2. Erste Reise nach London.

Nach übereinstimmenden Berichten langte Händel im Spätherbst des Jahres 1710 in London an. Die Aufnahme, welche er hier fand, war für ihn ermunternd und für die Nation ehrenvoll. Wenn irgend etwas in seiner an großen Zügen so reichen Wanderung, so ist diese Fahrt über eine Kunstreise gewöhnlichen Schlages erhaben. Sie war folgenreich für sein ganzes Leben, indem sie seine Neigungen so sehr an dieses Land fesselte, daß er demselben fortan fast ausschließlich seine Kräfte weihte; und sie war im höchsten Maaße bedeutsam für die englische Musikgeschichte, da mit Händel's Auftreten eine neue Periode, die eigentliche Glanzzeit beginnt. Bei den englischen, Biographen und Geschichtschreibern der Musik, Mainwaring Hawkins und Burney, findet man diesen Umstand auch mit Vorliebe herausgehoben, ja ihre eigentlich geschichtlichen Nachrichten beginnen erst mit diesem Zeitpunkt. Besonders Burney hat in dem letzten Bande seiner Geschichte viel werthvolles Material darüber aufgespeichert, und da seine Angaben wenigstens siebenmal zuverlässiger sind, als die von Hawkins, so thut es seinem Werth als Geschichtsquelle keinen Abbruch, daß seine Darstellung, von kunsthistorischen Gedanken entblößt, sich nicht über eine ästhetisirende Chronik der Londoner Operntheater zu erheben vermag.

Der Ruf, welcher Händel vorausging, kündigte ihn an als einen Virtuosen, als Clavier- und Orgelspieler ersten Ranges, und als[251] einen schnell berühmt gewordenen Componisten italienischer Opern. Nur von diesen beiden Seiten zeigte Händel sich jetzt den Engländern, und eben hierin konnte man ihm nichts von Bedeutung entgegensetzen. Er fand weder Spieler, mit denen er sich, wie weiland mit Mattheson und Scarlatti, freundlich in die Wette legen mochte, obwohl nach seiner eigenen Versicherung einige recht achtungswerthe darunter waren, noch Componisten, die ihm im Fache des musikalischen Dramas hätten das Feld streitig machen können. England hatte eine selbständige, zum Theil große musikalische Vergangenheit, aber keine Gegenwart. Die Ursachen davon sind lehrreich und liegen, wenn man in die Geschichte sieht, klar auf der Hand. Die Anfänge des musikalischen Theaters waren hier denen in Deutschland so ziemlich gleich, hatten aber einen schnelleren Fortschritt und gingen tiefer in's Volksthum ein. Zuerst holte man allerlei aus Italien und führte auf, was möglich war, blieb aber weit hinter den Vorbildern zurück, ohne durch besondere Originalität, etwa wie die Franzosen, dafür zu entschädigen; gerade wie bei uns. Schon 1656 ließ Sir William Davenant im Rutland- Hause die Belagerung von Rhodus vorstellen. Den zweiten Theil davon sah der Maler und Chronist Evelyn »in recitativischer Musik«1: wodurch also Burney's Behauptung, in diesen ersten englischen Opernversuchen habe man die Dialoge noch immer gesprochen2, widerlegt ist. Evelyn sah ein anderes Stück schon 1659, eine neue Oper in italienischer Weise, mit Recitativen und[252] Decorationen, aber nicht in italienischer Pracht.3 Es dauerte dann einige Zeit, bis man sich zu der Aufführung einer völlig italienischen Oper verstieg; nach Evelyn geschah es erst im Januar 1674. Aus seinen Worten »Ich sah eine italienische Oper in Musik, die erste, welche auf diese Art in England aufgeführt wurde«4 – darf man doch wohl schließen, daß es in italienischer Sprache geschah? Wie wenig alle diese italienischen Versuche bedeuteten, sieht man aus dem was darauf folgte. Die französische Oper hatte sich unter Lully schnell erhoben; sie fand auch in England an dem leichtfertigen Karl II. einen eifrigen Schützer, obwohl damals schon der Tonkünstler lebte, in dem alles Schöne der englischen Nationalmusik zur Erscheinung kommen sollte: Henry Purcell (1658–95). Der italienischen und der sie verdrängenden französischen Musik gegenüber vertrat dieser den Geschmack seines Volkes, drang auch bei seiner großen Begabung endlich überall durch. Man ging auf das beste zurück, was vorhanden war, man plünderte den Shakspeare, wie bei uns die biblischen Komödien. Purcell setzte eine Reihe davon in Musik, und die königlichen Kirchen- und Hofmusiker halfen agiren, bis die Königin Anna es als nicht geziemend untersagte. Also dasselbe Absehen auf das Volksthümliche, dieselbe Verbindung mit der Vergangenheit, dasselbe unbedacht unschuldige Zusammenwirken aller Kräfte, aber auch endlich derselbe durch sittenloses Betragen herbeigeführte Zwiespalt, wie in Deutschland. Was hier besser war, kommt auf Rechnung Purcell's und der besseren Dichter. Um Purcell, der als der Orpheus[253] Britannicus so oft mit Stolz unserm Händel zur Seite oder entgegen gesetzt ist, recht zu verstehen, muß man seinen Lebenslauf und den Unterschied der Zeiten beachten. In der Schätzung seiner wahren Verdienste und der Bewunderung seines großen gesunden Geistes möchte ich hinter keinem seiner Landsleute zurückstehen, wenn auch oft gesagt ist, daß ihn nur ein Engländer recht würdigen könne. Aber sein Leben fiel in eine Zeit, die für die schönen Künste nicht so viele Muße, Mittel und Neigung haben konnte, als die folgende. Um die Gesangkunst stand es mindestens nicht besser als in Deutschland. Dazu kam die vom Hofe ausgehende Vorliebe für französische Musik, besonders für Prunkballets, deren einseitige Bevorzugung dem Gedeihen der wahren Tonkunst nicht förderlich sein konnte. In eine solche Zeit gehört ein Zuchtmeister: aber ein solcher war Purcell nicht, ebenso wenig als Mozart ein solcher war; denn so ernst beide die Kunst nahmen, so leicht nahmen sie das Leben, und lebten nicht lange. Schnell bildete er sich, und mit Sicherheit betrat er den rechten Weg, indem er auf die Italiener hinwies, auch sich offen und bescheiden deren Schüler nannte, obwohl er ein selbständiger Geist war, gleich unserm Heinrich Schütz. Ich habe mich eines Einganges in die italienische Musik beflissen, schreibt er 1683 im Vorwort seiner ersten Sammlung von Sonaten, und wenn ich auch in der Sprache jenes Landes nicht recht bewandert bin, glaube ich mich doch in der Schätzung ihrer wirkungsreichen seinen Musik nicht zu irren; es ist aber wirklich Zeit, daß wir von dem Balladentand der Franzosen ablassen.5 Noch[254] viel klarer sprach er sich sieben Jahre später aus, 1690, wo er in der Zuschrift seiner Oper Dioclesian an den Herzog Karl von Somerset folgendes merkwürdige Geständniß that: »Musik und Poesie sind immer als Schwestern angesehen worden, deren Zusammengehen beide fördert. Poesie ist die Harmonie der Worte, Musik die der Klänge; und wie die Poesie an sich ein Aufflug ist über Prosa und Redekunst, so ist die Musik die Erhebung und Läuterung der Poesie. Jede von ihnen kann vereinzelt gedeihen, aber verbunden bringen sie es sicherlich am höchsten, weil dann gar nichts mehr zu ihrer Vollkommenheit fehlt: denn so erscheinen sie wie Geist und Schönheit in einer Person. Dichtung und Malerei sind in unserm Vaterlande schon zur Vollkommenheit gediehen: aber die Musik ist noch in ihrer Minderjährigkeit, ein willig fortschreitendes Kind, welches hoffen läßt, was es einmal hier in England leisten möge, wenn die Tonkünstler mehr Aufmunterung finden werden. Jetzt lernt es Italienisch, was sein bester Meister ist, und studirt die französischen Gesänge ein wenig, um einen etwas fröhlicheren und moderneren Anstrich zu bekommen. Der Sonne ferner gelegen, kommt unser Wachsthum später, als das unserer Nachbarn; wir müssen schon zufrieden sein, wenn wir nur nach und nach unsere Barbarei abschütteln können. Man scheint aber schon jetzt für feinere Musik ein Ohr zu bekommen und zwischen zügelloser Phantastik und einer wohlgesetzten vollstimmigen Composition unterscheiden zu wollen. Schon manche unserer Edlen sind nach dem Beispiel Ew. Gnaden Schützer und Förderer der Tonkunst geworden. Ja selbst unsere Dichter fangen an sich ihrer rauhen und holperigen Verse zu schämen, und suchen unsere ungeschlachte Sprache wohlklingender zu machen.«6 Die Weissagung, welche hierin liegt, klingt[255] eben in seinem Munde so schön; unser Keiser hätte so etwas nicht sagen können. Es gehört ein heller, freier und hoher Geist dazu, der mit sich auf's Reine gekommen ist und die Wahrheit mehr liebt als sein Ich, den es auch wenig kümmert, ob er sein eigner Prophet oder der eines größeren Nachfolgers werden sollte. Fast alles, was Purcell andeutet und wünscht, ist in Händel's Leben erfüllt, zum Theil so genau, daß man es mit denselben Worten beschreiben könnte, z.B. der Studiengang durch italienische und französische Musik; nur ist alles freier, ungehemmter, universaler, mehr noch auf innere Kraft und weniger auf die Protection der Vornehmen gebaut. Hätte Purcell bis in Händel's Zeiten gelebt, er würde ihn am tiefsten verstanden und am aufrichtigsten bewundert haben. Burney sieht dies nicht. Er nennt Purcell den Shakspeare der Musik und Händel den großen Fremden, und findet es demüthigend, daß von den Engländern sich nur Purcell allein aus der Kindheit herausgearbeitet habe. Daß von allen Tonmeistern nur Händel der Shakspeare der Musik genannt werden kann, braucht man kaum zu bemerken, da es besonders in England schon allgemeine Ansicht ist, wenn auch bis jetzt noch niemand den Nachweis hat liefern mögen, inwiefern Händel mit der englischen Nationalmusik in Verbindung steht. Wer dem Purcell in seiner Umgebung die Tiefen der Tonkunst und das Verständniß der italienischen Musik eröffnete, ist freilich ebenso schwer zu sagen, als wer den Shakspeare in die alten Classiker einführte. Hier wußte sich sein Kunstgenius auf eine dem großen Dramatiker verwandte Weise[256] Licht zu schaffen, und so findet sich noch manches, worin man willig eine Verwandtschaft mit Shakspeare erkennen kann, ohne dadurch zu einem Vergleich im Großen berechtigt zu sein. Purcell's dreister Ausspruch über die Poesie tritt unleugbar ihrer Selbständigkeit zu nahe, aber er drückt eine Meinung, einen Lebensgedanken der Zeit aus; bis zu der durch Händel erreichten Vollendung drängte alle künstlerische Kraft auf die Musik hin, namentlich im Fache der Dichtung hatte man nur für die musikalische Poesie ein Verständniß. Eine Ausnahme machen, merkwürdig genug, die ersten Poeten in Purcell's und Händel's Umgebung, Dryden und Pope, Dryden wenigstens in seinen theoretischen Ansichten. Purcell's Lage und die zeitweilige Nothwendigkeit einer völlig italienischen Oper für England wird hierdurch sehr begreiflich. John Dryden (1631–1700),


Great Dryden!... whose tuneful Muse affords

The sweetest numbers, and the fittest words;

From her no harsh unartful numbers fall,

She wears all dresses and she charms in all –


wie Addison rühmt, ist eben durch seine musikalischen Dichtungen unsterblich geworden. Aber nun höre man seine Ansichten! Im Jahr 1685, als noch alles den französischen Ballets ergeben war, setzte ein Monsieur Grabu sein Drama Albion und Albanius in Musik; und weil es dem Hofe genehm sein mochte, rief Dryden den Franzosen Grabu als den bei weitem bedeutendsten aller in England lebenden Musiker aus7, obwohl Purcell schon acht ansehnliche Werke für die Bühne geschaffen hatte. Wo solche Urtheile auch nur möglich sind, fehlt zu einem Gedeihen im Großen immer noch ein Hauptstück; was eine Zeit wirklich will, darüber stellt sie eine gemeinsame Ansicht her, wenn auch erst durch heftige Kämpfe. Als Dryden seit dem Untergang des katholisch-französischen Hofes in eine andere, weniger günstige Last kam, lernte er zwar den Purcell über Grabu setzen, aber seinerseits mit einem Geständniß über den Verhalt von Poesie und Musik, das als Gegenstück des Purcell'schen doch gar zu merkwürdig ist. Er bearbeitete 1691 gemeinsam mit Purcell den König Arthur,[257] den er schon sieben Jahre vorher unter ganz anderen Umständen gedichtet hatte; mit Bezug auf die veränderte Politik seit der Thronbesteigung des protestantischen Oraniers, die dem katholisch gewordenen Dichter Lorbeer Pension und Hofgunst geraubt hatte, sagt er in der Zuschrift an den Marquis von Halifax: »Jetzt ist nichts besser als damals, ausgenommen die Musik, die es seitdem zu einer größeren Vollkommenheit gebracht hat, als je vorher, besonders durch die kunstvolle Hand des Herrn Purcell. Doch die Verse der Poesie und die Vocalmusik sind mitunter so verschieden, daß ich manchmal genöthigt war, meine Verse zu zwängen und sie für den Leser rauh zu machen, damit sie dem Hörer wohlklingend würden: was ich übrigens nicht bereue, denn Vergnügungen dieser Art sind hauptsächlich für Ohr und Auge bestimmt, weßhalb meine Kunst hier der des Componisten untergeordnet werden mußte; doch schmeichle ich mir, daß eine urtheilsfähige Versammlung die Gesänge, in denen ich mich der Musik bequemte, leicht werde zu unterscheiden wissen von denjenigen, in welchen ich Klang und Wortfall nach den Gesetzen der Poesie geordnet habe.«8 So bestand eine Kluft zwischen wahrer Dichtung und dem gesungenen Worte. Dryden meinte, bei dem Absehen auf musikalische Composition müsse seine Kunst nicht bloß dienen, sondern sich unterordnen und das beste verlieren. Dieser Zwiespalt ist dann für die englische musikalische Bühne so schicksalvoll geworden. Nirgends in der ganzen Zeit gab es zwei Männer voll so lebendiger[258] Kunst und so für das Drama geschaffen, als Dryden und Purcell: und ihre gemeinsamen Arbeiten endeten mit dem obigen Geständniß des großen lyrischen Dichters! Selbst unsere Keiser und Postel kamen weiter, wievielmehr die Italiener, deren gesammte damalige Poesie nach den Tönen ruft und ohne Musik fast leerer Schwall ist. Durch das Verhältniß, in dem Purcell und Dryden zu einander oder vielmehr zu der Sache stehen, ist der Geschichte der Oper in England der Gang vorgezeichnet, so unabänderlich, daß selbst Händel auf diesem Gebiete nur bessernd, nicht grundlegend wirken konnte.

Wie schon aus Dryden's Worten abzunehmen ist, waren es keine eigentliche Opern, was sie zu Stande brachten, sondern Dramen mit musikalischen Scenen, nicht einmal Opern mit untermischten Dialogen. Es waren höchstens Halbopern. Purcell bearbeitete in seinem kurzen Leben 39 Werke dieser Art. Den Anfang machte er schon 1675 in seinem 17. Lebensjahre mit Dido und Aeneas. Hier kommen mehrere accompagnirte Recitative vor, was Burney nicht wußte, weil ihm das Werk unbekannt blieb. Dagegen fehlt derartiges Recitativ in dem vorletzten, der Bonduca (1695), wo Burney es doch gesehen haben will, wie er mit einiger Wichtigkeit bemerkt. Die Wahrheit ist, daß man das accompagnirte Recitativ niemals allgemein, sondern nur in Italien in den Jahren vor Scarlatti aufgegeben hat, bis dieser es veredelt und gereinigt wieder einbrachte. Bei Purcell sehen wir den umgekehrten Weg. Als die Italiener das obligate Recitativ wegließen, hatte er es, und als sie es geistig bedeutsam wieder fanden, ließ er es weg. Mein Urtheil beruht indeß nicht auf der Kenntniß aller seiner Werke. Mehrere seiner Singspiele, von denen König Arthur in London schon wiederholt mit Beifall erneuert wurde, hat die dortige antiquarisch-musikalische Gesellschaft recht schön herausgegeben. So nachahmenswerth der rührige Eifer, mit dem die Engländer ihre lieben Alten wieder zum Druck bringen, so merkwürdig ist es, wie sie sich scheuen den Dingen ordentlich zu Leibe zu gehen. Burney freut sich, als er in seiner Musikgeschichte bei Purcell anlangt, aber was er über seinen Helden zu sagen weiß, ist unerheblich genug. Dr. Rimbault hat der Bonduca eine gelehrte und äußerst verdienstliche Abhandlung über die dramatische Musik in England bis zu Purcell's Tode beigegeben, darin zum Schluß die Werke Purcell's mit[259] größter Genauigkeit aufgezählt, die dramatische Laufbahn des Componisten aber nicht weiter ermessen mögen, denn das, sagt er, gehöre eher in ein Leben des Mannes und dieses werde uns Prof. Taylor bei König Arthur schenken. Taylor, dessen Begeisterung für Purcell bekannt ist, giebt sodann 1843 den Arthur heraus, ebenfalls sehr genau und lehrreich, muß sich aber auf die gegenwärtige Oper beschränken, denn ein Leben Purcell's erfordere mehr Raum und Muße, als ihm jetzt zur Verfügung stehe. Ich bedaure sehr, daß sich diese günstigere Zeit bis jetzt noch nicht hat finden wollen; denn sollen Purcell's Verdienste einem Ausländer schwer begreiflich sein, wie man so oft sagen hört, so muß man wünschen, daß bei ihrer Untersuchung eine historische Würdigung derselben von einem seiner Landsleute zur Hand liege. Was hier über seine dramatischen und späterhin über seine kirchlichen Tonwerke vorgebracht ist, sind Andeutungen, die ich auf eigne Hand wage, und wobei mir Purcell immer in seiner bedeutenden Doppelstellung als die Blüthe der englischen Musik und als Vorgänger Händel's vorsteht. Wenn man in seiner dramatischen Musik die verschiedenen Sätze durchnimmt, so muß man ihnen gesondert das Prädikat des Classischen absprechen. Purcell war nicht wie ein Italiener in den einzelnen Formen gründlich geschult, als er ganze große Werke unternahm. Händel war zwar in derselben Lage, aber er arbeitete sich durch in einer Weise, daß die ganze erste Hälfte seines Lebens nun als das unübertroffene Muster der Bildungsgeschichte eines Tonkünstlers dasteht. Purcell's Recitativ »You twice ten hundred Deities« in der indianischen Königin (1692) kann man mit Burney hoch preisen, ohne zu übersehen, daß ihm noch die geläuterte, von dem Arioso unterschiedene Form fehlt, die alle Musterrecitative seit Scarlatti haben. Ein Italiener würde sich schon über seine Cadenzen wundern. Wirklich versteht er nicht, ordentliche Cadenzen zu machen, am wenigsten im Sologesange, wogegen seine Schlüsse in den Chören schon viel natürlicher und allgemein gültiger sind. Purcell machte keine so gute Instrumentalstücke als Lully und Corelli, keine solche Duette als Steffani, keine Arien als Scarlatti und Keiser, keine Recitative als Scarlatti, keine so regelmäßig gebaute und so sehr für Gesang geschriebene Chöre als die Italiener, überhaupt nichts Einzelnes so gut als die besten Meister des Faches: aber das Ganze[260] machte er besser kraft des gesunden tiefdramatischen Geistes, der ihn schon damals unter so wenig günstigen Umständen hintrieb zu der Verwebung des Chores in die Solostimmen und dadurch zur Entfaltung breiter musikalischer Gemälde. Wer denkt hier nicht an Händel, der das Einzelne ebenso gut als die besten Meister dieses besonderen Faches, und das Ganze unvergleichlich besser machte? Aber Purcell ist durch die musikalische Gesundheit, in der alle seine Werke strahlen, durch ihre einheitliche Gestaltung und Gesammtwirkung, durch den hohen Geist seiner Chöre, sowie durch seine Vielseitigkeit derjenige Vorgänger Händel's, der am geradesten auf ihn hinleitet. Von jenem zu diesem hin ist noch ein unermeßlicher, aber ein ganz natürlicher Fortschritt.

