Entstehungsgeschichte des Werkes, ihm Mangel an Einheitlichkeit vorwarfen110. Dem widersprechen schon die durchgehenden melodisch-harmonischen Typen, ganz abgesehen von der Einheit der Stimmung. Das verbindet das Requiem wiederum mit der »Zauberflöte«, und mit dieser hat es auch die dramatisch bewegten Gegensätze gemein. Hierin liegt ein moderner Zug, der sich nicht mit dem allgemeinen Anregen bestimmter Gefühle begnügt, sondern den seelischen Verlauf im einzelnen widerspiegeln will. Immer wieder tritt uns aus der Partitur der Dramatiker Mozart entgegen, nicht im Sinne des Opernkomponisten, des Theatralikers111, sondern in dem Sinne, wie auch Bach in seinen Vokalwerken und Schubert in seinen Liedern gelegentlich den Dramatiker hervorkehren. Mozart hatte recht mit seinem Worte, daß er dieses Requiem für sich schreibe, in weit tieferem Sinne, als es ursprünglich gemeint war: es ist sein eigenstes persönliches Bekenntnis von den letzten Dingen, und die Bestellung von außen gab nur den äußeren Anlaß dazu, daß es sich von seiner Seele loslöste.

Daß er mit diesem Requiem seiner Zeit aus dem Herzen gesprochen hatte, beweist sein ungeheurer, stetig wachsender Erfolg. Schon J. Haydn prophezeite auf dieses eine Werk hin Mozart die Unsterblichkeit112. Nament- in Norddeutschland, wo die SchuleJ.S. Bachs gerade gegen das Ende des 18. Jahrhunderts eine eifrige Tätigkeit zugunsten ihres Meisters entfaltete, erkannte man instinktiv die nahe Verwandtschaft des Requiems mit dessen Geist. Der Erfurter Organist Joh. Chr. Kittel, Bachs letzter Schüler, fühlte sich von dem Werke, dessen Komponist ihm zunächst unbekannt blieb, mächtig angezogen und war ganz erstaunt, daß es von Mozart herrührte, dem Komponisten beliebter Opern, die er übrigens auch nicht kannte. Er[728] ließ sie sich daraufhin geben und war vorurteilsfrei genug, auch in ihnen den Schöpfer des Requiems zu erkennen und zu schätzen113.

In Leipzig nahm sich J. A. Hiller voll Bewunderung des Werkes an, führte es sogleich auf und bürgerte es in Leipzig ein114. In Berlin ehrte die Singakademie am 8. Oktober 1800 das Gedächtnis ihres kürzlich verstorbenen Stifters Fasch durch die erste Aufführung des Requiems: es war zugleich die erste öffentliche der Akademie115. Von da ab begann Mozarts Totenmesse allen übrigen den Rang abzulaufen, wenn es galt, das Andenken großer Männer, namentlich Musiker, zu feiern, in Berlin116 wie anderswo117. Zelter meinte, sie ließe sich überhaupt nicht unter die Erde bringen, weder durch schlechte Kritiken noch durch schlechte Aufführungen118. In manchen, auch kleineren Städten blieb sie das ganze Jahrhundert hindurch das bevorzugteste Werk an den Totenfestaufführungen119. In Paris führte Cherubini 1804 das Requiem in glänzender Weise auf120, 1840 aber erschien es bei der Leichenfeier Napoleons, unter Übergehung der französischen Komponisten121. Was den Opern Mozarts nicht gelungen war, gelang seinem Requiem: es eroberte sich die italienischen Städte Venedig122, Turin, Florenz und Neapel, ja es drang bis nach Lissabon, Lemberg, Warschau, Petersburg und Stockholm vor123 und überschritt mit einer Aufführung in Rio de Janeiro sogar erstmals den Ozean124. Sein Ansehen war so groß, daß es in den ersten drei Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts auch bedeutendere Totenmessen anderer Meister in den Schatten stellte.

Fußnoten

1 Die ältere Literatur findet man in O. Jahns Aufsatz »Die Kontroverse über das Requiem« in der Beilage XIII. Von neueren Arbeiten vgl. Pressel, Der Klavierlehrer IV (1881) Nr. 18–22 und Engl, Festschr. zur Mozart-Zentenarfeier 1891, S. 73. Beide behandeln ein bei André befindliches, angeblich von Mozart herrührendes, vollständig instrumentiertes Manuskript des »Domine Jesu« und »Hostias« und schließen daraus auf die Existenz eines zweiten, vollständigen Originalkonzeptes von Mozart, das auch Süßmayer benutzt habe. Das steht aber mit Mozarts ganzer sonstiger Arbeitsweise im Widerspruch und verträgt sich nicht mit den Angaben Konstanzes und Stadlers, so daß es auf sich beruhen kann. Vgl. ferner André, Beiträge zur Geschichte des Requiems von W.A. Mozart 1829. Mosel, Über die Originalpartitur des Requiem, Wien 1839. Köchel, Rezensionen und Mitteilungen, Wien 1864. Analysen von A. Hahn, Mozarts Requiem, Bielefeld 1868. Kretzschmar, Führer II 14, 274 ff. und Breitkopf & Härtels Musikbücher Nr. 512. Von sehr fruchtbarer stilkritischer Seite aus behandelt neuerdings die Frage R. Handke, Zur Lösung der Benediktusfrage in Mozarts Requiem, ZfM I 108 ff. Wichtig ist endlich auch das phototypische Faksimile des Autographs, das A. Schnerich 1914 herausgab.


2 Vgl. dessen Bescheinigung: »Endesunterzeichneter bekennet hiemit, daß ihm die verwittwete Frau Konstanzie Mozart das von ihrem seligen Herrn Gemahl angefangene Seelenamt zu vollenden anvertraut; derselbe erkläret sich, es bis auf die Mitte der künftigen Fastenzeit zu enden und versichert zugleich, daß es weder abgeschrieben, noch in andere Hände als die der Frau Witwe gegeben werden soll. Wien den 21. Dez. 1791.« Mozart hatte ihm am 30. Mai 1790 folgendes Zeugnis ausgestellt: »Ich Endesgefertigter bescheinige hiermit, daß ich Vorzeiger dieses, Herrn Joseph Eybler, als einen würdigen Schüler seines berühmten Meisters Albrechtsberger, als einen gründlichen Componisten, sowohl in Kammer- als Kirchenstyl gleich geschickten, in der Setzkunst ganz erfahrnen, auch vollkommenen Orgel- und Klavierspieler, kurz als einen jungen Musiker befunden habe, wo es nur zu bedauern ist, daß seinesgleichen so selten ist.« N. Berl. Mus. Ztg. 1858 S. 244. In einem Briefe an Konstanze, nach Spitta aus dem Herbst 1789, nach Deiters (J II4 660) aus 1790, bemerkt Mozart: »Wir sind auf die Schwechat zu einem Amt und zu Mittage eingeladen.« In Schwechat war Eyblers Vater Schullehrer und Regenschori.


3 Köchel, Rezensionen S. 753.


4 S.o.S. 587.


5 Die Witwe berichtete später an Stadler: »Als Mozart sich schwach fühlte, mußte Süßmayr öfter mit ihm und mir das was geschrieben war durchsingen, und so bekam er förmlichen Unterricht von Mozart. Und ich höre noch Mozart, wie oft er zu Süßmayr sagte: ›Ei, da stehen die Ochsen wieder am Berge, das verstehst du noch lange nicht.‹« Stadler, Nachtr. S. 40. Diese Äußerung war auch ihrer Schwester Sophie lebhaft im Gedächtnis geblieben.


6 Die beiden Sätze sind auf fünf Bogen des bei Mozart gewöhnlichen zwölfzeiligen italienischen Notenpapiers in Querformat geschrieben und wie gewöhnlich von 1 bis 10 foliiert, nicht paginiert; die drei letzten Seiten sind leer. Die Überschrift lautet »Di me W.A. Mozart 1792«; Mozart nahm also das Jahr der voraussichtlichen Vollendung vorweg.