Daß kein geborner Engländer diesen Schritt that, darüber müssen wir in der englischen Musikgeschichte Aufklärung suchen. Man erinnere sich an das, was vorhin über die künstlerische Durchbildung deutscher und italienischer Musiker gesagt wurde. Ein solches Fundament zu einem volksthümlichen Kunstbau war weder in Frankreich noch in England gelegt; daher mußte man sich dort den Lully von Italien und hier den Händel von Deutschland borgen. England hatte zu dieser Zeit fast alles, was zu einem mächtigen Reiche gehört: eine große Volkskraft, die sich durch alle Revolutionen nur fester und dichter zusammen that, eine frisch aufwachsende Literatur, siegreiche Helden in irdischen und geistigen Kämpfen, vielen Kunstsinn und namhafte Künstler; überall war Erhebung zu bemerken, die einheimischen Tonkünstler allein blieben neben und seit Purcell im Gewöhnlichen sitzen. Das gerade Gegentheil fand in dem alten Stammlande Deutschland statt, wo fast nirgends große Geister hervorkommen wollten, als in der Tonkunst, also nach der Ansicht der Zeit in einem Mitteldinge zwischen Kunst und Handwerk; weßhalb man drüben auch von unserer Unfähigkeit so sicher überzeugt war, daß Pope, als ihm ein Freund den Händel mit den Worten anmeldete, ein deutsches Genie wünsche ihm seine Aufwartung zu machen, sarkastisch ausrief: »Ein Deutscher und ein Genie? den muß ich sehen!« Burney sagt: »Es war für unseren Geschmack und unsere Nationalehre ein äußerst unglücklicher Umstand, daß unsere drei besten Componisten im 17. Jahrhundert, Orlando Gibbons, Pelsham Humphrey und Henry Purcell, nicht[261] mit einem hinreichend langen Leben gesegnet waren, um ihre Kräfte nach allen Richtungen entfalten und eine Schule begründen zu können, die uns befähigt haben würde, in der Cultur der Musik ohne Beihülfe der Fremden fortzukommen. Orlando Gibbons starb 1625, im vierundvierzigsten; Pelsham Humphrey 1674, im siebenundzwanzigsten; Henry Purcell 1695, im siebenunddreißigsten Lebensjahre! Wäre diesen herrlichen Tonsetzern ein langes Leben beschert gewesen, wir möchten mindestens eine ebenso gute eigne Musik bekommen haben, als die Deutschen.«9 Schwerlich. Wie viel es werth ist, wenn eben die Hauptmeister die Schulen gründen, davon giebt die Geschichte der italienischen und deutschen Musik die klarsten Beweise. Aber im letzten Grunde hängt es doch nicht von den Schulen ab, sondern von der Kraft und Neigung des Volksgeistes. Der einzelne Künstler ist nur die einzelne Saite der Harfe, Ton und Stärke sind schon das Erzeugniß allgemeinerer Kräfte. Wo die alten Saiten reißen, ohne daß neue in besserer Güte vorhanden sind, da ist in dem Volke der gestaltende Tongeist wesentlich erschöpft, und geschieht dies einmal allgemein, so ist das musikalische Zeitalter geschlossen. So lange aber noch ungeborne Harmonien in ursprünglicher Frische und Fülle vorhanden sind, bilden sich Normalschulen, wie es in Italien und Deutschland der Fall war. Daß hingegen ein Volk im höchsten Grade musikalischer Harmonie bedürftig sein, auch ein hinlängliches Verständniß dafür haben kann, und dennoch nicht fähig ist sie mit eigenen Kräften fortzubilden, sehen wir an dem England nach Purcell's Tode. Dieser Gegensatz tritt bei Händel's Leben und Wirken klar zu Tage, und wird als bedeutsam für die höhere Auffassung desselben in den folgenden Büchern vielfach zur Sprache kommen. Anlangend das frühe Abscheiden begabter Menschen, muß man unter allen Umständen an der Ueberzeugung festhalten, daß niemand zu früh stirbt, sondern jeder zu seiner Zeit, nach Erschöpfung der in ihm beschlossenen Kräfte. Es ist das in dem einzelnen traurigen Falle eine harte, im Ganzen aber eine trostreiche ermuthigende Wahrheit, die zu allen tieferen Einsichten den Schlüssel giebt. Mit Recht beklagt man den frühen Tod hervorragender Männer, aber nicht deßhalb, weil sie bei[262] längerem Leben alles das geleistet haben würden, was die Folgezeit fordert. Wer ein neueres Beispiel haben will, denke nur an Mendelssohn. Wie oft ist uns in den letzten zehn Jahren vorgerechnet, was er noch alles hätte schaffen können! und doch kann man sich des Glaubens nicht erwehren, daß er die Hoffnungen seiner Freunde so wenig als Purcell die seiner Landsleute erfüllt haben würde. Aber wie es für die Deutschen, da Mozart kaum zu männlichen Jahren gelangte, Beethoven taub wurde, Schubert und Weber, sogar Mendelssohn und Schumann nur eine kurze Zeit zum besten der Kunst wirken konnten, – nahe lag, mit Besorgniß an die Wechselgänge zu denken, die bevorstanden und deren Anfänge wir nun schon erlebt haben: so war damals Purcell's Tod ein Zeichen, daß England durch die Arbeiten eingeborner Tonkünstler wenigstens für die nächste Zeit in dieser Kunst einen geringeren Rang einnehmen werde. Und das ist, abgesehen von persönlichen Beweggründen, doch wohl Veranlassung genug zur Todtenklage.

Aber dasselbe Volk, dem man eine productive musikalische Thätigkeit ersten Ranges von 1695 an absprechen muß, giebt das herrlichste Beispiel, wie durch treues Festhalten an dem einmal erkannten besseren Geiste selbst dasjenige, wovon im Innern die Keime fehlen, leicht herbei zu ziehen ist. Englands besseres Gedeihen hing an dem Durchdringen des Protestantismus, politisch nicht minder als kirchlich. Die von Macaulay beschriebene Periode wirkte dafür entscheidend, deßhalb ist sie ohne zahlreiche große Ereignisse so voll drängenden Lebens, und ohne Tugendexempel so voll fesselnder Charaktere. Seit Wilhelm III. von Oranien auf dem Throne saß (1689), lichtete sich die finstere Zeit und der Schlamm der Unsittlichkeit floß etwas ab, obwohl sehr allmählig; Purcell konnte auch erst in diesen Tagen zu Wort kommen. Als dann an der Scheide des Jahrhunderts durch Parlamentsbeschluß dem deutschen protestantischen Hause Hannover die Thronfolge zugesprochen wurde, war nach langem Umherfahren der Weg betreten, auf dem dieses Volk zu seiner festen Größe gelangt ist; das heimische Volksthum, dessen edelstes Streben im Germanismus und in den Grundgedanken des evangelischen Christenthums wurzelte, war zum Siege gekommen. Niemand, der sich auf die Verhältnisse genau einläßt, wird diese Wendung zu einer einseitig religiösen[263] stempeln wollen, da der Triebfedern so viele waren, daß man nur den einen großen Erfolg aus vielen kleinen, guten und schlechten, Motiven vor sich hat. Aber es geschah zu einer Zeit, wo Sachsen und Braunschweig katholisch wurden und Preußen seines Berufes, Stütze des Protestantismus zu sein, noch nicht eingedenk war. Namentlich in Händel's Leben, das uns nach einer Seite hin die tiefere Bedeutung dieses Schrittes am schönsten erschließt, muß man auf das Religiöse ein großes Gewicht legen, denn ohne einen derartigen Umschwung der Dinge hätte er in London immerhin einige italienische Opern setzen, aber nimmer die Wirksamkeit entfalten können, welche stets der gerechte Stolz Englands sein wird. Als hier der germanische Geist Sieger blieb, regte sich in dem alten halbverkümmerten Mutterlande die Lust zur Nachwanderung, und wir sehen bald den willigen Zugang guter Kräfte zu einem schon vor tausend Jahren ausgewanderten, aber noch immer seine Stammverwandtschaft deutlich offenbarenden Volke. Unter diesen Nachzüglern, dem neuen Königshause voraneilend, war Händel der vornehmste; in ihm nahte sich ihnen, als ein schneller und schöner Segen ihrer beherzten That, der musikalische Genius dieser Zeiten. Es hat eine erhebende Bedeutung, daß zu einer Zeit, wo der Protestantismus besonders in Deutschland öffentlich ganz machtlos und Luther eine unverständliche Erscheinung geworden war, das englische Volk sich durch die Entscheidung dafür den reinsten kräftigsten evangelischen Geist zu eigen machte und einen Deutschen unter sich wohnen und wirken sah, in dessen Tönen der starke freudige Luther wieder Leben gewann, aber ein Leben, das die Einseitigkeit der Confession und des Germanismus völlig überwunden hat.

Wir wenden uns jetzt zu dem nächsten Zweck seiner Reise, zu der italienischen Oper. So lange Purcell lebte, wußte England sich mit eigenen Mitteln zu versorgen, auch an Spielern und Sängern. Aber sowie diese dürftiger und die Ansprüche größer wurden, kamen nach und nach Hülfstruppen von allen Nationen, zuerst einzeln wie Schwalben vor dem Sommer, dann in Haufen. Seit 1690 verzogen sich die Franzosen, der Krieg verscheuchte sie vollends. Italiener kamen immer zahlreicher und mit jedem Jahre bedeutendere. Die ersten »großen« Sänger, d.h. Castraten – denn nur die welschen[264] Capaunen nannte man damals große Sänger, bemerkt Mattheson, als Mainwaring ihm nachsagte, er sei kein großer Sänger gewesen –, waren Valentini und Nicolini, die einige Jahre vor Händel und etwa zehn Jahre nach Purcell hier anlangten. Sie konnten nur ihre Stücke und nur in ihrer Sprache singen. Bis dahin hatte man sich mit dem Englischen beholfen, denn die einheimischen Sing-und Spielleute waren darin ihrem Landsmanne Purcell ähnlich, daß ihnen das Erlernen fremder Sprachen sauer wurde. Man traf nun ein höchst einfaches Abkommen, indem man auch fortan jeden singen ließ, wie ihm der Schnabel gewachsen war, so daß beide Sprachen sowohl in den Recitativen als in den Arien und Duetten bunt durcheinander liefen. Zu einer solchen Aufführung paßten die Stücke vortrefflich, denn diese waren meistentheils nichts als eine Schnur aneinander gereihter Arien von den verschiedensten Componisten, wobei irgendein beliebtes italienisches Singspiel den Faden abgab. Läppische Maschinen und elende Uebersetzungen thaten ihr möglichstes, das Ganze als ein Muster von Abgeschmacktheit erscheinen zu lassen. Man ließ es sich aber auch etwas kosten. Hamburg gab für die Partitur einer Oper 50 Thaler, mitunter mehr, mitunter weniger, sagt Mattheson; Venedig warf aber schon für das Textbuch allein 400 Speciesthaler aus, und London »manchesmahl bey 800 Rthlr. vor der Composition, ja wol gar offt 200 Guinees, über 2600 Marck Hamburger schwerer Müntze«, wobei die zweite oder dritte Vorstellung zu erhöhten Preisen für den Poeten ausgesetzt war.10 Solche, die das Lächerliche dieser ersten Opernversuche einsahen, fanden sich weit eher, als andere, die Einsicht und Geschick besaßen, dem Unwesen zu steuern. Addison, der sich sehr gewandt dagegen aufwarf, erblickte in dem Heißhunger nach italienischer Musik nichts als das Ueberhandnehmen eines verdorbenen Geschmackes, da doch schon die nächsten Jahre lehrten, daß nicht diese Begierde nach verfeinerter Musik, sondern nur deren erste stümperhaft-unordentliche Befriedigung verwerflich war. Als Händel der Sache unvermuthet schnell eine Wendung gab, von der sich keiner träumen ließ, fühlten sich mehrere, die bisher bei Instandsetzung der Opern vornehme Handlangerdienste verrichtet hatten,[265] in ihren Interessen beeinträchtigt, und nahmen Anstand in die allgemeine Begeisterung aufzugehen. Neben zahlreichen Freunden und einer Beifall rufenden Menge stehen sie da als seine Gegner und Neider. Die Gestalten werden mit schärferer Zeichnung in seinem Lebensbilde hervortreten, wenn wir zuerst ihre vorausgegangenen Heldenthaten besehen.

Im Jahre 1705 kam in London eine Oper zum Vorschein, in der Alles gesungen wurde; sehen wir von dem ab, was Evelyn als vereinzelten Versuch angiebt, so war es in dieser Art die erste. Von der Vortrefflichkeit des Redegesanges war man schon lange überzeugt, aber niemand konnte seiner recht mächtig werden, selbst Purcell nicht. Es war Thomas Clayton, früher Musiker der königlichen Capelle, der auf Anrathen höherer Neigungen eine Reise nach Italien wagte und dort ohne große Mühe allerlei Operntexte und Partituren zusammen raffte. Die musikalischen Gedanken, welche ihm bei dieser Gelegenheit anflogen, fand er dann für gut als seine eigenen anzusehen, und nun war es seine feste Ueberzeugung, daß die Welt ihn von jetzt an zu den Meistern der Setzkunst zählen müsse. Ausgerüstet mit solchen Hülfsquellen, unternahm er nichts geringeres, als die Reformation des musikalischen Geschmackes der englischen Nation. Eine Aufgabe, vor der Purcell bescheiden zurücktrat, sollte endlich siegreich in's Werk gesetzt werden. Zum Anfang erkor er sich einen Text, den Tomaso Stanzani 1677 für Bologna verfertigte und der mit derselben Musik des Petronio Franzeschini schon im Herbst desselben Jahres11 in Venedig zur Aufführung kam, ließ ihn durch den gewandten Franzosen Peter Motteur in's Englische übersetzen und gab ihn unter dem Titel »Arsinoe Königin von Cypern« seinen Landsleuten im Drury Lane-Theater zum besten, wirklich als »das erste musikalische Drama, welches gänzlich in italienischer Weise in England componirt und aufgeführt wurde.«12 Es ist meine Absicht, schreibt Clayton in dem Vorwort zur Arsinoe, die italienische Weise der Musik auf die englische Bühne zu bringen, was bisher nicht geschah; ich ließ zu dem Zwecke einen italienischen Text übersetzen, weil[266] die musikalischen Gedichte dieses Volkes, obwohl an Poesie geringhaltig, am besten auf die Seele der Musik, die Leidenschaften, abzielen; an Sängern können wir uns zwar nicht mit Italien messen, doch zog ich die besten zusammen, die zu finden waren, und instruirte sie mit größtem Fleiße; vielleicht mögen die Recitative zuerst nicht besonders ansprechen, aber wenn die Zuhörer nur erst bekannter damit sind, werden sie ihnen hoffentlich mehr zusagen: und sollte nun meine Unternehmung ein Mittel sein, diese Art Musik in meinem Vaterlande in Aufnahme zu bringen, so werde ich meine Studien und Mühen wohl angewendet haben. Burney und Hawkins sprechen von dieser reformatorischen Musik mit Verachtung. Clayton's Behauptung, die ganze Oper selbst componirt und nichts von Andern geborgt zu haben, bestätigt der erstere durch die Versicherung, kein italienischer Componist der damaligen Zeit sei im Stande gewesen, etwas so Erbärmliches zu setzen: womit das äußerste gesagt ist. Dennoch erlebte dieses Machwerk im ersten Jahre 24 Vorstellungen, wurde von Zeit zu Zeit immer noch einige Male wiederholt, und sogar bei Walsh gedruckt. »Die Engländer müssen zu der Zeit«, sagt Burney, »einen ganz ungewöhnlichen Hunger und Durst nach dramatischer Musik gehabt haben, um durch einen solchen Trödel angezogen und unterhalten zu sein«;13 eben nach italienischer Musik. Clayton war in diesen Tagen der Einäugige unter den Blinden.

Der Oper Camilla, die am 30. April 1706 der Arsinoe folgte, lag eins der berühmtesten italienischen Stücke zu Grunde. Camilla Regina de' Volsci dichtete Silvio Stampiglia für Wien, und Marc' Antonio, der ältere der Gebrüder Bononcini, die dort anwesend waren, setzte sie in Musik, wahrscheinlich im Jahr 1697. Schon 1698 gab man sie in Venedig, 1705 und 1709 und 1719 in Bologna, 1707 in Ferrara und Padua, 1715 in Udine, und so nach und nach in ganz Italien; in England 1706 nach Burney's Zählung sechzehnmal, 1707 zwanzigmal, 1708 zehnmal, 1709 achtzehnmal, in vier Jahren vierundsechzigmal.14 Owen Mac Swiney, der Director des Theaters, übersetzte den Text, die Aufführung fand ebenfalls ganz[267] in englischer Sprache statt. Bei der Ausübung der Landessprache waren patriotische Absichten im Spiel; Clayton versprach englische Sänger und Sprachlaute so heranzubilden, daß sie den italienischen wenig nachgeben sollten. Einen hastigen Anlauf dazu nahm man im folgenden Jahre mit der Oper Rosamunde.

Dem gefeierten Joseph Addison kamen die Opernierte durchweg so kunstlos und seicht vor, daß er von ihnen ungefähr dachte, wie Lessing von Corneille's Tragödien: »Man nenne mir das Stück, welches ich nicht besser machen wollte.« Sein Entschluß, einen Mustertext in englischer Sprache zu verfassen, brachte unter allen Patrioten eine freudige Aufregung hervor. Er wählte sich die Geschichte der Rosamunde, und zum Componisten den Tom Clayton! Eine Menge wohlklingender Verse kamen glücklich zu stande – das leichteste was Einer, der Geschmack und Belesenheit besitzt, ohne originale poetische Begabung machen kann –, aber weder Handlung noch richtige Charaktere, nicht einmal interessante Scenen waren vorhanden, obwohl durch Einführung eines ordinären Hanswurst nebst Gemahlin und durch Lobreden auf den Sieger Marlborough für alle Geschmäcke gesorgt war. Addison verwechselte die musikalische Poesie mit der lyrischen, und diejenigen, welche ihn von Tickell bis auf Johnson und von Johnson bis auf Macaulay für seine Rosamunde gepriesen haben, machten es nicht anders. Durch die Wahl des unfähigen Clayton zum Componisten sprach er nicht bloß seinem Werke, sondern auch seinem musikalischen Geschmacke das Urtheil. Was Addison von dieser Kunst wußte, und wenig genug war es, ging auf Forderung nationaler Musik und bekundete sogar etwas Vorliebe für die französische, die, weniger freien Aufschwunges als die italienische, sondern dürftiger an den Worten klebend, einem unmusikalischen Sinne schon eher »begreiflich« erscheint. Weil aber diese durch Purcell zurückgedrängt war und durch den Krieg gegen Frankreich gänzlich alle Anziehungskraft verloren hatte, so kam er in die Lage, bei seinen Reformen das, was man nicht haben wollte, zum Muster zu empfehlen. Der Erfolg belehrte ihn davon auf eine sehr ärgerliche Weise. Zu der ersten Vorstellung, die am 4. März 1707 stattfand, hatte man eine besondere Subscription eröffnet, um den hohen Erwartungen Rechnung zu tragen. Die Täuschung war vollständig, und allseitig[268] so niederschlagend, daß diese erste englische Nationaloper nur mit Kummer und Noth drei Aufführungen erlebte. Das Werk möchte etwas besser gefahren sein, wäre die Musik nicht so über alle Maaßen schlecht ausgefallen. Der Musikhändler Walsh, der das Ding sicherlich schon vor der Aufführung stechen ließ, wurde auch dabei angeführt; aus Aerger setzte er dann in seinen Verlagsverzeichnissen die Rosamunde immer untenan. Die beiden Stücke, Ouvertüre und Duett, welche Hawkins daraus mitgetheilt hat,15 werden schon hinreichen, jeden von Clayton's Anmaaßung und Unfähigkeit zu überzeugen.

Unfähigkeit, Anmaaßung und verkehrte Theorien arbeiteten einander in die Hand, die Rechte englischer Sprache und damit einen mehr volksthümlichen Antheil an diesen neuen Singspielen zu verwirken. Was Eingeborne nicht vermochten, was sie verdarben, sollte später Händel auf ganz andere Weise zur Geltung bringen. Man sieht aber, daß vor der Hand nichts übrig blieb, als die rein italienische Oper, und daß sie der nächste Schritt zum besseren war.

Um die durch den Abfall der Rosamunde entstandene Lücke auszufüllen, schrieb Peter Motteur zu einem Haufen Arien von verschiedenen berühmten Italienern so schnell als möglich eine Geschichte zusammen, die er »Thomyris Königin der Scythen« nannte, und die schon vier Wochen nach der Rosamunde, am 1. April 1707 in Drury Lane über die Bretter ging. Im Vorwort zu dem Textbuche erzählt der Poet, daß die Oper aus Arien von Scarlatti und Bononcini gebacken sei. Hawkins nennt außerdem noch Steffani Gasparini und Albinoni als darin geplündert, was alle Wahrscheinlichkeit für sich hat, macht aber die weiteren Angaben in seiner gewöhnlichen confusen Weise, wenn er die Oper erst 1709 in Haymarket unter Heidegger's Direction zur Aufführung kommen, diesen dabei 500 Guineen gewinnen läßt u. dergl. m.16, da doch, wie angegeben, das Werk schon 1707 in Drury Lane zu Tage kam, General Mac O'Swiney noch Eigner der Bande war, und der jüngst angekommene schweizerische Graf, wie Heidegger sich nennen ließ, nach Motteur's Versicherung[269] nur die Arien auswählte. Schien ihnen jetzt Tom Clayton selbst hierzu untauglich? Die Recitative besorgte Pepusch, ein Preuße, der später zum Doctor der Musik aufrückte. Heidegger und Pepusch werden uns in der Folge noch oft begegnen. In diesen Jahren füllte sich die Londoner Bühne allgemach mit den Gestalten, die während eines großen Theiles von Händel's Leben darauf oder doch in naher Umgebung blieben. Ob die Arien dem älteren oder dem jüngeren Bononcini gehörten, bleibt nach den bisherigen Mittheilungen unentschieden; Hawkins nennt den Giovanni nur, weil er diesen allein kannte, und trifft damit zufällig das Rechte. Besonders dessen Oper Polifemo, 1703 für Litzenburg d.i. Charlottenburg bei Berlin geschrieben, wurde dabei ausgebeutet, wie aus der in der Berliner Bibliothek befindlichen Partitur zu ersehen ist. Aus dieser stammt auch die Arie »In vain is delay«, welche man bei Hawkins gedruckt findet17; sie wird im Polyphem von Acis gesungen (Partir vorrei) ist im Sicilianenstyl, schön in ihrer Art und echt Bononcinisch. Zuerst wurde auch Thomyris noch ganz in englischer Sprache gesungen; als aber im December dieses Jahres bedeutende Gesangkräfte aus Italien – der Castrat Valentini Urbani, und eine Sängerin unbekannten Ursprungs, die sich die Baronin nennen ließ und von der man nur so viel weiß, daß sie gut sang und von Geburt eine Deutsche war – darin auftraten, sangen diese italienisch, während das alte Personal beim Englischen blieb. Die genannte Oper ist auch noch einer anderen Veränderung wegen merkwürdig, nämlich dadurch, daß General Swiney mit ihr in das neue große Theater auf dem Heumarkt übersiedelte. Haymarket war im Jahr 1704 mit Beihülfe von dreißig Vornehmen durch Sir John Vanburgh erbaut; diesem in Verbindung mit dem dramatischen Dichter Congreve gewährte die Königin Anna die Erlaubniß zur Aufführung von Dramen und Opern, worauf das Haus am 9. April 170518 eröffnet wurde. Es war also die altenglische, hauptsächlich auf das recitirende Drama gegründete Gesellschaft, welche hier Platz nahm. Aber sie gab schon dadurch ihre Schwäche kund, daß sie sich ebenfalls auf Opern glaubte[270] einlassen zu müssen; und unglücklicherweise kam sie mit schwachen Schäferspielen von schwachen Componisten aufgezogen19, so daß sie nach kaum drei Jahren der muthigeren »italienischen« Oper das Feld überlassen und sich mit dem kleineren Raum in Drury Lane behelfen mußte. Das nationale englische Drama, das noch zu Purcell's Zeit mit der Musik ein ganz unschuldiges Abkommen zu treffen wußte, reinigte sich nun völlig davon, stand aber von jetzt an diesem Eindringling, der nach R. Steele's Worten von Shakspeare die Herzen wegstahl, kampfgerüstet gegen über. Diesen Gegensatz muß man im Auge behalten, sonst wird der ganze folgende Verlauf unverständlich. Das neue Haus hieß zuerst, wie jetzt wieder, das Theater der Königin, später kurzweg das Opernhaus; es ist der Raum, für den Händel's meiste und schönste Opern geschrieben sind. Die erste Vorstellung mit Thomyris fand daselbst am 14. Januar 1708 statt.20

Im Februar kam ein neues Stück hinzu: Triumph der Liebe, das ursprünglich der Cardinal Ottoboni für sein Puppentheater gemacht hatte, wie schon Seite 213 erwähnt ist. Die englische Uebersetzung besorgte Motteur. Das Werk hatte der Sänger Valentini mit herüber gebracht, der es auch selber in Scene setzte, aber mit so geringem Glücke, daß er eilig zu seiner vorigen Stellung zurückkehrte, Durch Einlegung von Tanzchören suchte man eine Eigenthümlichkeit der französischen Oper zu benutzen, doch auch diesmal ohne Erfolg. Die halb italienische, halb französische Spielerei war bald wieder von der Bühne verschwunden.

Noch eine dritte Oper brachte man in diesem Jahre zuwege:[271]

Pyrrhus und Demetrius von Alessandro Scarlatti, von diesem zu Adriano Morselli's Worten im Jahr 1694 für Neapel gesetzt, auch zu Rom und anderswo aufgeführt. Ein berühmtes Werk, das schon früh seinen Weg nach Deutschland fand; die Aufführung in Braunschweig 169621 dürfte hier die erste gewesen sein. Swiney übernahm die nöthige Uebersetzung selbst, und Nicola Haym, ein tüchtiger Musiker, der sich aber durch die Verbindung mit Clayton etwas compromittirt hat, schrieb eine neue Ouvertüre und mehrere Arien dazu. Von Scarlatti's Gesängen hielten Kenner »Vieni o sonno« und »Veder parmi« mit für die schönsten, die jemals für die Bühne componirt seien.22

Das Hauptereigniß dieses Jahres war die Ankunft des wahrhaft großen Sängers Nicolino Grimaldi, gewöhnlich Nicolini genannt. Er und Valentini sangen Pyrrhus und Demetrius. Jetzt erst bekamen die Londoner eine genügende Vorstellung von dem italienischen Gesange; Scarlatti's Oper erlebte bei solcher Besetzung im folgenden Jahre dreißig Vorstellungen. Die Beschreibungen, welche Zeitgenossen von Nicolini's Kunst geben, kommen darin überein, daß Gesang und Spiel bei ihm untrennbar verwachsen, und gleich groß, schön und ergreifend waren. Ragte etwas als die Hauptsache hervor, so war es die Action, nicht der Gesang. Mehr als irgend einer seiner Landsleute, die später nach England kamen, besaß er diese beiden Haupteigenschaften, die vereint erst einen vollkommenen Theatersänger ausmachen, versichert Galliard23, der in solchen Sachen Urtheil und Erfahrung besaß. Sir Richard Steele sagt: sein Vortrag, seine Charakterzeichnung müsse selbst einem tauben Manne verständlich sein, so augenfällig und plastisch schön offenbare sich alles, was darzustellen sei, an seiner ganzen edel geformten Gestalt.24[272]

Und Addison: »Ich habe oft gewünscht, unsere Tragödienspieler möchten sich seine Action zum Muster nehmen.«25 Solche Fähigkeiten mußten das rathlose Drama nur um so mehr erschüttern. Nicolini besaß dabei eine entsprechend kräftige tonreiche Stimme.L'Anfione dell' udito e Proteo della vista, ein Amphion für das Ohr und ein Proteus für das Auge, sagten seine Zeitgenossen.

Die Verwirrung der Sprachen dauerte auch noch bei der nächstfolgenden Oper Clotilda fort, denn es schien dem damaligen Geschmacke, wie Burney sehr gut bemerkt, in Poesie und Musik weniger auf das anzukommen, was gesungen wurde, sondern vielmehr darauf, wie es gesungen wurde.26 Clotilda hatte Francesco Conti componirt, doch waren die unvermeidlichen Scarlatti und Bononcini zwischengeflickt. Die erste Aufführung ging am 2. März 1709 vor sich, die Oper wollte nicht recht einschlagen.

Endlich im Januar des Jahres 1710 hatten sich so viele Italiener angesammelt und so viele Engländer für die ausländische Zunge begeistert, daß man es wagen konnte, die neue Oper Almahide, das Werk eines ungenannten Componisten, ganz in dieser Sprache vorzuführen. Nur die Spiele zwischen den Acten (Intermezzi) blieben englisch. Hawkins macht also wieder falsche Berichte, wenn er Händel's Rinald für die erste ganz italienisch gesungene Oper ausgiebt27; nicht dies war es, was den Rinald von allem Vorausgegangenen abhebt.

Auch die Oper Hydaspes, die am 23. Mai 1710 herauskam28, wurde durchaus italienisch gesungen. Componist derselben war Francesco Mancini, ein namhafter Römer. Nicolini, in dessen Besitz sich die Partitur befand, übernahm selber die Oberleitung, wie früher Valentini bei dem Triumph der Liebe. Alles, was in Haymarket gesungen wurde, war gleich darauf bei J. Walsh gedruckt zu haben, gewöhnlich ohne irgendwelche Angabe der Componisten, denn diesen musikalischen Wegelagerern war der Begriff des Eigenthums ganz[273] abhanden gekommen. In einem solchen gedruckten Exemplar des Hydaspes, welches ich vor kurzem erstand, hat eine gleichzeitige Hand auf dem Titel hinzugefügt »comp. par Mons. Hendel«; vielleicht ist es unter seinem Namen auf einem der vielen damaligen deutsch-italienischen Theater zur Aufführung gelangt. Die Musik ist durchweg gefällig und nicht schlecht, reicht im ganzen aber noch lange nicht an Scarlatti und Bononcini, geschweige denn an Händel. Hydaspes erlebte zahlreiche Vorstellungen, wozu die schönen Decorationen gewiß auch das ihrige beitrugen. Für manche wird selbst der Kampf mit dem Löwen, den Nicolini-Hydaspes zu Anfang des dritten Actes so glänzend bestand, eine besondere Anziehung gehabt haben. Dieser Löwe, der als ein unschuldiger Chorist in der Löwenhaut nicht fürchterlicher war, als seine Nachfolger in der Zauberflöte, gab Addison Veranlassung zu einem seiner ausgezeichnet humoristisch geschriebenen Briefe über Opernunsinn; er bildet die dreizehnte Nummer des Spectator.

Die letzte Oper, welche dem Rinald unmittelbar vorausging und herauskam als Händel schon in London war, hieß Etearco. Sie war von Silvio Stampiglia gedichtet und von Marc' Antonio Bononcini 1707 für Wien componirt, nicht für Venedig wie Burney behauptet.29 Die erste Vorstellung fand am 10. Januar 1711 statt. Sie hatte nicht den Erfolg, den man sich von einer Arbeit des Componisten der berühmten Camilla versprechen durfte. Die alten Lieblingsstücke Camilla und Pyrrhus waren mittlerweile auch verbraucht. Um so mehr mußte die frische und stärkere Speise munden, welche Händel vorsetzte. Mit ihm vielleicht gleichzeitig langten Herr und Frau Boschi aus Italien hier an, so daß für den Winter 1710/11 vielleicht das beste italienische Sängerpersonal eben in London beisammen war, in einer Stadt, wo noch vor wenig Jahren fast lauter vorsündfluthliche Stimmen kreischten. Es ist überhaupt sehr merkwürdig, wie sich alle möglichen Glücksumstände dahin vereinigten, daß mit Händel's Ankunft in der Geschichte der englischen Musik eine[274] neue Wendung eintreten konnte. Die Musikliebe war in den letzten Jahren außerordentlich gewachsen, nur fehlte der Hauptlenker. Die Aufregung des Krieges machte Friedenshoffnungen Platz, so daß man für Sang und Klang wieder ein Ohr hatte; und gewannen auch allerlei elende Bestrebungen zeitweilig die Oberhand, war doch die Wirkung des vorausgegangenen siegreichen Marlborough'schen Feldzuges eine allgemeine, auch auf Deutschland sich erstreckende, die eine freudige, eine hoch musikalische Stimmung erzeugte. Kein Wunder also, daß sie Händel schon in den ersten Monaten seines Hierseins für den Orpheus ihrer Zeit ausriefen.

Mainwaring's Angabe zufolge war es besonders der Herzog von Manchester, der ihn dringend nach London einlud. »Die Nachricht von seinen ungewöhnlichen Fähigkeiten war schon vor seiner Ankunft in England ausgebreitet, und durch verschiedene Wege. Einige der Unsrigen hatten ihn in Italien gesehen, andere aber in Hannover. Er wurde bald bei Hofe eingeführt und von der Königin mit Gnadenzeichen beehrt. Viele vom Adel warteten mit Ungeduld auf eine Oper von seiner Composition.«30 Sein altes Zaubermittel, das ihn überall am schnellsten beliebt machte, sein Clavierspiel nämlich, mußte ihm besonders bei der Königin Anna zu statten kommen, denn sie war gleich der Elisabeth eine große Liebhaberin dieses Instrumentes, besaß selber ein außerordentlich schön gearbeitetes tonreiches Spinett, und that sich auf ihr Spiel etwas zu gute.31

Bei der Oper wurde er mit offenen Armen empfangen. Der junge Aaron Hill, ein vielseitig gebildeter Schöngeist, war Director des Theaters auf dem Heumarkt geworden. Als Händel sich zu der Composition einer Oper verstand, entwarf er sogleich den Plan des Stückes. Er wählte aus Tasso's befreitem Jerusalem die Kreuzfahrer-Liebesgeschichte zwischen Rinald und Armide, einen wiederholt in Musik gesetzten Gegenstand; Gluck's Armide ruht auf derselben Fabel.[275] Den Entwurf brachte Signor Rossi in italienische Verse, diese wurden durch Hill rückübersetzt und dann in beiden Sprachen gedruckt.32


Rinald. 1711.