7 Verteid. S. 46.


8 Darauf macht mit Recht Deiters bei J II4 691 aufmerksam.


9 Konstanze an André, Cäcilia VI 202.


10 Von Mozarts Originalentwürfen erhielt die Blätter 11–32 (»Dies irae« bis einschließlich »Confutatis«) der Abt Stadler und überließ sie der Wiener Hofbibliothek, die übrigen (33–45, mit »Lacrimosa«, »Domine« und »Hostias«) erwarb Eybler und schenkte sie derselben Stelle. Eine genaue Kopie aller Blätter gab André 1829 unter dem Titel »Partitur des ›Dies irae‹ usw.« heraus und rekonstruierte außerdem, ein wunderlicher Einfall, einen ähnlichen Partiturentwurf des »Requiem« und »Kyrie«. Über die im Mozartschen Entwurf enthaltenen Versuche (sicher von Eyblers Hand), die Partitur auszufüllen, vgl. Brahms im R.B. Eybler und Stadler hatten ihre Partituranteile von Konstanze erhalten, der sie Süßmayer zurückgegeben hatte, vgl. Konstanzes Brief vom 2. Juni 1802.


11 Vgl. darüber und zum Folgenden die Beilage XIII: »Die Kontroverse über das Requiem«.


12 Stadler, Verteidigung S. 17. Die Schwester des Grafen Walsegg, Gräfin Sternberg, verkaufte seinen Musikalischen Nachlaß an den Verwalter Leutgeb; von diesem gelangte sie über den gräfl. Amtsschreiber Karl Haag an die Frau Katharina des Stuppacher Gerichtsdieners Adelpoller. Durch den Justizkommissar Novak zu Schottwien, den früheren gräfl. Walseggschen Verwalter, wurde Graf Moritz v. Dietrichstein, der Präfekt der k.k. Hofbibliothek, auf die Partitur hingewiesen und erwarb sie um 50 Dukaten für seine Bibliothek.


13 AMZ XLI 81, NZfM X 10. Cäcilia XX 279.


14 Die letzten sechs Takte des »Tuba mirum« (S. 27), über deren Herkunft Jahn (II2 695 f.) noch im Zweifel war, rühren in der Instrumentation nicht von Mozart, sondern von dritter Hand (Eybler oder Stadler?) her, die auch an einer anderen Stelle die Bratschenstimme besser als Süßmayer geführt hat, vgl. Brahms R.B.S. 56 und Deiters bei J II4 670.


15 AMZ I 178. Cäcilia IV 288.


16 Stadler, Nachtr. S. 6, und Konstanzes Brief vom 17. Nov. 1799 bei Nohl, Mozart nach den Schilderungen usw. S. 331.


17 AMZ XXIX 520.


18 Cäcilia IV 308. Der Dresdener Sänger Mariottini kopierte sich, vermutlich nach einer Prager oder Wiener Abschrift, das Requiem, Kyrie und Dies irae und fügte hinzu: »L'offertorio, il Sanctus el' Agnus Dei non gl' ho trascritti perchè non mi anno parso essere del valore del precedente, ne credo ingannarmi nel crederli opera di un' altra penna«. Cäcilia IV 301 f., 310 f.


19 Von Friedrich Wilhelm II. erhielt sie dafür 100 Dukaten, Cäcilia VI 211.


20 Häser erzählt, daß ein Thomaner Jost, ein guter Notenschreiber, für Mozarts Witwe bei ihrem Aufenthalt in Leipzig zweimal die Partitur kopierte. Cäcilia IV 297.


21 Rochlitz, Für Freunde der Tonkunst I3 S. 17.


22 In einem Briefe an Härtel (10. Okt. 1799) teilt sie ihm ihren Entwurf zu einer solchen Aufforderung mit: »Da der edle Anonym, welcher dem sel. Mozart wenige Monate vor seinem Tode den Auftrag gab ein Requiem zu componiren, solches nach Verlauf von mehr als 7 Jahren noch nicht hat öffentlich bekannt werden lassen, so sieht die Wittwe dieses Verfahren mit Dankbarkeit für einen Beweis an, daß derselbe ihr noch einen etwaigen Vortheil von der Herausgabe gönnen wolle. Indeß hält sie es zu mehrerer Sicherheit für sich und als eine Folge der Empfindungen, die derselbe ihr eingeflößt hat, für ihre Pflicht, den edlen Mann in den Wiener, Hamburger und Frankfurter Zeitungen aufzufordern, ihr seine Gesinnungen innerhalb drei Monaten gefälligst zu erkennen zu geben, nach welcher Zeit sie es wagen wird, das Requiem in den sämmtlichen Werken ihres Verstorbenen herauszugeben.«


23 So ist auch das ohne äußere und innere Beglaubigung seines Ursprungs bei Simrock in Bonn unter Mozarts Namen gedruckte »Requiem brevis« in d-Moll K.-V. 237 Anh. ohne Bedenken für unecht zu erklären.


24 AMZ I Int. Bl. S. 97 f.


25 Stadler, Verteidigung S. 14 f.


26 Nissen, Nachtr. S. 169 f.


27 Diese erneute Vergleichung ergab nur wenige Berichtigungen der 1800 bei Breitkopf & Härtel im Druck erschienenen Partitur, die Konstanze nachträglich brieflich am 6. und 10. August Härtel mitteilte, vgl. AMZ IV 30 f. Das revidierte Exemplar liegt dem von André veröffentlichten Klavierauszuge und seiner Ausgabe der Partitur (1827) zugrunde. Hier ist der Anteil Mozarts und Süßmayers durch die Buchstaben M und S kenntlich gemacht. Der Vorbericht ist in der Cäcilia VI 200 f. wieder abgedruckt.


28 Über seine allerfrühesten Werke vgl. jetzt W. Kurthen, ZfM III 194 ff., 337 ff., der sie eingehend behandelt, namentlich auch auf ihr Verhältnis zu Hasse, Eberlin und L. Mozart hin und sich damit um die Erkenntnis der geschichtlichen Grundlagen dieser Werke sehr verdient gemacht hat. Nur die von ihm angenommenen Einflüsse Glucks, Händels und der »tombeaux« der französischen Oper scheinen mir problematisch.


29 Sie findet sich in der Messe K.-V. 65 (I 130 f.), ferner in dem unvollendeten Kyrie K.-V. 90, dem Münchner Kyrie (K.-V. 341, s. I 658) und dem »Misericordias« (K.-V. 222, I 314 f.), in dessen Beginn auch bereits unser Anfangsthema auftaucht.


30 Es ist dieselbe, die in dieser Zeit öfter als Kontrapunkt erscheint, s.o.S. 636.


31 Kretzschmar, Führer II 14 277 erinnert an den Beginn von Händels Begräbnisanthem, s. Notenbeilage XI la. Vgl. die Choralanfänge von »Herr Jesu Christ, du höchstes Gut« und im Hugenottischen Psalter »Mon Dieu, preste moy l'oreille par ta bonté non pareille«. Douen, Clément Marot et le Psautier Huguenot, Paris 1878, I. 650.


32 Kretzschmar a.a.O.


33 An eine noch ältere Kunst klingen in Mozarts Werk einige typische altertümliche Kadenzwendungen an, wie


Das Requiem

34 Bezeichnend ist, daß dieser Dominantschluß im Vorhergehenden geflissentlich umgangen wird, wie denn überhaupt trotz allen Abweichungen der d-Moll-Charakter stets festgehalten wird.


35 Tief ergreifend ist das des'' beim zweiten »luceat«, das sich musikalisch aus dem vorhergehenden Halbtonschritt a'' b'' ergibt und die Wehmut des Orchesterzwischenspiels nun auch auf den Gesang überträgt.


36 I 240. Die Behandlung dieser Stelle ist nach dem Ritual verschieden. Jommelli bringt in seinem Requiem beide Psalmverse, Hasse und Zelenka den ersten,Asola (in Proskes »Musica divina«) nur die Worte »Te decet hymnus in Sion«, Pitoni (ebenda) komponiert beide Verse frei.


37 Das aufschlagende Motiv bei »exaudi« kommt bereits im Kyrie der c-Moll-Messe (K.-V. 427) auf »eleison« vor.


38 Ähnlich schon im »Gratias« der c-Moll-Messe. Man beachte hier auch den scharfen Querstand f'' fis im 27. Takt.


39 Zweifellos kam die Anregung zum ersten Thema von dem Messias-Chor »And wit his stripes we are healed«, und zur Verbindung des ersten und zweiten von dem Cho »Hallelujah! we will rejoice in the salvation« aus Händels »Joseph«, s. Notenbeilage XI, 2–3. Über den alten Typus mit dem verminderten Septimensprung vgl. I 131, 327.