Das Textbuch hat der Operndirector seiner verehrten Königin zugeschrieben; denn diese Oper sei in ihrem Reiche entstanden, also ihr geborner Unterthan, von dessen Beschützung alles weitere Gedeihen, und so auch das Gelingen seiner Bestrebungen die neue englische Oper über ihre italienische Mutter zu erheben, abhängen werde.33 In dem Vorworte setzt er diese hoffnungsvollen Betrachtungen fort. Bei dem hazardartigen Unternehmen, wie es im gegenwärtigen Zustande eine Operndirection sei, habe er doch Alles aufgeboten um etwas Grandioses hinzustellen und die Fehler, welche den bisher dort aufgeführten italienischen Opern anklebten, zu vermeiden. Zwei Hauptfehler fänden sich: die Stücke seien ausländischen Ursprungs, für ganz andere Sänger und Hörer, als die der englischen Bühne, componirt, und sodann fehle der Ausstattung die nöthige Pracht und Schönheit und sinnvolle Ordnung. Beide Fehler zu umgehen, habe[276]

er zunächst wohl keinen besseren Stoff wählen können, als Rinald und Armide, welche Geschichte schon für alle Bühnen und Zungen in Europa Opern abgeworfen; auch habe er glücklicherweise in Signor Rossi den rechten Versifex gefunden: und Händel, den die Welt mit Recht so sehr bewundere, habe dazu eine Musik gemacht, die für sich selber spreche. Aaron Hill war mit Händel in einem Alter (1685–1749), also in den Jahren, wo das Entwerfen phantastischer Pläne natürlich steht; aber er schweifte vom hundertsten in's tausendste, baute nichts sicher, und war auch der Mann nicht, auf den Andere sicher bauen konnten. Burney und Hawkins sind sehr schweigsam über ihn, obwohl er in diesen Jahren für das Theater keine unwichtige Person und mit allen seinen bunten polyartistischen Anläufen ein echtes Kind seiner Zeit war. Doch schon Mainwaring hat das allgemeine Urtheil seiner Zeitgenossen recht gut zusammengefaßt: »Hill's Eigenschaften scheinen fast ebenso sonderbar, als seine Lebensvorfälle. Aus gutem Geschlechte stammend und mit einigen natürlichen Gaben ausgestattet, hätte er vielleicht die Höhe erreichen mögen nach der er strebte, wenn er sich nur ein gewisses Ziel setzen wollen. Allein er war einer von denjenigen thätigen und unterfangenden Geistern, die alles angreifen und aus Mangel an Erkenntniß ihrer eigenen Stärke nichts zur Vollkommenheit bringen. Er reiste viel, las viel und schrieb viel; aber alles, was dabei herauskam, war von keiner Wichtigkeit. Eine vertraute Bekanntschaft mit den bedeutendsten Personen seiner an beaux Esprits so fruchtbaren Zeit schürte seine natürliche Hitze an, sich auch in denbelles Lettres hervorzuthun. Seiner Einbildung nach war er zu einem großen Poeten bestimmt, und die starken Lobsprüche, welche ihm Einer beibrachte, der wirklich ein solcher war [Pope], konnten ihn nur in seinem Irrthum befestigen.«34 Erst 15 Jahre alt, ging er nach Constantinopel, sah den größten Theil Europa's und das Morgenland. Sein erstes größeres Werk betraf auch die Geschichte des ottomanischen Reiches (1709). Zur selben Zeit schrieb er eine Tragödie und übernahm die Leitung des Schauspiels in Drury Lane; dann ging er zur Oper nach Haymarket über. Schon nach einigen Monaten trat ein neuer Wetterwechsel ein, Addison[277] machte die mit so vielem Scharfsinn angebrachten Decorationen und Maschinenkünste lächerlich, andere Verdrießlichkeiten kamen hinzu. Die Theaterleitung hatte er nun satt, namentlich änderte sich sein Glaubensbekenntniß hinsichtlich der italienischen Oper gänzlich und plötzlich. Hill war in diesen Jahren eine der ersten Männerschönheiten Londons; er heirathete reich und lebte sehr glücklich. Die Kunst liebte er, eignem Geständniß zufolge, nur wie eine Dame, die man niemals heirathen will! Bald machte er die wichtige Entdeckung, aus Bucheicheln Oel zu ziehen, und zwar ebenso gutes, als aus den ausländischen Oliven: dies gab Arbeit für mehrere Jahre, rief die Beech Oil Company in's Leben und veranlaßte seine nächste Schrift.35 Der Uebergang von der Dichtkunst zur Tonkunst war jedem einleuchtend, aber der von dem Orchester zur Brennkolbe konnte nur denen natürlich scheinen, die Hill kannten. Später wies er nach, daß in dem schottischen Hochlande viel für den Schiffbau nützliches Holz stehe, was man bisher als gänzlich unbrauchbar verworfen. Und weiterhin sann er darüber, wie für die russische Pottasche eigene zu gewinnen sei. Wo irgend von öffentlicher Wohlfahrt, Hebung des Volkes, der Nation, von Gemeinthätigkeit, nationaler Kunst und dergleichen die Rede war, ließ Hill seine Stimme hören; zum Minister of public works muß er zuweilen mehr Beruf in sich gefühlt haben, als zum Poeten. Voll von Anregungen und guten Vorschlägen, ließ ihn seine Heißblütigkeit für sich selber keinen einzigen Plan ordentlich in's Werk setzen. Auch an literarischen Bestrebungen vertrug sich in dem Manne ein buntes Allerlei: er hinterließ einige kleine Operntexte im Manuscript, obwohl er die Gattung zu verachten meinte, schrieb dramatische Scenen und Charaktere nach Shakspeare, und übersetzte den Voltaire. Seine ersten Werke waren so flüchtig abgefaßt, daß er sie später ungedruckt wünschte, und die folgenden so correct geschrieben, daß seine Kritiker es ihm zum Vorwurf machten. Händel hat sein Lebelang etwas auf den Hill gehalten, aber wenig auf seine Rathschläge.[278]

Schon während der Composition des Rinald stellte sich mancherlei heraus, was die Erwartungen bedeutend steigern mußte. Händel schritt an's Werk, als sein Poet erst einige Scenen fertig hatte, kam ihm aber bald auf die Fersen und zog ihm ein Blatt nach dem andern naß unter der Feder weg. Die ganze Arbeit war zu Aller Erstaunen in vierzehn Tagen abgethan. Der Componist griff dem Poeten kräftig unter die Arme, indem er mehrere lange Musikstücke aus seinen früheren Werken umgearbeitet wieder in diese Partitur einfügte mit Beibehaltung des alten Textes; aber der arme Mann fühlte sich nichtsdestoweniger ganz abgehetzt, als er endlich sein Vorwort schrieb: »Vernünftiger Leser! der Herr Hendel, der Orpheus unsrer Zeit, hat mir bei seinem Componiren kaum Zeit gelassen den Text niederzuschreiben; mit Erstaunen habe ich sehen müssen, welchergestalt in zwei Wochen eine ganze Oper im höchsten Grade der Vollkommenheit harmonisirt worden. Laß dir daher diese meine eilfertige Arbeit wohlgefallen, und da sie dein Lob nicht verdient, versage ihr doch dein Mitleid nicht, oder vielmehr, um mich besser auszudrücken, deine Gerechtigkeit, eben wegen der kurzen Zeit, in der sie entstehen mußte.«36 Rossi's Worte wurden von dem englischen Zuschauer aufgestochen. Addison sucht das Lob des neuen Orpheus lächerlich zu machen.37[279]

Voll Spötterei erzählt er seinen Lesern, Rossi müsse sich seinem Vorworte zufolge schon auf dem Wege nach dem Parnaß befinden. So richtig seine Bemerkung ist, daß solche stylistische Emphase nur trockene Peter berge, deren Unterfangen, ihnen eine neue Bildung zu bringen, von keinem Gewinn sein könne: so sehr vergreift er sich an Händel und an der besseren Kunst, wenn er den Poeten bespöttelt, weil dieser den Tonmeister in überschwenglichen Ausdrücken lobte, aber selber auch nicht ein einziges Wort gerechter Anerkennung für Händel übrig hat, ja ihn sogar ausgesucht geringschätzig »Mynheer Hendel« titulirt – derselbe Mann, der Clayton belobte und begünstigte! Addison hat Nachkommen erhalten; er ist der Vormann in der Schaar jener geistreichen Journalisten, die alle Künste mit Anstand und auch wohl mit Ruhm vor ihren Richterstuhl ziehen und sich schließlich bei der Musik blamiren.

Bei der Ouvertüre müssen wir auf eine Erklärung Mattheson's Rücksicht nehmen; sie ist lehrreich, wie alles was er vorbringt, und diesmal für Händel auch höchst günstig ausgefallen. Händel hatte ihm unlängst, nämlich in den Jahren 1717–19, durch einige verbindliche Briefe die Versicherung gegeben, daß er seiner Verwerfung der alten Solmisation als Unterrichtsmittel vollständig beitrete. Er war daher für die nächsten Jahre ganz besonders gut auf ihn zu sprechen, und in der besten Laune von der Welt pries er 1721 die Ouvertüre zum Rinald als ein originelles kunstreiches Muster. Die Brocken alter Schulsprache mit in den Kauf genommen, ist seine Auseinandersetzung selbst in stylistischer Hinsicht nicht ohne Reiz. »Es ist früher gesagt worden, daß die Sinfonien (sonderlich wenn sie vor weltlichen Sachen erscheinen) mit einem etwas brillirenden und majestätischen[280] Wesen anfangen sollen, allwo die Haupt-Partie (d.i. die Ober-Stimme) nicht selten dominirt, und sich in 2 Reprisen einerley Mensur zu theilen pfleget. Allein dieses hat auch seine Ausnahme, und kann man solchen ersten Satz ohne Reprisen setzen, dabey aber sonst eine Veränderung anbringen, als z. E. Man lasse das frische Wesen etwann 4 oder 6 Täcte lang anheben; hernach wechsele man mit einem Trio von Bassons, oder andern Instrumenten, in einem andante ab, und continuire solches 8 oder 12 Täcte herdurch, so ist der erste Theil fertig. Dann falle man, ohne Wiederholung des Vorigen, in einen andern Tact, er sey nun gerade oder ungerade, nachdem der erste Satz es erfordert; oder man changire nur das mouvement, und bleibe bey einerley Mensur, so ist es schon genug. In solchem veränderten Tact, oder mouvement, führe man eine ordentliche Fuge durch; können 2 oder 3themata (ohne pedanterie) angebracht werden, so ist es desto besser; nur verfahre man mit mehr solidité, als bey den täglichen wilden Ouverturen, und tractire das thema, oder die themata sein rein, mit hin und wieder untermischten Trio vor Bassons, Traverses oder dergleichen ausnehmende Instrumente. Wenn eine solche regulaire Fuge dann etwa auf 50 oder 60 Täcte wohl gerathen ist, so kann man sie gerne zweymahl hören und repetiren lassen. Hiernächst aber muß noch ein Satz den Schluß machen, weil es bey dramatischen Sachen gar zu ernsthafft seyn würde, mit einer Fuge auffzuhören. Solcher dritte Satz muß aber gantz hurtig und lustig, entweder a tempo di Giga, oder aber à l'Imitation d'un Passepié, mit 2 Reprisen eingerichtet werden, und damit ist die Sinfonia fertig. Der hochberühmte Herr Capellmeister Hendel hat vor seinem Rinaldo beyde Arten der Ouvertures undSymphonies mit einander verknüpffet. Er nennet es auch: The Symphony or Ouverture in Rinaldo, und setzet erstlich 14 Täcte in dem gewöhnlichen, prächtigen Ouverturen-Stylo; doch ohne mehr, als eine förmliche Cadenz, und zwar in quintam modi zu machen, welches meine Anmerckungen Orch. I. pag. 171 bekräfftiget. Hernach fängt er ein thema, imegalen Tacte, mit dem allegro an, und führet solches, nebst einem contra-themate, einmahl, sans Ceremonie hindurch, bis an einem abermahligen Schluß in quintam modi; darauf lässt er die erste Partie 4 oder 5 Täcte alleine mit dem Basse [281] brilliren, und mutiretmodum, welches ihm Gelegenheit gibt, sein thema extra ambitum anzubringen, und in sextam modi mit dem tutti zu clausuliren; ferner folgt abermahl ein, mit dem vorigen correspondirendes, Solo der ersten Partie, etwann wieder auf 3 oder 4 Täcte, nach welchen das tutti mit dem themate, Stückweise, per imitationem einfällt, bald aber aufs neue der Ober-Stimme zum Solo, auf obige Weise Raum macht; darauf denn das thema, in regulari repercussione, mit seinem contra-themate zum final schreitet, und in eineretenduë von 40 Mesures, nicht mehr als drey förmliche Cadenzen auffweiset. So weit ist es eine Ouverture, jedoch eine Italiänisirte Ouverture, weil kein Frantzose solche Passagie noch Soli in der seinen einführen darff. Der dritte Satz ist ein kurtzes adagio von 10 Täcten, in der gemeinen Tripla: worüber ein Frantzose sich wundern würde; insonderheit, wenn er noch dazu die secundam superfluam darinn antreffen, und dabey wahrnehmen sollte, daß der Schluß dieses Satzes, durch eine tenorisirende clausulam, in tertiam modi gemacht wird. Die vierte und letzte Sectio dieser schönen Pieçe ist endlich eine ordentlicheGique im 12/8, deren erste Reprise fünff, die andere 10 Täcte hat, und also eine artige Symmetriam auffweiset. Ich hoffe, weil diese Nachrichten manchem Unwissenden trefflich zu statten kommen können, so werde der gelehrte Leser (si doctior) mir gegenwärtige Deduction gerne nachsehen, und insonderheit der grosse Mann in Engeland es zum besten auslegen, daß hier seiner wiederum gedacht worden. Es geschiehet allemahl, meiner Intention nach, in gehörigem Respect, und weiß ich, in vielen Stücken, kein besser Muster vorzuschlagen.«38 Der erste Satz dieser Ouvertüre, die Mattheson sehr richtig als eine italienisirte beschreibt, entstand auch in Italien, nämlich als Einleitung zu der sogenannten Rinaldcantate; vgl. S. 238.

Nach Hill's Behandlung der Fabel ist Rinald ein Verlobter der Almirena, Tochter des Heerführers Gottfried von Boullion; gegentheils[282] ist Argantes, König von Jerusalem, der Armide zugethan. Letztere entführt die Almirena, erlebt Rinald's Einbruch in ihr Zauberreich und verliebt sich in ihn, wie Argantes in die Almirena; endlich mit Hülfe eines Sternsehers kommen Gottfried und Eustachius als Befreier. Der ganze Mitteltheil der Oper wird durch Liebeshändel und Zaubereien ausgefüllt. Zu Anfang macht sich eine kriegerische Stimmung geltend, die sich dann gegen Ausgang des letzten Actes zu einer allgemeinen volkreichen Schlacht gestaltet. Als Argantes und Armide besiegt und gefangen werden, werfen sie ihre Zaubereien von sich und sind schnell entschlossen das Christenthum anzunehmen oder, wie sich der Schlußchor ausdrückt, das niedrige Joch des Fleisches abzuschütteln, die blinden Triebe von ihren edlen Seelen wie trübe Nebel zu verscheuchen. Von einer Verstrickung des Rinald in Armidens Liebesnetze, worauf unter andern Gluck's Dichter die Handlung baute, ist hier keine Rede. Die Verlobten bleiben einander treu wie Gold: das eben ist in der ganzen Oper der einzige gesunde Zug, der zu Herzen spricht, und zugleich die Quelle aller musikalischen Schönheiten ersten Ranges, denen wir hier begegnen. Wo eine solche Gesundheit vorhanden ist, weiß Händel sich durch rauhe Verse und alle Unbeholfenheit des Ausdrucks auf die herrlichste Weise Bahn zu brechen; wo sie fehlt, bleibt stets der beste Theil seiner Kunst verschlossen. Die Schönheiten anderer Componisten in demselben Fache vor und neben ihm liegen mehr an zufälligen Orten, je nachdem ihre Neigung ging oder ihnen ein guter Gedanke kam: bei Händel herrscht hierin stets Nothwendigkeit, in den Kernpunkt des Textes, der Oper, des Oratoriums, der Cantate, drängt sich auch der Kern seiner Töne zusammen. Die herkömmliche Redensart, reichliche Einzelschönheiten könnten für das Mißlingen des Ganzen entschädigen, eine Aushülfe mit der man so vielen Tonwerken auf eine billige Weise gerecht wird, ist bei Händel nicht anzuwenden. Im Großen und Ganzen, in der Hauptsache hat er sich niemals vergriffen, dagegen bietet er in Nebendingen der Kritik zahlreiche Blößen: das ist eins der ersten Unterscheidungszeichen seiner Schöpfungen selbst von denen der größten Tonmeister, Mozart und in gewissem Betracht auch Palestrina ausgenommen. Wo aber die Worte keinen Kern haben oder die gehobene Stimmung fehlt, macht er in seiner[283] Musik noch immer lieber ein einfältiges, als ein affectirt geistreiches Gesicht.

Gottfried, der Heerführer und würdige Vater, wurde bei der ersten Aufführung von einer Altistin, von einer Frau gesungen. So viele Fähigkeit zu heroischer Action in Mannskleidern italienische Schriftsteller der Signora Boschi auch zuschreiben, ging ein solcher Vorwurf doch wohl über die Kräfte eines Weibes. Aber in dieser Hinsicht faßte man die Zurichtung eines musikalischen Drama nicht sehr ideell; man verfuhr nach dem Grundsatze, das Werk sei unter allen Umständen für die vorhandenen Kräfte zuzurichten. Von Gottfried's Gesängen ist keiner unbedeutend. Besonders der erste »Sovra balze scoscesi«, der das Stück eröffnet, ist musikalisch sehr reich. Auf schroffen gefährlichen Spitzen steht der Tempel der Ehren erhöht, ruft Gottfried seinen Mannen zu; wer als Weichling auf Rosen liegt, wird nicht dahin gelangen! Der Text dieser Arie, obwohl dem sprachlichen Ausdrucke nach nicht sehr melodisch gehalten, hat doch den richtigen Gegensatz für den Haupt- und Mitteltheil. Die Musik besteht hier nicht, wie sonst wohl bei Händel, aus einer zusammenhängenden langen melodischen Tonreihe, sondern aus mehreren kleineren Gedanken, von denen aber jeder folgende den vorausgegangenen an Breite und Ausdruck übertrifft, der Mitteltheil die Hauptgänge davon zusammen flicht und in den verwandten Molltonarten durchführt, so daß auch mit diesen Mitteln ein durchaus einheitlicher breiter Tonsatz entsteht. Gottfried's sonstige Gesänge sind mehr einfach melodisch, bei dem einen (No, nò, che quest' alma) ist die Popularität der schwungvollen angenehmen Melodie auch durch das angehängte Flötensolo bezeugt.

Gottfried's Bruder und beständiger Waffengefährte Eustachius war dem Valentini überwiesen. Eustachius ist ein ruhiger Charakter, ein nüchtern tugendhafter Mann, also nicht sehr musikalisch. Von seinen fünf Gesängen ist in den zweiten (Col valor) am wenigsten musikalische Erfindung und am meisten von des Sängers individuellen Manieren eingegangen. Die Arie, welche er singt als sie dem Meeresstrande nahen (Siam prossimi al porto), läßt gleich mehreren andern während des Gesanges nur den Baß hören, der anfänglich der Singstimme, wie im Ritornell der obersten Spielstimme, in der Octave[284] canonisch nachgeht. Schon Burney hat an dieser Arie einige Kennzeichen von Carissimi's Setzweise wahrgenommen.39 Die folgende (Scorta rea) hat ebenfalls nur Baßbegleitung, ein kleines Zwischenspiel abgerechnet. Auch hier sind die Eintritte canonisch. Eine gewisse Absicht des Tondichters ist dabei nicht zu verkennen; er bemerkte nämlich, daß ruhigen Worten durch Verflechtung in contrapunktische Künste ein größerer Reiz verliehen wird, sowie auch, daß nur in den Augenblicken einer dramatischen Handlung, wo die Wellen der Leidenschaften sich gelegt haben, bei den Zuhörern hinreichende Neigung vorhanden ist, dergleichen scholastischen Künsten des Musikers ihr Ohr zu leihen. Die genannte Arie steht im 3/4-Takt, Händel hat aber bei einem längeren Gange vermittelst Syncopen das zweitheilige Maaß hergestellt, um die Versicherung, die Herrschaft blinder Triebe führe zum Untergang, besonders eindringlich zu machen. Die letzte Arie (Di Sion) war unzweifelhaft diejenige, in der Valentini sich am meisten bemerklich machen konnte.

Die Armide hebt sich hier nicht so auffallend als die weibliche Hauptperson hervor, wie in Gluck's Oper; die Hamburger konnten bei aller Neigung für Frauennamen das Stück nicht nach ihr betiteln. Sie bildet mit Argantes ein Paar, auch musikalisch, etwa wie Eglantine mit Lysiart in der Euryanthe. Mit ihrer ersten Arie »Schreckliche Furien gesellet euch zu mir und umgebt mich mit furchtbaren Fackeln (Furie terribili)« führt sie sich glänzend ein. Eine solche unheimliche Größe in zornflammendem Aufschwung war Händel's Zuhörern noch nicht musikalisch vorgestellt worden. Das Gesangstück ist mit recitativischen Anklängen ausgestattet, auch ist die Rundstrophe aufgegeben, beides wie »Pensieri« in der Agrippina und aus gleichen dramatischen Gründen. Ihre unmittelbar folgende Arie hinzugenommen, sind die beiden hervorstechenden Züge in Armidens Charakter, das Dämonische und das Heroische, vortrefflich gezeichnet. Händel führt uns kühn und richtig gezeichnete Charaktere vor, wo die Mehrzahl der Componisten uns mit schönen Melodien abspeist; er leitet über das Tonspiel hinweg, gerade wie Shakspeare über Verse und Prunkreden, und zu dem hin, wodurch dieses alles erst seinen geistigen Adel empfängt.[285] Wo bei ihm in der Vocalmusik ein neuer Tongedanke hervorbricht, da steht ein neuer Charakter vor uns und in einer Naturfrische, die bei dem Schwulst der Texte Staunen erregen muß. Wer die Arien der Armide vergleichend durchgeht, der wird finden, daß bei aller Mannigfaltigkeit der Töne und Stimmungen ein fester Grundzug hindurchgeht, der einheitliche Charakter der dramatischen Person. Armide ist der Agrippina verwandt, aber ihre Zwecke sind nicht, wie bei dieser, einzig auf die Herrschsucht gerichtet. Kaum hat sie Rinald gesehen, als sie von einer leidenschaftlichen Liebe ergriffen wird. Und so ungenirt, als es in den damaligen Opern Rechtens war, trägt sie sich ihm an, nennt sich in einem Duett seine ergebene Schöne und bittet ihn, zu weilen (Fermati, Armida son fedel); er verhöhnt sie auf's äußerste. Der Zwiegesang ist außerordentlich lebendig, sinnvoll und originell, aber kein Original: er stammt nebst den Worten aus der Cantate Fileno Clori und Tirsi (S. 239). Zurückgestoßen, äußert sie sich in dem herrlichen Gesange »Ah crudel«. Liebesklage und Androhungen schwerer Rache wechseln darin ab, die Ausbrüche des Zornes sind in den kürzeren Mitteltheil verlegt, und am Schluß desselben sinkt sie unerwartet schnell wieder in die tief sehnsüchtige Klage zurück, so daß deren Färbung sich über das Ganze ausbreitet. Bassons Hoboen und Violinen, theils dem Basse, theils den Singstimmen, mitunter allen beiden auf kunstvolle Weise entgegentretend, durchziehen den ersten Theil wie Seufzer, während sie in dem zweiten an der Belebtheit des Basses theilnehmen. Das Vorspiel führt einen Gedanken ein, der in seinen späteren Vocal- und Instrumentalwerken auffallend häufig und stets verändert wieder erscheint; man kann ihn ansehen als eine derjenigen musikalischen Sprachwurzeln, die bei Händel besonders reich verflochten und so zu sagen mit ihrer ganzen Wörterfamilie hervorgetreten sind. Als Armide, eben erst von einer Untreue herkommend, ihren Schatz Argantes bemüht sieht ein gleiches zu thun, macht ihre schwermüthige Stimmung einer zornigen Wallung Platz, aber einer halb verstellten, leicht hinfließenden (Vò far guerra). Darin namentlich bewiesen die Textmacher ihr Geschick, daß sie Scenen zusammen fügten, die grell von einander abstachen ohne sich durch inneren Widerspruch aufzuheben; ob die Worte halb oder ganz unsinnig klangen,[286] war Nebensache. Die Musik, welche Händel für Armidens Kriegserklärung setzte, ist dieser wieder ganz entsprechend; es ist nicht mehr Ernst darin, als in ihrer Drohung und ebenso viel Fluß und drängendes Leben. Die Arie schließt den mittleren Act. Nach vier Takten Vorspiel und ebenfalls am Schluß steht in der Partitur zwischen leeren Systemen das Wort »Cembalo«, auffallenderweise auch in dem Druck von Walsh. Hiermit wird auf eine freie Ausführung des Clavierspielers hingedeutet. Weil Händel bei den Aufführungen selber spielte, suchte er sich im Laufe der Oper eine passende Stelle aus, wo er die Zuhörer durch seine brillante Fingerkunst vergnügen konnte; mit richtigem Takte wählte er den hier bezeichneten Actschluß. Als die Eintracht wieder hergestellt ist und Armide und Argantes sich anschicken in's Feld zu ziehen, singen sie das kriegerische Duett »Al Trionfo«. Die Begleitung erhöht die Lebendigkeit der schwungvollen Melodien, das Ganze ist aus lauter Händel'schen Lieblingsgängen geschickt sur die Bühne zusammen gesetzt und machte eine außerordentliche Wirkung. Die Sängerin – Signora Pilotti, oder mit vollem Namen Elisabetta Pilotti Schiavonetti, Kammersängerin des Churfürsten zu Hannover, doch von 1710–17 in England – muß eine Stimme von bedeutender Höhe gehabt haben, denn sie setzt einmal frei im dreigestrichenen c ein.

Wie schon bemerkt, wurde Argantes von dem berühmten Boschi gesungen, für den Händel später mehrere seiner feinsten Baßarien componirte. Sein Wuthgebrüll »Sibillar« haben wir als aus Acis und Galatea stammend schon Seite 244 besprochen. Zwei andere Arien, die er als seufzender Seladon aushaucht, sind natürlich gelinder, und ebenfalls gesangreich.

Die Betrachtung der umstehenden Personen in diesem dramatischen Bilde führt uns schließlich zu dem Paar, das in der Mitte steht und sich in treuer Liebe die Hand gereicht hat: zu Rinald und Almirena. Gottfried's Aufruf zur Tapferkeit unterstützt seine Tochter, indem sie mit ihrem Gesange »Combatti« den Rinald auffordert, zunächst mehr an den Krieg als an die Liebe zu denken. Ihre Melodie athmet kriegerischen Geist, der Anfang kommt mit dem des Dessauer Marsches überein. Aber Rinald ist erschlafft, es macht ihm kein Vergnügen, daß seiner Liebe Stillstand geboten wird. Die eigentliche[287] Liebesscene ist in den sechsten Auftritt der ersten Handlung verlegt, und erst deren unerwartet schrecklicher Ausgang vermag die schlummernden Kräfte des Helden wieder wach zu rufen. Man hatte sein möglichstes gethan, um diese Scene theatralisch in die beste Beleuchtung zu bringen. Das Theater zeigt eine schön aufgeputzte Natur mit Spaziergängen in beschnittenen Hecken, Springbrunnen und dergleichen, als Hauptzierde aber ein Vogelhaus, in welchem allerlei Vögel singen und fliegen. Dieses Vogelhaus repräsentirte eine von Hill's reformatorischen Ideen. Die Absicht ging auf allerlei Vögel, weil es aber Winter war, mußte man sich mit Sperlingen begnügen. Nichts Lebendiges ist zu Anfang der sechsten Scene auf dem Schauplatz, als diese Sperlinge. Eine gelinde langsame Musik von zwei Flöten, Violette als Baß und Solo der Piccolflöte hüpft und zwitschert einundzwanzig Takte lang bis zum Auftreten der Almirena, wo das volle Orchester in Bewegung kommt: und bei dieser Symphonie begab es sich, daß die Sperlinge über das Theater strichen. Dem geistreichen Mitarbeiter am Zuschauer schien das ein Glanzpunkt und eine wahre Zubehör musikalischer Dramen zu sein. Aber nicht nur Hill hatte einen Sperling, wenn er mit solchen decorativen Erfindungen die englische Oper über die italienische erheben wollte, sondern auch Addison, wenn er in diesen zufälligen Kinderpossen einen Mangel der Kunstgattung entdeckt zu haben glaubte. Händel wurde nicht weiter davon berührt, er war auch hier den Leuten mit einigen unschuldigen Takten zu willen, die denen, welche Ohren hatten, die Sperlinge in Nachtigallen verwandelten. Wer aber sehen will, was er später bei minderer Abhängigkeit von den Finten Anderer aus solcher Naturumgebung zu machen wußte, der vergleiche die ganz ähnlich angelegte Scene zwischen Achsa und Othniel im ersten Theil des Josua. Als Almirena erscheint, tritt ein tonreicheres Saitenspiel hinzu, und die Vogelmusik gestaltet sich zu einem wahrhaft süßen Liede. Sie fragt die Vöglein und die Westwinde, wo ihr Geliebter weile. Nach ihrem ersten kriegerischen Gesange wäre die richtige Antwort gewesen: in der Schlacht; aber das hatte man schon wieder vergessen. Rinald kommt, und mit ihm hat sie das fröhliche Duett »Scherzano«, dessen Worte und Töne ebenfalls aus der Cantate Fileno Clori und Tirsi (S. 239) genommen sind. Die Freude nimmt ein Ende mit[288] Schrecken. Armide wird plötzlich sichtbar und reißt die Almirena zu sich. Als Rinald zum Degen greift, thut sie ein gleiches, aber den Kampf verhindert eine zwischentretende schwarze Wolke voll feuerspeiender brüllender Ungeheuer, die die Frauen verhüllt und so durch die Luft entführt. Nur zwei Dämonen bleiben zurück, die aber, als sie den Rinald eine Weile ausgelacht haben, ebenfalls verschwinden. Dieses erschütternde Ereigniß, wenn man es so nennen will, fördert den wahren Goldgehalt von Rinald's Liebe zu Tage, es ist dasselbe wenn wir sagen: von Händel's Kunst. Noch unwissend, was nun beginnen, aber im tiefsten bewegt, stimmt der Held jenen Gesang in Emoll »Cara sposa amante cara« an, den Händel später für einen seiner allerbesten ausgab.40 Es ist ein sehnsuchtsvoller Nachruf an die ihm entrissene Geliebte, und eine Androhung die Räuber bis in die Hölle zu verfolgen. Nach diesem Inhalt zerlegt sich die Arie in zwei klar geschiedene Theile, Largo und Presto. Ihr Aufbau ist also dem von Armidens Arie »Ah crudel« sehr ähnlich, sie überragt diese aber sonst in jeder Beziehung. Sie enthält diejenige Vereinigung geistiger Tiefe, melodischer Schönheit und contrapunktischer Kunst, welche wir in der Agrippina noch vermißten, und enthält sie in einem Grade wie keine zweite neben ihr. Gleich das folgende wird uns wieder Gesänge von ausgezeichnetem Werth entgegenführen, aber zugleich auch den Beweis geben, daß eben das allerschönste, was außer »Cara sposa« noch in dieser Oper vorhanden ist, einen durchaus einfachen Charakter hat, also den Theil gar nicht besitzt, der gerade hier zu voller Blüthe aufgegangen ist. Ebenfalls dürfte man in den Partituren der berühmtesten vor- und gleichzeitigen Meister im dramatischen Fache einen gleichen Tonsatz vergeblich suchen. Die kunstreiche, und nach damaligem Empfinden auch stimm- und tonreiche Begleitung der Saiteninstrumente breitet ein Helldunkel aus, durch das die Stimme, so oft sie erscheint, stets klar hindurch leuchtet. In einigen der besten folgenden Opern Händel's finden sich Sätze, die diesem Erzeugnisse musikalischen Tiefsinnes auch in der Form sehr nahe kommen, und im Rhadamist werden wir einem begegnen, der allerdings noch schöner ist. Als wahrhaft dramatisch[289] kennzeichnet der Gesang sich dadurch, daß nur an der Stelle, welche er in der Oper einnimmt, sein voller Gehalt empfunden werden kann. Gottfried und Eustachius treffen Rinald unbeweglich und wie in Erstarrung dastehen. Sie dringen mit Fragen in ihn. Erst schweigt er, dann erklärt er das Vorgefallene ein wenig, sinkt aber plötzlich wieder in seinen Schmerz zurück, sein Herz anklagend, daß es bei solchem Leiden nicht vergehe, und von neuem durch Rachegedanken entflammt. In dieser Gemüthsstimmung singt er das Lied »Cor ingrato«. Es setzt ohne Vorspiel schnell ein, schwingt sich ungehemmt in die Höhe, da weiter keine Begleitung als die des Basses vorhanden ist; schon nach einem Zwischenspiel von einem einzigen Takte beginnt der zweite Theil, das Ende desselben leitet unmittelbar in den Anfang zurück. Das alles ist an sich zwar etwas Aeußeres, aber um inneren Anforderungen zu genügen, ist es in weisester Absicht so und nicht anders geordnet. Man sollte meinen, Rinald hätte »Cara sposa« oder ein Stück davon einfach wiederholen sollen. Aber dem Componisten entging es nicht, daß Rinald's Leidenschaft nicht mehr auf der Stufe steht, die sie in dem vorigen Gesange einnahm: aus dem beengenden Schmerze ist der Held schon einen Schritt herausgetreten und um ebenso viel zur muthigen That vorgerückt, die auch unmittelbar darauf in's Werk gesetzt wird. Eben dieser psychologischen Wandlung, dieser Mittelstellung zwischen gepreßtem Schmerz und tollkühner That sollte die Arie zum Ausdruck dienen; daher die Kürze, der leichte Tongang, die hellere Melodie. Auch dieser kleine Gesang hat Schönheiten, die unbeschreiblich sind, das beste daran ist die tiefe Charakterwahrheit, die Beziehung auf das Seelenleben. Leistungen der Art sind der inneren Dramatik angehörig, einem Gebiete, für dessen Bestellung die wahre Musik reichere Mittel besitzt, als jede andere Kunst. Um Händel's Verdienst im rechten Lichte zu erblicken, vergegenwärtige man sich nur die beiden abweichenden Arten, in denen eine solche Scene componirt werden könnte und in ähnlichen Fällen auch vielfach componirt ist. Ein sinniger Tonsetzer würde »Cor ingrato« zu der Melodie von »Cara sposa« zurückführen, damit aber gegen die Natur der hier waltenden Leidenschaft verstoßen; ein geschickter Theatermelodien-Macher hingegen würde in einen möglichst weit entlegenen Ton ausbiegen, also die vorhergegangene Stimmung nicht weiter[290] leiten, sondern vernichten. Zwischen beide tritt Händel mit bewundernswerther Sicherheit in die rechte Mitte.

Als Rinald sich unter Beihülfe seiner Waffengefährten zum Nachsetzen und Nachforschen anschickt, heischt er in der Arie »Venti« von den Winden, daß sie seinen Fuß beflügeln, und von den Göttern, daß sie ihm alle feindliche Macht niederschlagen helfen. Mit diesem Gesange, in dem wieder das volle Leben pulsirt, schließt der erste Act, und zugleich ist damit die ganze herrliche Scene einheitlich abgerundet. Hier war auch für den Sänger ein günstiger Moment, sich in voller Bravour zu zeigen, wie am Ende des zweiten Actes für den Clavierspieler. Vieles davon muß man für Schale halten. Daß aber diese Schale einen süßen Kern einschließt, ist augenscheinlich, denn die Hauptgedanken verdichteten sich später zu dem Kammerduett »No di voi« und enthalten demnach das Motiv zu einem der schönsten Chöre des Messias.