40 Das begann mit Mozarts Messen schon früh, vgl. Sievers, Mozart und Süßmayer S. 15 f. Schiffner AMZ XLV 581. Cäcilia XXIII 95 f.


41 Nach Nägeli (Vorlesungen S. 99 f.) ist sie durch die Verletzung der Verwandtschaft der Tonarten und des Verhältnisses von Dur und Moll zu einem barbarischen Tongewühl geworden. G. Weber tadelt (Cäcilia III 216 f.) in den Chorstimmen die »wilden Gurgeleien« und die »kraus verbrämten Schlangengänge« im »Christe«, ein Urteil, das Beethoven in seinem Exemplar am Rande heftig rügte. Auch Schwencke findet (AMZ IV 8) das Thema des »Christe« als ungenügend für den Ausdruck der feierlichen Bitte und des demütigen Flehens.


42 Hier wird zweimal das d ominantische a-Moll berührt, das weiterhin aus der Fuge überhaupt verschwindet.


43 R. Handke, ZfM I 120.


44 Auch der Baß antwortet in B-Dur, während das zweite Thema sich erst nach zweimaligem Ansatz entfaltet und die Richtung nach aufwärts beibehält.


45 Das erste Thema im Baß nimmt hier erstmals das Schlußmotiv des zweiten auf und verstärkt dadurch die Wirkung des verminderten Intervalls.


46 Man beachte die Tonartenfolge des Ganzen: d-a-d-a-F-g-c-B-f-d. Das erste Thema erscheint zwölf-, das zweite achtzehnmal.


47 Vgl. dazu in der »Zauberflöte« z.B. den Schluß des Quartetts: »Wir wandeln durch des Tones Macht«.


48 P. Wagner, Geschichte der Messe I, Leipzig 1913, S. 20 ff.


49 P. Wagner, Einführung in die gregorianischen Melodien I 12. Freiburg (Schweiz) 1901, S. 253 ff. H. Riemann, Handbuch der Musikgeschichte I 2, 1905, S. 116 ff. K. Bartsch, Die lateinischen Sequenzen des Mittelalters in musikalischer und rhythmischer Beziehung, 1868.


50 R. Handke a.a.O. S. 122.


51 Auch bei dem Erdbeben der Matthäuspassion Bachs, die Mozart natürlich nicht gekannt hat, spielen die chromatisch aufwärts drängenden Bässe eine große Rolle.


52 Der chromatische Aufstieg liegt diesmal im Sopran: c'' – cis'' – d'' – es'' – fis'' – g''.


53 Kretzschmar a.a.O. empfiehlt, die Tenöre hier mit den Bässen gehen zu lassen.


54 Die Anregung dazu kam Mozart vielleicht aus der »Missa della morte« von F. Tuma.


55 Man beachte in dieser Partie überhaupt die Vorliebe für den Halbtonschritt.


56 Auch hier besteht eine Verwandtschaft mit dem Introitus, s.o.S. 707. Auch das erste »Quantus tremor« gehört hierher.


57 Hiller hatte aus Rücksicht für den ungenügenden Spieler das Solo von T. 5 an dem Fagott übertragen, was dann in die frühere gedruckte Partitur überging, Cäcilia VIII 54 f. AMZ IV 10. Die Soloposaune findet sich auch bei Tuma.


58 Nach dem ersten Abschnitt erscheint im Orchester unisono das Hauptmotiv als Verbindungsglied.


59 Es ist ein ähnliches Umkreisen des a wie im vorangehenden »Quantus tremor est futurus«.


60 Nur die nach der Quint aufschlagenden Mozartschen Terzenschlüsse, die auch im Requiem sehr häufig vorkommen, hat sie mit den übrigen Stimmen gemein.


61 Von großer Wirkung ist am Anfang die Feststellung der Tonart g-Moll durch die Kadenzfolge I IV VI.


62 Schwencke beanstandete (AMZ IV 11) den d-Moll-Schluß mit Unrecht, denn er ist sowohl aus dem Charakter des ganzen Werkes als aus dem F-Dur des folgenden Satzes vollauf gerechtfertigt.