Der Anfang der zweiten Handlung zeigt uns die Helden auf dem Wege zu einem Magier hin, um den Sitz der Dämonen auszukundschaften. Sie gelangen an's Meer; es wallt und wogt, dann wird es still, und ein Schiff liegt vor Anker. Das ist ein Zauberschiff, ein Instrument der Armide. Auf dem Schnabel sitzt eine schöne Meerfei, umspielt von Syrenen, Najaden und Tritonen, die auf Meerwundern reiten. Indeß die Fee den Rinald zu sich ruft, locken die holden Ungeheuer singend und tanzend, den Mai des Lebens in Scherzen und Liebeswonnen hinzubringen. Die Melodie des Syrenengesanges ist eine Siciliana, und so gehalten wie sie Händel zu setzen liebte; doch erregt der etwas fremdartige Tonfall die Vermuthung, ein italienisches Volkslied möge dabei benutzt sein. Ist dies der Fall, so hat er das Lied schon in Italien eingeflochten, denn der Tonsatz ist in voller Länge aus der Rinald-Cantate entlehnt (S. 239). Die erste Hälfte der Melodie, der die zweite in Gdur wesentlich gleich ist, sei mit dem zwiefachen Texte und den kleinen Aenderungen hergesetzt:


2. Erste Reise nach London

2. Erste Reise nach London

[291] Der oben stehende Text und die nach oben gezogenen Noten gehören in die Cantate. Die Syrenen singen einstimmig, aber die Begleitung ist für das Quartett ausgeschrieben. Die Meerfei giebt vor, Almirena habe sie abgesandt, den Geliebten zu holen. Das genügt, um Rinald in die höchste Aufregung zu versetzen. So sehr auch die Gefährten zurückhalten, er stürzt sich in das Zauberschiff. Bevor es geschieht und das Schiff auf die Höhe des unter Donner und Blitz aufbrausenden Meeres fährt, singt Rinald, daß er selbst auf den Höllenhund losgehen werde (Il tricerbero). Die Melodie hat durch den Baß in Octaven und Violinen im Einklange eine von den andern Stücken ganz abweichende Begleitung bekommen. Sie ist charakteristisch und feurig, obwohl aus etwas grobem Holze geschnitten. Wir haben davon einen deutlichen Beweis, denn wie schon Burney bemerkt hat, machte man daraus ein englisches Trinklied »Let the waiter bring clean glasses, Kellner bring uns blanke Gläser«, das lange Jahre in ganz England bei munteren Gelegenheiten gesungen wurde41.

Rinald kommt nun wirklich dahin, wo man seine Almirena gefangen hält. Bevor er anlangt, sehen wir diese in Armidens Garten, von Argantes zudringlich umworben. Sanft aber entschieden wehrt sie ab, sie wünscht nichts, als nur ungestört ihrem Schmerze[292] leben zu können; lascia ch'io pianga, laß mich beweinen mein hartes Schicksal und den Fall meines Glückes beklagen! ist alles was sie erbittet. Schon durch die ersten Töne ihres Gesanges wird man von der Empfindung des hier waltenden Schmerzes plötzlich wie übergossen und in eine Stimmung versetzt, die der Eindruck des Ganzen noch unendlich erhöht. Auch hier, wie bei »Cor ingrato«, wird einzig richtig ohne Vorspiel begonnen. Eine große Seelenstärke offenbart sich in diesem Gesange, der so voll und gesättigt in langsamen Tönen hinfließt, aber eine solche, bei der alle Kraft gänzlich in Klage aufgegangen ist. An thätigen Widerstand scheint Almirena nicht entfernt zu denken. Durch Versenkung in ihren Schmerz wolle sie die Bande brechen, hören wir sie seufzen; aber auch ohne dieses Geständniß sagen uns schon ihre Töne von Anfang an ganz dasselbe und mit einer Gewißheit, vor der das Wort zurücktreten muß. Hier haben wir ein zweites Beispiel, wie das Auge des Tondichters auf den Grund der Seele blickt, und dann wahrhaft schöpferisch Charakter und Stimmung in einem Zuge hinstellt. Von diesem Gesange kann man lernen, was es heiße in Schmerz getaucht sein. Er nimmt hier neben »Cara sposa« den ersten Platz ein, ist aber ohne irgendwelche contrapunktische Anlage in der Melodie ganz einfach melodisch und in der Begleitung ganz einfach harmonisch gehalten. Seite 122 findet man ihn gedruckt nebst dem kleinen Tanze, aus dem er entsprang, und es wird immer merkwürdig bleiben, wie eine Tonreihe, die zuerst nur auf die Munterkeit der Füße ihr Absehen gerichtet hatte, sich so natürlich zu der Sprache eines tief bekümmerten Gemüthes umbilden konnte. Diese Verwandlung ist fast noch merkwürdiger, wenigstens lehrreicher für die Kräfte der Musik, als die unserer alten weltlichen Volkslieder in Kirchengesänge. Burney hat übrigens bei »sorgfältiger« Untersuchung der im Rinald vorhandenen musikalischen Schönheiten diese Arie, durch welche Almirena ihrem Geliebten erst recht zugehörig erscheint, zu bemerken vergessen! Die Almirena wurde von Isabella Girardeau gesungen; obwohl die Sängerin nicht unbedeutend gewesen sein kann, läßt sich doch nur vermuthungsweise über sie reden, nicht einmal ihr Herkommen ist mit Sicherheit zu bestimmen. Nach Burney's Annahme wäre sie mit der bei Quadrio Isabella Calliari genannten Sängerin, die in den Jahren 1700–1720 zu den[293] namhaftesten ihrer Zeit gehörte42, eine und dieselbe Person, und Verheirathung mit einem Franzosen hätte ihren Namen verändert.43 Wir stellen sie zu der Schaar jener Sängerinnen von dunkler Herkunft und gewöhnlich auch höchst abenteuerlichem Leben, die damals aller Orten auftauchten.

Geister tragen Rinald durch die Luft zu Armide. Sie verliert ihr Herz an ihn, wir sahen aber schon vorhin, wie er sie abweist; erst als sie sich darauf plötzlich in der Gestalt der Almirena zeigt, naht er sich ihr. Wie diese Verwandlung, dann während der Umarmung die ebenso schnelle Rückkehr zu ihrer eigenen Figur bewerkstelligt und gleich darauf noch einmal wiederholt werden konnte, ist schwer zu begreifen. Dergleichen Räthsel, die der Scharfsinn des Maschinisten zu lösen hatte, finden sich in der Oper mehrere. Als Gottfried und Eustachius endlich die Befreiung bringen, ist das Spiel eigentlich zu Ende, wenngleich noch eine Weile fortgesungen und durch die sich entladende Schlacht ein lärmendes Ende sowie eine oberflächliche allgemeine Versöhnung herbeigeführt wird. »Hor la tromba«, Rinald's letzter Gesang, hat Trompetenbegleitung, besteht auch in der Melodie wesentlich aus Intonationen dieses Instrumentes, und ist trefflich gesetzt, Nicolini muß eine große Wirkung damit erzielt haben. Hieran schließt sich das letzte Stück, eine äußerst muntere Bourrée für vier Singstimmen, der einzige Chor in der ganzen Oper. Auf seinen Wortinhalt gesehen, ist dieser Chor weder ernst noch tief genug; aber man hielt damals und noch lange nachher diejenigen Chorsätze zu Opernschlüssen am geeignetsten, die sich nicht über den Bereich allgemeiner Munterkeit hinauswagten. Natürlich unterließ Händel, kunstvolle Sachen vorzulegen an einem Orte, wo sie doch niemand weder auswendig lernen und singen, noch anhören mochte.

Das ist der Rinald, die vierzehntägige Arbeit. Sehen wir auf die namhaften Tonsätze, die Händel besonders aus seinen Cantaten einfügte, so kann es fast den Anschein gewinnen, als wolle er das Geschäft[294] der Londoner musikalischen Handwerker, die Opernbäckerei, fortsetzen, wenn auch mit seinem eignen Korn. Aber weil der Kern dieser Oper eine ganz neue Schöpfung ist, so erscheint die Sache in einem andern Lichte. Rinald ist bis dahin seine bedeutendste Leistung und zugleich das erste Originalwerk für die italienisch-englische Bühne, auch in den Theilen, die ihm seinen eigentlichen Werth geben, für andere Tonmeister unerreichbar. Weder Scarlatti noch sonst jemand vermag gegen »Cara sposa« und »Lascia ch'io pianga« etwas von gleichem Werthe und in gleichem Styl aufzustellen, obgleich sie oft genug ähnliche Scenen componirt haben. Den großen Fortschritt der Agrippina gegenüber wird jeder, der dem Ebengesagten Glauben schenkt, zugeben. Daß Rinald sich nicht bloß durch eine reicher entfaltete, tiefer gehende Musik, sondern auch durch eine besser angelegte Handlung und durch reinere musikalischere Charaktere von der Agrippina unterscheidet, ist ebenso augenscheinlich, als daß Händel später einige Werke für das Theater lieferte, die in beider Hinsicht noch vollkommner sind.

Die Oper machte einen außerordentlichen Eindruck. Wenn es wahr ist, daß Walsh bei dem Verkauf der 65 gestochenen Folioseiten »Songs in the Opera of Rinaldo Compos'd by M.r Hendel« baare funfzehnhundert Pfund, über zehntausend Thaler verdiente44, so hat man einen ziemlich guten Gradmesser des öffentlichen Beifalls. Trotz der förmlich zersungenen Singspiele von Scarlatti und Bononcini hing die Masse doch noch immer an dem alten Nationalliebling Purcell. Erst Händel vermochte sie diesem mehr und mehr abwendig zu machen.45 In seinen Tönen schien sich die Blüthe einer neuen Kunstrichtung mit den altgewohnten volksthümlichen Klängen vermählt[295] zu haben. Sie drangen daher wieder unter die Masse, unter die Feinen wie unter die Gemeinen, zu Allen, die natürlichen Tonsinn hatten, wenn sie auch weiter nichts kannten und konnten, als Psalmodien, Balladen, Catshes und Rundgesänge. Ihr Verständniß war nicht von Sprachkenntnissen oder irgend einem Bildungsgrade abhängig, obwohl sie in sich so sein und so hochgebildet waren, daß sie denen, die Italien gesehen hatten, die Musik jenes Landes ersetzten, auch bald von berühmten Sängern dorthin verpflanzt wurden. Die Aufnahme, welche dem Rinald zu Theil wurde, belehrte Händel, daß er hier sein rechtes Publikum gefunden hatte. Denn so viel er auch an dem musikalischen Geschmacke der Engländer auszusetzen fand, so viel Flick- und Stückwerk und so geringe Schöpferkraft er bei ihren Componisten wahrnahm, und so wenig auch der Masse von dem verfeinerten Musikgefühl des italienischen Volkes eingetränkt war: sah er doch hinreichend, daß man den eigentlichen Kern seiner Hervorbringungen hier besser, als in irgend einem andern Lande zu schätzen wußte. Man muß den Tonsetzer glücklich preisen, der, wenn ihm eine Schöpfung wie Rinald gelungen ist, nun auch eine Oeffentlichkeit findet, die seine feinsten Züge versteht und bewundert und bei der seine gröberen Striche populär werden.

Die Oper wurde ohne Unterbruch, gelegentliche Benefiz-Aufführungen abgerechnet, bis zum 2. Juni, bis zum Schluß der Saison gegeben, zusammen funfzehnmal. Damals fanden wöchentlich nur zwei Aufführungen statt. In den folgenden fünf Jahren wurde sie sehr oft wiederholt, selbst noch 1731, wo er die Partitur mit Bleistift arg zugerichtet hat. Als die Opern von 1717 bis 1720 Ferien hatten und Nicolini England verließ, nahm er die Partitur des Rinald mit und veranlaßte in seiner Vaterstadt Neapel 1718 eine Aufführung, unterstützt von dem berühmten Leonardo Leo, der damals noch ein junger Mann war.46 Schon 1715 hatten sich die Hamburger den Rinald zugelegt. Es war das erste Werk, welches dort seit 1708 von Händel zur Aufführung gelangte, und es öffnete ihnen die Augen über Alles, was sie früher theils aus Vorurtheil oder Trägheit, theils weil es noch in der Knospe verschlossen lag, nicht[296] wahrgenommen hatten. Barthold Feind übersetzte den Text. Nach seiner Art recensirt er im Vorbericht und stichelt auf die unfruchtbaren städtischen Componisten. Er hat hauptsächlich den Mattheson im Auge, dieser schrieb ihn dafür als Nummer 7 in das schwarze Buch seiner Widersacher. An der Arbeit des Poeten findet Feind zu loben, »daß fast jede Scene lebhafft, feurig, activ und abwechselnd ist, die Intrigues auch, ob sie gleich nicht eben so gar gewaltig groß, dennoch auch gleichwol aus keinen Liebs-Begebenheiten einer Wäscherin bestehen. Daß aber der Welt-berühmte grosse würckliche Chur-Hannöversche Capell-Meister, Georg Friedrich Hendel, diesem so schönen und angenehmen Kinde, innerhalb 14 Tagen, zur Gebuhrt verholffen, ohne alles Kreischen, solches ist eine Sache, wozu ein so grosser harmonischer Geist, als der Hendelische, gehöret. Der Italiänische Verfasser nennet ihn deshalb auch l'Orfeo del nostro secolo und ein Ingegno sublime (nella Musica zu verstehen), dergleichen Ehre sonst noch wenig, oder wol gar keinen Teutschen von einem Italiäner oder Frantzosen erfahren, welche Herren sich sonst nur über die teutsche Lieder zumoquiren pflegen. En fin, wird ihm wohl niemand den glorieusen Musicalischen Titel, als der Neid selber, disputirlich machen... Die teutsche Poesie betreffend, hat der Uebersetzer des Italiäners Worte, Metro und Verstand gerade nach des Herrn Capellmeisters Hendels Music, wo es nöthig gewesen, fast sclavisch gefolget, damit auch kein eintziger Thon von diesem vortrefflichen Mann verlohren gehen mochte. Wann man mercken solte, daß dergleichen Arbeit einigen unverhofften plausiblen Ingress, was die Music betrifft, finden sollte, so kan man damit inskünfftige ferner aufwarten, und sollen, in solchem Fall dieserOpera, alle Sujets dieses unvergleichlichen Componisten bald folgen.« Wenn auch nicht alle, sind doch nach und nach die bedeutendsten Händel'schen Opern auf diesem Theater zur Aufführung gelangt, indeß keine einzige weiter durch Feind's Beihülfe.

Der große Erfolg des Rinald brachte in London Aufregung hervor, freundliche und feindliche. In Italien, das doch so sehr auf seine Vorzüge hält, war Händel geehrt und bewundert von einen: Orte zum andern gegangen, ohne Neid, ohne Cabale: der beste Beweis, daß man ihn als durchziehenden Gast ansah. In England dagegen[297] mußte er sich den Boden Schritt vor Schritt erobern. Die Hauptsprecher der Gegner waren Joseph Addison und Richard Steele, die Herausgeber des Spectator und des Tatler, zwei befreundete Journalisten. Bei ihrer Polemik lauerten Zweifel im Hintergrunde an der Zulässigkeit des musikalischen Drama als wirklicher Kunstgattung. Ohne Umschweife sagt Steele in einem Lobgedicht auf Nicolini, als dieser 1712 zum ersten Male, und wie es schien für immer, England verließ:


Was Unsinn war, ward schön durch seine Kunst

Und wandte selbst von Shakspeare unsre Gunst.47


Doch waren es zum großen Theile persönliche Interessen, die den Widerspruch hervorlockten. Addison blutete noch an den Wunden, die ihm das Schicksal seiner Rosamunde geschlagen, und Steele hatte klingenden Gewinn davon, wenn die Schau- und Trauerspiele in Drury Lane volle Häuser machten, wozu noch kam, daß er seinen Concertsaal in Yorkbuildings an Clayton & Co. vermiethet hatte. Was war natürlicher, als daß die geistreichen Männer diesen Instituten auch ihre gewandte Feder liehen und die italienische Oper niederzuschreiben suchten? In den Spectator wurden am 26. Dec. 1711 und am 18. Jan. 1712 zwei von Clayton, Haym und Dieupart unterzeichnete, aber von Steele geschriebene Gesuche eingerückt, das Publikum möge ihre Concerte in Yorkbuildings durch Subscription unterstützen.48 Ihre Haupterwerbsquelle, die Zusammenstellung englischer Opern aus italienischen Arien, war durch Rinald plötzlich und auf immer versiegt. Steele half noch weiter rathen. In der gedruckten Correspondenz des John Hughes befindet sich ein Schreiben, in welchem Steele in seinem und Clayton's Namen ihn ersucht, die berühmte Ode »Alexander's Fest« von Dryden für musikalische Composition zurecht zu biegen.49 Hughes that es, und Clayton hatte[298] den Muth sie in Musik zu bringen, führte auch seine Sache mit gewohnter Meisterschaft. Dieses Alexanderfest kam noch im Jahre 1711 in Yorkbuildings zur Aufführung. Als Hughes den kläglichen Erfolg wahrnahm, hatte er Ursache sich seiner Mitarbeiterschaft zu schämen. Es ist ein gutes Wort von dem Herausgeber seiner Briefe, Händel habe später durch Composition derselben Dryden'schen Dichtung die Schande, welche Clayton dieser angethan, wieder ausgelöscht. Hughes war mit Händel bekannt geworden, wovon wir bald weiter hören werden, und blieb einer seiner unpartheilichsten Freunde. Händel's wohlthätige schnelle Wirkung auf die Ansichten derer, die überhaupt Sinn für Musik hatten, läßt sich garnicht besser darlegen, als durch den Brief, in welchem Hughes sich über Clayton's Musik ausspricht. Der Brief ist an Steele gerichtet. Sie hatten über die Composition eine Unterredung gehabt, und Steele ersuchte ihn darauf, seine Meinung zu Papier zu bringen. Er that es ausführlich und sehr höflich. Eine Stelle bleibt für alle Zeiten beherzigenswerth. »Nach meiner Meinung hat Clayton die Worte im allgemeinen natürlich genug ausgedrückt, mitunter sogar pathetisch. Aber weil Sie vorauszusetzen scheinen, darin bestehe das ganze Geheimniß der Setzkunst, so benutze ich diese Gelegenheit Sie zu versichern, daß es ebenso wohl möglich ist, in einer fehlerhaften Composition die Worte natürlich und pathetisch heraus zu bringen, als in einem schlechten Gemälde eine Aehnlichkeit zu erreichen. Wenn die musikalische Partitur nicht auf den Grundsätzen der Composition, auf Harmonie und Contrapunkt, erbaut ist, bleibt ein Gesangstück mangelhaft, sei der Wortausdruck auch noch so natürlich. Das ist eigentlich erst die Kunst der Composition, die Spielraum genug hat, abgesehen von allen Worten ein bewundernswürdiges Geschick zu entfalten, und in der die Regeln der Klangverbindung eine Art von Syntax ausmachen, von der niemand abweichen darf.«50 An sich war dies auch schon damals eine alte Wahrheit; aber daß Hughes sie der neuen wilden Poesie-Musik gegenüber so wacker vertheidigt, erwirbt ihm unsern Dank.

Diejenigen, welche sich zu Schutzherren solcher Wichtelmänner[299] aufwarfen, zeigten dadurch hinlänglich, daß ihnen jedes tiefere Musikgefühl abging. Sie hielten die Musik für eine dienende Kunst, höchstens für eine nationale. Volkslieder, Kirchengesänge, Märsche und Tänze, die natürlichen Keime einer gesunden und freien Tonkunst, wären hiernach ihre obersten Gattungen. Verdrießlicher, als die falsche Ansicht, ist der geringe Ernst, mit dem sie vorgetragen wird. Wir müssen namentlich bei Addison beklagen, daß er die Sache nicht genug durchdachte – denn was Steele vorbringt, ist am Ende gleichgültig –, er würde uns sonst mit mehreren solchen Briefen beschenkt haben, wie der 29ste einer ist. Hier haben wir ein Hauptstück seines musikalischen Glaubensbekenntnisses. Das beliebt gewordene italienische Recitativ anlangend, sagt er, wolle er nur bemerken, daß es allerdings natürlicher lasse, von der Arie zur musikalischen Recitation abzuspringen, als zur planen Rede, wie gewöhnlich in Purcell's Opern der Fall sei. Aber englische Worte sollten nicht nach italienisch geformten Recitativen abgesungen werden, denn hierin habe jede Sprache ihre eignen Bedürfnisse. Wer in Italien gewesen, wisse wie sehr die recitativischen Cadenzen nur den tonvolleren Ausdruck der gewöhnlichen Sprechweise bildeten. So komme den Engländern das häufig gebrauchte Moll oft wie traurige Klage vor, da es doch in der italienischen Sprache bei ganz gewöhnlichen und nicht selten bei sehr heiteren Dingen verwandt werde; Fremde faßten dieses ebenso wenig, als die Italiener zu begreifen vermöchten, daß Purcell so wundervoll den Sprachaccent der englischen Worte gefunden habe. Hier sei Lully weise gewesen, was er gesetzt, passe ganz für Frankreich.51 Es ist ein ausgezeichneter Brief, wenn man auf die lichtvolle Klarheit der Gedanken, die Anmuth der Darstellung, die bezaubernde Sprache sieht. Aber darin geht Addison fehl, daß er das Banner nationaler Musik aufpflanzen will, als eben der Genius der universalen Tonkunst unter sie getreten war, und angesichts der ersten großen Leistung desselben.

Es gab eine Stelle, von der sich die damalige englisch-italienische Oper ebenso gerecht als wohlthätig angreifen ließ. Vor wenigen Jahren erst hatte man erlebt, daß der Angriff eines sittenstrengen[300] Priesters die englische Bühne säuberte – das einzige Mal, wo die Streitschrift eines Theologen über das Theater die öffentliche Meinung für sich hatte. Im Jahre 1698 schrieb Jeremias Collier seine »Kurze Uebersicht der Sitten- und Ruchlosigkeit der englischen Schaubühne. (A short view of the immorality and profaness of the English Stage, with the sense of Antiquity).« Das Buch hatte einen unerhörten Erfolg, aber auch Vorzüge, die man in keiner Schrift von ähnlicher Tendenz wieder finden wird. »Wir kennen kaum ein Buch, das so viele Ausflüsse jener eigenthümlichen Beredtsamkeit enthielte, die aus dem Herzen kommt und zum Herzen dringt. In der That ist der Geist des Werkes wahrhaft heroisch.«52 Man blicke nach Deutschland. Im Beginn der Opernspiele hatten hier Priester und Comödianten über denselben Gegenstand gestritten, sogar berühmte Facultäten zur Entscheidung aufgerufen, aber mit welchem Erfolge? Statt der Versöhnung kam Zwietracht, statt der Besserung die ärgste Sittenlosigkeit. Seit dieser Zeit hegen unsere Geistlichen einen Groll gegen die Bühne, und seit dieser Zeit gehört es unter unsern Schauspielern zum guten Ton, von der Kirche nur in schimpfenden ekelhaften Ausdrücken zu sprechen. Die hamburgische Bühne erlebte erst nach dem Streit eine Blüthe der Sittenlosigkeit, die der des englischen Theaters unter Karl II. ziemlich nahe kam. Die hamburgischen Prediger schrieben und donnerten unter einer Umgebung, die noch eine ganze Zeit hindurch mit jedem Tage schlechter sittenloser feiger wurde, während der britische Priester den Gefühlen eines Volkes Sprache lieh, das sich mit Scham von seiner jüngsten Vergangenheit abwandte. Sein großer Erfolg beruht fast allein darauf, daß das Volk anders und besser war, als diejenigen es darstellten, die den Beruf haben, dem Zeitalter in einem treuen Spiegel seine wahre Gestalt zu zeigen. Collier zerschlug diese ihre Spiegel, deren Schliff noch aus der ruchlosen Zeit von 1660 bis 1688 herrührte. »Wenn Herr Collier mein Feind ist«, sagte Dryden, »so mag er frohlocken. Ist er mein Freund, wie ich ihm denn keine persönliche Veranlassung gegeben habe, über mich anders zu denken, so[301] wird er sich meiner Reue freuen.« Konnte der Nestor der dramatischen Dichtung, der doch weit der beste von allen war, eine solche Sprache führen, muß allerdings die Wirkung eine außerordentliche gewesen sein.

Verstehe ich Macaulay recht, so war es Addison, der Collier's Werk auf die wohlthätigste humanste Weise vollendete. Er sagt: »Jeremias Collier hatte die Theater so beschämt, daß sie etwas angenommen hatten, was man im Vergleich mit den Gemeinheiten Etherege's und Wycherley's Anstand nennen konnte. Indessen haftete in der öffentlichen Meinung noch immer die verderbliche Ansicht, es bestehe eine gewisse Verbindung zwischen Genie und Liederlichkeit, zwischen häuslichen Tugenden und der finstern Förmlichkeit der Puritaner. Es ist der Ruhm Addison's, diesen Irrthum zerstört zu haben. Er zeigte der Nation, daß die Treue und Sittlichkeit eines Hale oder Tillotson mit einem noch glänzenderen Witz, als Congreveihn hatte, und mit einem noch reicheren Humor, als er in Vanbrugh lebte, sehr wohl sich vertrügen. In der That wußte er den Spott, der jüngst noch der Tugend gegolten hatte, so erfolgreich gegen das Laster zu kehren, daß eine offene Anstandsverletzung seit seiner Zeit stets als das Kennzeichen eines einfältigen Menschen gegolten hat. Und diese Umwälzung, die größte und heilbringendste, welche je ein Satyriker bewirkte, vollendete er – man behalte das wohl! – ohne einen persönlichen Angriff zu machen.«53 Meine Ausstellungen bringe ich nur mit großer Schüchternheit vor, wie es einem solchen Schriftsteller, einem solchen Helden und einem solchen Volke gegenüber wohl nicht anders sein kann. Man zweifelt bei Addison keinen Augenblick, daß man es mit einem ebenso sittlichen als gebildeten und geistvollen Manne zu thun hat. Das Gefühl für das Schickliche war ihm angeboren, und wie er es kampflos gewonnen hatte, konnte er es auch kampflos in der Welt bewahren und bethätigen. Es läßt sich also begreifen, warum ihm eigentliche Polemik widerwärtig war. Addison's Sittlichkeit war eine rein persönliche in einer so beschränkten Form, daß sie nur unvollkommen auf das Allgemeine übergehen konnte. Bei all' seinen anständigen, tugendhaft christlichen Gesinnungen[302] hatte er die Vergötterung einer kleinen Clique gern, in der das Unanständige stark überwog, sorgte auch dafür, so oft er sich malen ließ, daß außer seinem seinen Kopfe noch seine schöne Hand zu sehen war, bewahrte mehr die Würde eines hohen Staatsbeamten, der sich zum Minister aufschwang, als die eines einfachen Mannes, und war er natürlich weit entfernt von dem Dummstolz vieler deutschen Beamten, so trennte ihn doch auch von dem Lessing'schen Sichgehenlassen ein Etwas, das der nicht kennt, der nicht Staatssecretär werden kann und jahrelang einer verwittweten Gräfin den Hof macht, um schließlich in einem glänzenden häuslichen Elend zu sterben. Addison ist ein Tugendmensch, der für sich sittlich war, und ein Christ, der für sich selig wurde. Dem Guten in ihm scheinen gerade die Züge zu fehlen, durch welche ein individuell Erlebtes zu einem allgemein Wahren, eine persönliche Rechtschaffenheit zu einer allgemeinen Tugend wird. Eine literarisch wie moralisch große Wirkung versteht sich bei seinem Genie von selbst, aber eine allgemeine begreife ich nicht. Sein Einfluß auf die Literatur läßt sich nicht entfernt mit Lessing's Läuterung vergleichen, und das müßte er doch, wenn Addison's Betragen auf die Zeitgenossen und das nächstfolgende Geschlecht die nachhaltige Wirkung gehabt hätte, von welcher Macaulay spricht. Etwas derartiges sehe ich erst von 1740 an hervortreten, aber nicht mehr als die Wirkung seiner Tugend, sondern als die freie Erhebung aus vielfach verzweigten Irrungen und Lastern. Noch zwanzig Jahre nach Addison bleibt der Gesellschaftszustand den bedenklichsten Schwankungen, einem beständigen Ebben und Fluthen ausgesetzt, bleibt haltlos in der Kunst wie in den Sitten, bis dann gegen die Mitte des Jahrhunderts hin im Bunde mit unvergänglichen Kunstwerken zum ersten Male nach dem Elisabeth-Zeitalter wieder eine feste Volkssittlichkeit hervortritt. Wenn diese Ansicht von der Entwickelung des englischen Volkslebens trotz der geringen Kenntnisse, die ich davon haben kann, richtig sein sollte, so verdanke ich es einer genauen Betrachtung der Händel'schen Lebensumstände; und zugleich würde daraus folgen, daß der große Ausländer, oder sage ich lieber: die musikalische Kunst, viel enger damit verwachsen ist, als man je geglaubt hat. Die weitere Ausführung dieses Verhältnisses wird im folgenden Bande eine meiner angenehmsten Aufgaben sein.[303]

So viel liegt klar vor Augen, daß Addison, wollte er England vor einer rein italienischen Oper bewahren, die Stelle nicht fand, von der sie anzugreifen war. Das Verlangen nach Musik äußerte sich plötzlich und mit krankhafter Heftigkeit. Es folgte Collier's Angriffen auf dem Fuße. Mit dem Jahre 1702 beginnt diese musikalische Tobsucht. Das englische Schauspiel stand leer, selbst bei guten neuen Stücken, die sonst Tausende anzogen; der beliebte George Farquhar konnte 1702 mit seiner Comödie Unbeständig (Inconstant) so wenig durchdringen, als zur Zeit jeder andere Dramatiker. Vergleiche, Streitschriften, Kritiken und Parodien halfen nichts. Die ausländischen Concertsingereien konnten sich schon nach ein paar Jahren zu Opern gestalten und erhielten durch mannigfache Canäle immer frische Nahrung zugeführt, während das britische Schauspiel zu verarmen schien. Von diesem Widerstreit zwischen Schauspiel und Oper hätten Kritiker, denen es gleichgültig sein mußte, welche Theaterkasse die vollste war, und die nur die wohlthätige Gesammtentwicklung in's Auge zu fassen hatten, sich gänzlich losmachen müssen. Die Frage, ob Oper oder Drama? die Addison, Steele und alle Andern im Stillen immerfort peinigte, durfte ein weiser »Zuschauer« garnicht aufwerfen. Dagegen hätte er unablässig an die Zergliederung der ausländischen Stücke gehen müssen, und zwar mit den gesunden dramatischen Grundsätzen, welche keine Bühne so wie die englische an die Hand gab. Er würde dann gefunden haben, daß sich in diesem ausländischen Flitterstaat alle die unsaubern Geister, die Jeremias Collier soeben erst verscheucht hatte, wieder einnisten wollten, der ganze romanische Leichtsinn, die Unsittlichkeit und die innere Unwahrheit. Eine solche Kritik, mit männlichem Ernste durchgeführt, würde vielleicht Alles von Grund aus geändert haben, selbst dem zum Trotze, was Dryden und Purcell versäumt hatten. Der italienische Flitterstaat wäre sicherlich in Feuer aufgegangen. Aber sicherlich auch hätten sie in der Asche einen Klumpen reinen Goldes gefunden, genannt musikalische Poesie, und daraus würde man die neue englische Oper geschmiedet haben. Das war der große Weg, der vorgezeichnet war. Was geschah aber? Man plänkelte an dem Beiwerk der Italiener ein wenig herum, versuchte es mit der patriotischen Oper einmal, und zum andern, und noch einmal, ohne dabei irgend einen von den[304] Grundmängeln der italienischen Texte zu vermeiden, und ohne irgend einen ihrer Vorzüge zu erreichen, ja ohne Sinn und Verstand von der Sache. Kein Wunder also, daß es so kam wie es gekommen ist, und daß der Spectator bei aller Bewunderung, die er erregte, nicht mehr wirkte, als er gewirkt hat.

Sprachmengerei, plumpe Gänge der Handlung, verstiegene Ausdrücke, rauhe Verse, läppische Aufzüge, verunglückte Maschinen und ähnliche Dinge waren es, die man mit Vorliebe heraushob. Der Humor, mit welchem es geschah, hat kaum seines Gleichen. Das noch jugendlich unbeholfene Operntheater wurde auch anfangs dadurch verwirrt und wußte für die Folge einigen Nutzen daraus zu ziehen. Aber welche Wirkung würde bei einer solchen Lage der Dinge ein Lessing erzielt haben! Eine Kritik, die sich nicht auf den Kernpunkt der Sache einläßt, muß im Ganzen als schädlich, oder doch als unerheblich bezeichnet werden. Die Unredlichkeit bestand namentlich in dem Zusammenwerfen des Bedeutenden mit dem Unbedeutendsten, so daß »Mynheer Handel« von allerlei Schnurren nur durch ein Komma geschieden, und mit ihnen vereint den Lachern übergeben wurde. Unter diesen Lachern spielten übrigens die Helden der Oper eine Hauptrolle. Nicolini war für den »Schwätzer« und den »Zuschauer« so eingenommen, daß er Englisch lernen wollte, um sie im Original lesen zu können, welchen Wunsch der liebenswürdige Hughes kaum hatte aussprechen hören, als er dem Cavalier in einem höflichen Schreiben seine Unterstützung anbot und ihm vorläufig den Misanthropen mit beigefügter englischer Uebersetzung zusandte.54 Der Handel wurde völlig so harmlos aufgefaßt, als er war. Auch Nicolini's und Händel's römische Freunde lachten über den Kampf mit dem Löwen, über die Sperlinge, über den Mönch der für die Oper empfohlen wurde. Der Papst lachte, daß ihm der Bauch erschütterte. Für Händel war es so ergötzlich, als es nur immer für jemand sein konnte, dem humoristische Dinge eine der liebsten Erholungen waren, der durch die begeisterte Aufnahme seines Werkes sich in der besten Stimmung befand und lebenslang seinen köstlichen Humor über den bekannten Unsinn der italienischen Oper zum besten gab. Er selber[305] wurde nicht weiter angezapft, sondern nahm eine noch sicherere Stellung ein, als in Hamburg bei der Almire. Aber wenn man ihn auch öfter gestreift hätte, würde er doch nie das peinliche Gefühl gehabt haben, mit dem namentlich der Director der Oper, Aaron Hill, die Kritiken begleitete; denn außer dem Stoff zum Lachen gewährten sie ihm noch das ganz besondere Vergnügen, sie von oben herab übersehen zu können. Händel allein befand sich in einer Stellung, die ihm einen Durchblick gestattete. Er sah die Quellen, aus denen ihnen die Irrthümer zuflossen. Nichtsdestoweniger empfand er das Wohlthuende, das Anregende dieser hochgebildeten Umgebung so sehr, daß ihre Ausstellungen ihm lieber sein mußten, als die Lobgesänge der hamburgischen Tölpel. Wie schief übrigens Addison die Sache auch beurtheilt haben mag, Gehässigkeit lag seiner edlen Natur gänzlich fern, daher würde man ihm durch eine harte Beurtheilung unrecht thun. Schon Burney ließ sich ziemlich umständlich auf die Streitigkeiten ein, doch ohne eine Ahnung des geschichtlichen Zusammenhanges, ja ohne halbwegs genügende Kenntniß der Thatsachen. Was er dem Spectator entgegensetzt, ist bemerkenswerth. Addison findet es mit Recht absurd, die italienische Oper zu besuchen, ohne die italienische Sprache zu verstehen, geräth aber in einen komischen Widerspruch, wenn er gleichzeitig die Concerte, die doch nur aus Brocken italienischer Opern bestanden, nicht bloß ungeschoren läßt, sondern sogar empfiehlt. Nun spielt Burney seinen besten Trumpf aus und fragt: was ist denn eine Oper anders, als das vollkommenste Concert?55 Diese Auffassung des musikalischen Drama als Concert ist zwar für die erste Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts sehr bezeichnend, aber Burney, der um 1788 schrieb, hätte ohne einen großen Aufwand von Scharfsinn doch wohl etwas besseres finden können.