63 Vgl. die Baßlinie: vorher G Es C D, jetzt D B G A.


64 Er ist der Sextakkord der eigentlichen Trugschlußharmonie Es-Dur.


65 Hogarth, Mem. of the opera II 199.


66 Es ist der engstufige Baßgang F G As G, später sogar Fis G As G, der nach Mozartscher Art die Dominante G beständig umkreist.


67 Das unvermittelte Nebeneinanderstellen dieser beiden Molltonarten findet sich auch im »Dies irae« und umgekehrt im Altsolo des »Tuba mirum«.


68 Wiederum ist sein Träger der Baß H C Des C.


69 S.o.S. 712.


70 Die Figur ist der des »Recordare« verwandt.


71 Charakteristisch ist dabei wieder der Halbtonschritt.


72 Hier liegt eine latente chromatische Mehrstimmigkeit zugrunde:


Das Requiem

die mit der Sequenzbildung des Schlusses in innerer Beziehung steht.


73 E. Kurth, Romantische Harmonik S. 302 ff.


74 Vgl. den aufschlagenden Sextensprung a'-f''.


75 Später ging er noch bei Salieri in die Lehre; die Wiener Zeitung kündigt ihn bei der Aufführung seiner Oper »L'incanto superato« (8. Juli 1793) als »Schüler des Herrn Salieri« an. Zu Mozarts Lebzeiten wäre dieser doppelte Unterricht wenig wahrscheinlich.


76 Nicht verschweigen will ich freilich, daß nach der Sieversschen Klanganalyse zwar nicht im 9., aber im 12. Takt ein Bruch vorhanden ist. Ich benütze mit Freuden die Gelegenheit, meinem Leipziger Kollegen, Geh. Hofrat Prof. Dr. Ed. Sievers, für die Unterstützung herzlichst zu danken, die er mir mit seiner Methode bei der Untersuchung des Mozartschen und Süßmayerschen Anteils angedeihen ließ. Ich werde noch öfter darauf zurückzukommen haben.


77 Vgl. besonders die Baßschritte D C H C.


78 P. Wagner, Geschichte der Messe I 5.


79 Die Modulation nach B-Dur ist die für das ganze Requiem typische.


80 Vgl. den Richtungsgegensatz des Dreiklangsmotivs gegenüber dem Hauptgedanken.


81 Dahinter steckt eine verborgene Mehrstimmigkeit:


Das Requiem

82 Die Folge gc-ad läßt eine harmonische Sequenz erkennen. Beide Stimmenpaare stellen eine absteigende Skala her, Tenor und Alt von g bis f, Sopran und Baß von a bis b, denn die eine Stimme beginnt immer mit dem Schlußton der andern.


83 Vgl. den charakteristischen Halbtonschritt, wie auch oben bei »de ore leonis«.


84 Die Einsätze stellen wiederum eine Sequenz dar: g-c, f-b.


85 Dies tadelte G. Weber, Cäcilia III 222 f., dagegen bereits Seyfried ebenda IV 296.


86 Kretzschmar a.a.O. S. 281 schließt aus den leeren Blättern im Autograph auf einen von Mozart beabsichtigten größeren Umfang der Fuge, was jedoch im Hinblick auf ihre Einheit nicht sehr wahrscheinlich erscheint.


87 AMZ IV 4.


88 Cäcilia IV 289. AMZ XXV 687.


89 Cäcilia III 226, IV 279.


90 Berl. Mus. Ztg. 1825, S. 378 f.


91 Cäcilia IV 307.


92 J II4 695.


93 ZfM I 108 ff.


94 So z.B. in K.-V. 66 und 139. Auch die Harmonik deckt sich hier mit dem Requiem mit Ausnahme der Ausweichung nach der Unterdominante.


95 Handke S. 122.


96 Handke empfiehlt S. 129, diesen Schlußakkord einfach wegzulassen und mit einer Fermate auf dem vorhergehenden Takt zu schließen. Das würde jedoch nur als ein Abreißen, nicht als ein wirklicher, vorbereitender Halbschluß empfunden werden, trotz dem letzten auf das »Osanna« vorausweisenden Halbtonschritt des Soprans, der hier sicher keine besondere motivische Bedeutung hat, sondern der gebräuchlichen alten Kadenzwendung angehört.


97 Nach E. S ievers setzt mit T. 15 der Süßmayersche Anteil ein.


98 S.o.S. 115 f.


99 Das alles weist sehr treffend und feinsinnig R. Handke S. 109 ff. nach.


100 S I 255. Auch E. Sievers hält die ersten 18 Takte für echt.


101 Diese Vermutung Handkes S. 117 ist sehr einleuchtend. Auch nach E. Sievers ist der Mittelteil von einer andern Hand.


102 S. 119.


103 Handke will die Instrumentation des ersten Teiles auch noch Mozart zuweisen (S. 118 f.).


104 Auch J II4 698 schreibt die Hauptidee Mozart und nur die Ausführung Süßmayer zu. Nach E. Sievers gehört der ganze Satz gleichfalls Mozart.


105 Handke S. 121 ff.


106 Handke S. 126.


107 Gleich im ersten Teil stoßen wir auf die dem ganzen Requiem eigentümliche Modulation von der Dominante der Hauptmolltonart nach der parallelen Durtonart, nur ohne jede Vermittlung, s.o.S. 712.


108 S.o.S. 703 f.


109 I 410, 656.


110 Zelter (Briefw. II 506 f.) nennt das Werk bei aller Bewunderung »brüchig, ungleich, aus einzelnen eingelegten Stücken bestehend«. Auch J. Paul drückt sich Herder gegenüber ähnlich aus (Aus Herders Nachlaß I 313).


111 Schon Zelter meint a.a.O., in manchen Sätzen offenbarten sich die »letzten Reste einer großen Schule« und zugleich »der leidenschaftliche Sinn eines Theater-Componisten«. In Tiecks »Phantasus« (Schr. IV 426) preist Ernst das Genie Mozarts; »nur muß man mich kein Requiem von ihm wollen hören lassen«. Ähnlich Krüger, Beitr. für Leben und Wissenschaft der Tonkunst S. 199 f.


112 S.o.S. 46.


113 Vgl. J II4 700 f.


114 Rochlitz, Für Freunde der Tonkunst I3 16 f. Häser, Cäcilia IV 297. Vgl. auch Körners Brief an Goethe vom 29. Mai 1796, Goethe-Jahrbuch VII 54.


115 Blumner, Geschichte der Singakademie zu Berlin S. 30 f.


116 1805 für die Königin-Witwe, 1815 für den Akademiedirektor Frisch, 1821 für A. Romberg, 1832 für Bernh. Klein, 1833 für den Fürsten Radziwill, 1837 für den Grafen Brühl, 1839 für Ludw. Berger, 1840 und 1861 für die Könige Friedrich Wilhelm III. und IV.


117 So am 16. Febr. 1803 in Prag zum Andenken des Hornisten Punto (Prochazka S. 196), am 12. Mai 1805 in Weimar zum Gedächtnis Schillers (Goethe-Jahrbuch II S. 421, nach Vulpius' Briefen), ferner in Leipzig zum Gedächtnis Schichts 1823 (AMZ XXV 405), in Wien zum Gedächtnis C.M.v. Webers (AMZ XXVIII 734), Beethovens (AMZ XXIX 367), Grillparzers (AMZ 1872, S. 166), in München 1867 zum Gedächtnis P. Cornelius'. In Mozarts VaterstadtSalzburg kam das Requiem am 17. Febr. 1816 in S. Peter zur Erinnerung an Elisabeth Neukomm zur Aufführung (Hammerle S. 53).


118 Zelter, Briefw. m. Goethe III 441 f.


119 So z.B. in Halle, vgl. H. Abert, Gesch. der Robert-Franz-Singakademie, Halle 1908, S. 99, 101.


120 Berl. Mus. Ztg. 1805, S. 28.


121 Kretzschmar, Führer II4 283.


122 Hier setzte ein Musikliebhaber ein Legat aus, wofür jährlich drei Requiems, darunter das Mozartsche, aufgeführt werden sollten. AMZ XLII 54. In Senftenberg in Böhmen bildete sich 1857 sogar ein Verein zur alljährlichen Aufführung des Requiems. N. Wiener mus. Ztg. 1857, S. 167 f.


123 Kretzschmar a.a.O.


124 AMZ XXII 501 f.


Quelle:
Abert, Hermann: W. A. Mozart. Leipzig 31955/1956, S. 729.
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