Als ich zuerst nach England kam, pflegte Händel später zu erzählen, fand ich dort wenige Componisten, aber viele gute Spieler. Die meisten und besten unter ihnen wurden, soweit es Orgel und Clavier betraf, seine Bewunderer und seine Nachahmer. Einer, nun eine vergessene Größe, vermaaß sich zwar zu sagen »Laßt ihn nur kommen, wir wollen schon mit ihm handeln, da bin ich Bürge[306] für!« als aber sein Wunsch in Erfüllung ging, als Händel wirklich kam und sich öffentlich auf der Orgel hören ließ, verschwand dieser in seinen eigenen Augen so große Mann, wie später Marchand vor Bach, und wurde zu Nicht und zu Schanden.56 Andere jedoch, die mit größerer Kunst geringere Anmaaßung verbanden, sprachen mit Erstaunen von ihm. Er war ihnen als Harpsichord-Spieler das, was Nicolini als Sänger war, bei weitem der erste. Der fähigste englische Spieler auf Tasteninstrumenten war der junge William Babel, Organist und später Privatmusiker bei König Georg I. Schon aus den früheren Opern hatte er mehrere der beliebtesten Gesänge für das Clavier arrangirt und damit Beifall geerntet, aber erst seine Lessons über Rinald-Arien machten ihn berühmt. Diese glänzenden und schwer auszuführenden Claviersätze verbreiteten seinen Ruf auch in Deutschland. Mattheson erzählt uns: »Er [Händel] hatte in England einen Schüler, Nahmens Babel, von dem man sagte, daß er seinen Meister überträffe«57; im Orgelspiel nämlich. Als eigentlichen Schüler will Hawkins ihn nicht gelten lassen, weil Händel in England nur fürstliche Personen unterrichtet habe.58 Der Grund ist durchaus nicht stichhaltig, doch ereignet es sich mitunter, daß Sir John das Glück der blinden Taube hat. Mattheson wußte es auch nur vom Hörensagen und war nie genau über Babel unterrichtet, wie die folgenden Worte beweisen: »Laß die Organisten und Clavicymbalisten in England (ja gar in Italien) auf ihr Gewissen bekennen, ob sie keinem Teutschen etwas zu dancken haben. Ich weiß gewiß der berühmte und Faust-fertige Babel in London, falls er noch lebet, wird es nebst vielen andern, aufrichtig gestehen müssen.«59 Das ist 1731 geschrieben, Babel starb aber schon 1722 in seinen besten Jahren. Er verehrte Händel, lernte von ihm und arbeitete ihm in die Hände; ohne seine vorausgegangenen Bemühungen würden Händel's Clavierstücke nicht so schnellen Eingang gefunden haben.[307]

Während seiner Anwesenheit besuchte er auch häufig den alten Londoner Concertvater Thomas Britton, einen überaus merkwürdigen, bei Hoch und Niedrig beliebten Mann, der zahllose Freunde und vielleicht keinen einzigen Feind hatte. Britton war ein Kohlenhändler, aber im bescheidensten Maaßstabe, denn er trug seine Waare selber durch die Straßen, hatte gleich dem niedrigsten Köhler den schwarzen Sack auf seinen Schultern und rief »Köhlchen«, small-coal. Seht da geht der berühmte Small-Coal-Mann, sagte das Volk. Man betrachtete ihn mit ehrerbietiger Scheu und nannte ihn Mister und Sir. Nachdem die tägliche Runde gemacht und das Arbeitskleid abgethan war, verwandte er die übrige Zeit des Tages und den Abend zum Aufkaufen alter Bücher und Manuscripte, zum Zeichnen, Studiren und Musikmachen. Er spielte die Viola da gamba, das alte Lieblingsinstrument der Engländer, auf dem sie schon zu Shakspeare's Zeit berühmt waren; auch von der Theorie der Musik hatte er die Elemente begriffen. Sein musikalischer Klubb, von 1678 bis zu seinem Tode 1714, also 36 Jahre bestehend, wurde als die erste glückliche Vereinigung dieser Art Stammhaus und Pflegestätte aller folgenden Musikaufführungen in der Hauptstadt. Zuerst war er nicht umfänglicher als ein deutsches Quartett. Der Musiksaal befand sich in dem ärmlichen Hause des merkwürdigen Mannes, über dem Kohlenlager, war ziemlich lang, aber schmal und so niedrig, daß man bequem an die Decke reichen konnte. Die Treppe außen am Hause ließ sich nur mit Mühe besteigen; als es aber erst Mode geworden war, machte es den Leuten ein wahres Vergnügen, jeden Donnerstag Abend Tom Britton's Stiege hinauf zu klettern. Das wöchentlich abgehaltene Concert war das Labsal der Alten, der Jungen, der Fröhlichen, der Schönen aller gebildeten Stände, Personen höchsten Ranges eingeschlossen. Die Herzogin von Queensbury, die erste Schönheit ihrer Zeit, fehlte selten. Hier ließen die musikalischen Virtuosen ihr Licht leuchten, und gewöhnlich bevor sie in die eigentliche Oeffentlichkeit traten. Händel war oft dort, phantasirte auf dem Flügel oder auf der kleinen Orgel und leitete die Aufführungen.60

Nach mehreren angenehm verstrichenen Monaten war es hohe[308] Zeit, an Heimreise und Antretung des hannöverschen Capellmeisteramtes zu denken. Die Saison neigte überdies zu Ende. Händel, wann kommen Sie wieder? fragte jeder bei dem er sich verabschiedete; auch die Königin. Solche und viele andere Merkzeichen von Wohlgefallen an seiner Art und Kunst waren ihm, wie man zu sagen pflegt, äußerst schmeichelhaft. Sobald er nur einen weiteren Urlaub auswirken könne, versprach er sich ungesäumt wieder einzustellen.

Fußnoten

1 »1662. Jan. 9. I saw acted ›The Second Part of the Siege of Rodes‹. In this acted the fair and famous comedian, called Roxelana from the part she performed; and I think it was the last, she being taken to be the Earl of Oxford's Misse (as at this time they began to call lewd women). It was in recitative music.« Edw.F. Rimbault, An historical sketch of the history of dramatic music in England, from the earliest time to the death of Purcell, anno Dom. 1695; gedruckt als Einleitung zu der Oper Bonduca A Tragedy, Altered from Beaumont and Fletcher, The Music Composed A.D. 1695, By Henry Purcell, Edited by Edward F. Rimbault, F.S.A. London, Printed for the Members of the Musical Antiquarian Society. (1842.] Fol. p. 14. In der AusgabeDiary and Correspondence of John Evelyn (London 1850, 4 Bände) steht »The Third Part of the Siege of Rhodes« statt »The Second«, was doch gewiß ein Versehen ist, denn es gab nur zwei Theile.


2 History IV, 180.


3 »5 May [1659]. I went to visit my brother in London, and next day to see a new Opera after the Italian way, in recitative musiq. and scenes, much inferior to the Italian composure and magnificence.« Diary and Correspondence I, 331. Evelyn giebt hier, im Jahre 1659, dem musikalischen Drama den Namen Oper, wonach Kiesewetter's Annahme, diese Benennung finde sich wohl zuerst 1681 bei dem Franzosen P. Menestrier (Schicksale und Beschaffenheit des weltl. Gesanges etc. Leipzig 1811. 4. S. 54), zu berichtigen ist. Schon in dem ersten Drucke der »Belagerung von Rhodus« vom J. 1657 kommt das WortOpera wiederholt als eine ganz vertrauliche allbekannte Benennung vor, die also längeren Gebrauch voraussetzt; die Beispiele stehen bei Burney, History IV, 180–83.


4 »1674. 5th. January. I saw an Italian opera in music, the first that had been in England of this kind« Diary and Correspondence II, 90.


5 Wörtlich: »For its author he has faithfully endeavoured a just imitation of the most famed Italian masters, principally to bring the seriousness and gravity of that sort of musick into vogue and reputation among our countrymen, whose humour 'tis time now should begin to loath the levity and balladry of our neighbours. The attempt he confesses to be bold and daring; there being pens and artists of more eminent abilities, much better qualified for the imployment than his or himself; which he well hopes these his weak endeavours will in due time provoke and enflame to a more accurate undertaking. He is not ashamed to own his unskilfulness in the Italian language, but that is the unhappiness of his education, which cannot justly be counted his fault; however he thinks he may warrantably affirm that he is not mistaken in the power of the Italian notes, or elegancy of their compositions.« Hawkins, History IV, 497.


6 »Music and Poetry have ever been acknowledged Sisters, which walking hand in hand support each other; as Poetry is the harmony of words, so Music is that of notes: and as Poetry is a rise above prose and oratory, so is Music the exaltation of Poetry. Both of them may excel apart, but sure they are most excellent when they are joyn'd, because nothing is then wanting to either of their perfections: for thus they appear like wit and beauty in the same person. Poetry and Painting have arrived to their perfection in our own country: Music is yet but in its nonage, a forward child, which gives hope of what it may be hereafter in England, when the masters of it shall find more encouragement. 'Tis now learning Italian, which is its best master, and studying a little of the French air, to give it somewhat more of gayety and fashion. Thus being farther from the sun, we are of later growth than our neighbour countries, and must be content to shake of our barbarity by degrees. The present age seems already disposed to be refined, and to distinguish betwixt wild fancy and a just numerous composition. So far the genius of your Grace has already prevailed on us: many of the nobility and gentry have followed your illustrious example in the patronage of Musick. Nay, even our poets begin to grow ashamed of their harsh and broken numbers, and promise to file our uncouth language into smoother words.« S. King Arthur, edited by Edward Taylor, Introduction p 3–4. Hawkins (IV, 500) und Burney (III, 501) geben die Stelle nur im Auszuge.


7 »These and other qualities have raised M. Grabu to a degree above any man who shall pretend to be his rival on our Stage.« King Arthur, edited by Edw. Taylor, Introduction p. 2.


8 »There is nothing better than what I intended but the music, which has since arrived to a greater perfection in England than ever formerly, especially passing through the artful hands of Mr. Purcel, who has composed it with so great a genius that he has nothing to fear but an ignorant. illjudjing audience. But the numbers of poetry and vocal music are sometimes so contrary, that in many places I have been obliged to cramp my verses, and make them rugged to the reader that they may be harmonious to the hearer, of which I have no reason to repent me, because these sorts of entertainments are so principally disigned for the ear and eye, and therefore, in reason, my art on this occasion ought to be subservient to his; and besides, I flatter myself with an imagination, that a judicious audience will easily distinguish betwixt the songs wherein I have complied with him, and those in which I have followed the rules of poetry in the sound and cadence of the words.« King Arthur. edited by Edw. Taylor, Introduction p. 15.


9 History III, 509–10.


10 B. Feind, deutsche Gedichte S. 85.


11 Le Glorie della Poesia e della Musica p. 85. Burney (IV, 199) setzt die venetianische Aufführung ohne Grund in das Jahr 1678.


12 Burney, History IV, 199.


13 History IV, 201.


14 History IV, 210.


15 History V, 138–41.


16 History V, 142.


17 History V, 143–45.


18 Burney, History IV, 200.


19 Schon am 24. April 1705 erschien: Loves of Ergasto, componirt von einem Deutschen, Jacob Greber, der mit der Sängerin Margarita de l'Epine, der späteren Gattin von Pepusch, aus Italien kam. Im folgenden Jahre kam hinzu: Temple of Love, nach Burney (IV, 200) ebenfalls von Greber gesetzt, aber nach Hawkins (V, 136) in Uebereinstimmung mit der englischen Dramaturgie (Biographia dramatica; or, a Companion to the Playhouse. By D.E. Baker, J. Reed and St. Jones. 3 vols. London 1812. III, 326) von dem Signor J. Saggione, einem Contrabaßspieler aus Venedig, der schon um 1702 mit Gasparini in London war. Burney dürfte hier im Irrthum sein.


20 Burney, History IV, 205.


21 Der Text davon befindet sich in der Bibliothek zu Wolfenbüttel.


22 A Comparison between the French and Italian Music and Operas. Translated from the French with Remarks. London 1709. In dem Critical Discourse on Operas and Musick in England. p. 75.


23 Tosi on florid Song, translated by J. Galliard. London 1742. p. 152.


24 The Tatler, 1710 Nr. 115. S. A. Chalmers, The British Essayists. London 120. 1823 vol. 1–4. III, 50.


25 The Spectator, 1711 Nr. 13. S. A. Chalmers, The British Essayists vol. 5–8. V, 60 ff.


26 Burney, History IV, 210.


27 Hawkins, History V, 146.


28 Burney, History IV, 212.


29 History IV, 221. Vgl. Gerber, Neues Lexicon der Tonkünstler I, 568. Nach Hawkins (V, 169) hätte N. Haym den Text geschrieben, was gänzlich unrichtig ist.


30 Memoirs p. 78.


31 »She had a spinnet, the loudest and perhaps the finest that ever was heard, of which she was very fond. She gave directions that at her decease this instrument should go to the master of the children of the chapel royal for the time being, and descend to his successors in office: accordingly it went first to Dr. Croft.« Hawkins, History IV, 427.


32 Aufgenommen in The Dramatic Works of Aaron Hill. 2 vols. London. 1760. I, 71–143.


33 »To Her Most Sacred Majesty, The Queen.

MADAM, Among the numerous arts and sciences which now distinguish the best of nations under the best of Queens; Music, the most engaging of the train, appears in charms we never saw her wear till lately; when the universal glory of your Majesty's illustrious name drew hither the most celebrated masters from every part of Europe.

In this capacity for flourishing, 'twere a public misfortune, shou'd OPERA'S, for want of due encouragement, grow faint and languish: My little fortune and my application stand devoted to a trial, whether such a noble entertainment, in its due magnificence, can fail of living, in a city, the most capable of Europe, both to relish and support it.

MADAM, This OPERA is a native of your Majesty's dominions, and was consequently born your subject: 'T is thence that it presumes to come, a dutiful entreater of your royal favour and protection; a blessing, which having once obtain'd, it cannot miss the clemency of every air it may hereafter breathe it. Nor shall I then be longer doubtful of succeding in my endeavour, to see the English OPERA more splendid than her MOTHER, the Italian. I humble – –«. Dram. Works I, 72.


34 Memoirs p. 80–81. Vgl. Mattheson, Lebensbeschr. S. 65.


35 An impartial Account of the discovery and undertaking to make Oil from the fruit of the Beech tree. By A. Hill. London 1714. British Museum: 116. K. 29.


36 »IL POETA AL LETTORE. Eccoti, benigno lettore, un parto di poche sere, che se ben nato di notte, non è però aborto di tenebre, mà si farà conoscere figlio d'Apollo con qualche raggio di Parnasso. La fretta di darlo alla luce provenne da chi cerca sodisfare la nobilitâ con cosi non communi; ed in me prevalse una gara virtuosa, (non già nella perfezzione dell' opera, mà solo nella brevitâ del tempo) poiche il signor Hendel, Orfeo del nostro secolo, nel porla in musica, a pena mi diede tempo di scrivere, e viddi, con mio grande stupore, in due sole settimane armonizata da quell' ingegno sublime, al maggior grado di perfezzione un opera intiera. Gradisci, ti prego discretto lettore, questa mia rapida fatica, e se non merita le tue lodi, almeno non privarla del tuo compatimento, che dirò più tosto giustizia per un tempo così ristretto. Se qualche d'uno poi non e contento, mi spiace; mà che questi tali considerino bene, ch'il disgusto proverra da loro medesimi, e non dalla composizione, che in fine e prodotta da quella bona volonta con cui rispetta tutti, e puole sodisfare ogn' uno. Giacomo Rossi.« A. Hill, Dram. Works I, 74. In dem Auszug bei Mainwaring(p. 79) und danach bei Hawkins (V, 268) sind die Sätze verstellt.


37 »He afterwards proceeds to call Mynheer Hendel the Orpheus of our age, and to acquaint us, in the same sublimity of style, that he composed this opera in a fortnight. Such are the wits to whose tastes we so ambitiously conform ourselves«. The Spectator vom 6. März 1711, Nr. 5. »Von Addison läßt sich zuversichtlich behaupten, daß es schwer, wenn nicht unmöglich ist, in den Werken, die er uns hinterlassen hat, eine einzige Spötterei zu finden, die man unfreundlich oder unedel nennen könnte.« Th.B. Macaulay, Addison's Leben und Schriften. In der deutschen Ausg. seiner ausgewählten Schriften, Braunschweig 1855. V, 191. Hier steht diese einzige unedle Spötterei, und der Gegenstand war eine so unbedeutende Person, als Händel, ein Fiedler aus Deutschland, für den Staatssecretär Addison nur immer sein konnte.


38 Friedrich Erhard Niedtens Musicalischer Handleitung Anderer Theil. Zweyte Auflage, Verbessert, vermehret, mit verschiedenen Grund-richtigen Anmerckungen, und einem Anhang von mehr als 60 Orgel-Wercken versehen durch J. Mattheson... Hamburg 1721. kl. 4. S. 106–7.


39 History IV, 224.


40 Hawkins, History V, 268.


41 History IV, 224.


42 »Isabella Calliari, Viniziana.« Quadrio, Storia e Ragione d'ogni Poesia. III. 2 p. 536. Die unmittelbar folgende Venetianerin Francesca Calliari ist doch wohl ihre Schwester.


43 History IV, 220.


44 Hawkins, History V, 268. Für Händel's scherzhafte Aeußerung: um die Sache auszugleichen, solle Walsh die nächste Oper componiren und er wolle sie verhandeln – finde ich keine zuverlässige Quelle.


45 »My father, who was nineteen years of age when Purcell died, remembered his person very well, and the effect his anthems had on himself and the public at the time that many of them were first heard; and used to say, that no other vocal Music was listened to with pleasure, for near thirty [?] years after Purcell's death; when they gave way only to the favourite opera songs of Handel« Burney, History III, 479.


46 Burney, Sketch in Comm p. 50.


47

Nonsense grew pleasing by his syren arts

And stole from Shakspeare's self our easy hearts.


Steele's Miscellany. Vgl. Hawkins History V, 133.


48 Spectator Nr. 258 u. 278. Burney, History IV, 225 citirt die Nummern 158 u. 178.


49 Letters by several eminent persons deceased. Including the Correspondence of John Hughes, Esq. and several of his friends, published from the Originals, 2 vols. London 1772. I, 50–51.


50 John Hughes, Letters I, 54–55.


51 Spectator Nr. 29.


52 Macaulay, die Lustspieldichter der Restauration. Ausgewählte Schriften V, 125.


53 Ausgewählte Schriften V, 191–192.


54 Letters II, 43–45.


55 History IV, 226.


56 Memoirs p. 83–84.


57 Vollkomm. Capellmeister S. 479.


58 History V, 180.


59 Grosse General-Baß-Schule S. 45.


60 Hawkins, History IV, 378 und V, 76.

Quelle:
Chrysander, Friedrich: G.F. Händel. Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1858.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Haller, Albrecht von

Versuch Schweizerischer Gedichte

Versuch Schweizerischer Gedichte

»Zwar der Weise wählt nicht sein Geschicke; Doch er wendet Elend selbst zum Glücke. Fällt der Himmel, er kann Weise decken, Aber nicht schrecken.« Aus »Die Tugend« von Albrecht von Haller

130 Seiten, 7.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon