Dreizehntes Kapitel
Die abgedankte Kapelle • Graf Durazzo • Meine Reise mit Gluck nach Italien • Die Marini • Aufenthalt in Bologna • Farinelli • Nicolini und der blinde Bettler • Deputation • Pater Martini • Furcht • Übereilte Rückkehr nach Wien • Mein Wetteifer mit Lolli

[105] Der regierende Herzog von Sachsen-Hildburghausen, dessen Großoheim, der Prinz, mein Wohltäter war, starb; und der zurückgebliebene Erbprinz dieses Herzogtums war ein Kind von sechs bis sieben Jahren. Dies hatte zur Folge, daß meinem Prinzen nicht nur die Vormundschaft über seinen Mündel, sondern auch die Administration und Regentschaft des Herzogtums angetragen wurde, die er weder ablehnen konnte noch wollte und die ihn also nötigte, nach Hildburghausen zu ziehen.

Da er an diesem Hofe schon eine Kapelle fand und überhaupt mit der Erziehung des Erbprinzen, auch mit der Administration des Landes alle Hände voll zu tun bekam, so mußte er den größten Teil seiner eigenen Kapelle entlassen. Damit aber die Entlassenen ihr Brot nicht verlieren möchten, so wurde mit dem Grafen Durazzo, der damals die Hauptdirektion des Hoftheaters hatte, verabredet, daß dieser uns übernahm und mit uns einen Kontrakt auf drei Jahre schloß, kraft welchem wir sowohl beim Orchester des Theaters als bei der Hofkapelle um den nämlichen Gehalt, den wir beim Prinzen hatten, dienen mußten.

Niemand war hierbei übler daran als ich; denn ich mußte nicht nur beinahe täglich von zehn Uhr früh bis zwei Uhr nachmittags bei den Opern- und Balletproben so[106] wie des Abends bei den Spektakeln im Theater von halb sieben bis zehn Uhr, sondern auch bei den alle Freitag gehaltenen Theaterakademien akkompagnieren sowie auch alle vierzehn Tage Konzert spielen. Ebenso war ich verbunden, an Fest- und Galatagen beim Kaiserlichen Hofe selbst mich zu produzieren.

Man kann leicht denken, daß ich bei diesem beschwerlichen Dienste weder Zeit hatte, Scholaren anzunehmen noch Privatkonzerte zu frequentieren, wodurch mir jeder Nebenverdienst abgeschnitten war. Und da damals überdem der Luxus aufs höchste gestiegen war, so konnte ich ja doch auch, wenn ich als Virtuose vor dem Publikum, ja selbst vor dem Kaiserlichen Hofe auftreten mußte, mich nicht in Kleidung vernachlässigen. Meine 37 Fl. 30 Kr. monatlicher Gage gingen für Frühstück, Mittag- und Abendessen darauf. Nirgend konnte ich mich in die Kost bedingen; denn wer hätte mir außer den Gasthäusern um zwei, auch wohl halb drei Uhr aufgetischt? Ich mußte daher hier für teures Geld zehren, und ich hatte manchen Tag einen Gulden vertan, ohne mich satt gegessen zu haben.

Gluck war schon seit zwei Jahren als Hof- und Theaterkapellmeister mit einem Gehalt von 2000 Gulden engagiert. Schon beim Prinzen hatte er mich in Affektion genommen. Ich suchte mich durch mein Anschmiegen an ihn darin zu erhalten, und es gelang mir, ihn so zu gewinnen, daß er mich wie seinen Sohn liebte. Ich nahm also meine Zuflucht gerade zu ihm und stellte ihm die Umstände vor, wie sie es in der Tat waren, worauf er mir versprach, sich meiner anzunehmen. Des andern Tages fuhr ich mit ihm zum Grafen Durazzo. Gluck klärte ihm alles auf, und ich bat entweder um eine[107] Zulage an Besoldung oder um meine Entlassung. Gluck ermangelte nicht, mich aus allen Kräften zu unterstützen. Endlich sagte der Graf zu mir: »Liebes Kind! es steht nicht in meiner Macht, Ihnen weder Zulage zu geben, noch Sie zu entlassen; denn ich kann nichts wider Ihren Kontrakt tun. Aber vier Tage in der Woche kann ich Sie dispensieren, mithin können Sie an diesen Tagen für sich verdienen, was Sie wollen, und auf diese Art sind Sie doch einigermaßen erleichtert.« Ich dankte Sr. Exzellenz für diese Gnade in den rührendsten Ausdrücken und befand mich so wohl dabei, daß ich in manchem Monate mehr verdiente und einnahm, als meine Gage betrug. Daher verwendete ich meinen Nebenverdienst auf prächtige Kleidung, welches dem Grafen so wohl gefiel, daß er mein gnädiger Patron wurde und mich öfters zu seiner Tafel lud. Dafür verdoppelte ich aber auch meinen Eifer, und ich hatte bald das Glück, den ungeteiltesten Beifall des Wiener Publikums zu erhalten.

Schon waren beinahe fünf Vierteljahre verflossen, als mir eines Tages Gluck erzählte, daß er nach Bologna verschrieben sei, um dort eine Oper zu komponieren, und fragte mich zugleich, ob ich Lust hätte, mit ihm nach Italien zu reisen; jedoch, verstünde sich, müßte ich die Hälfte der Reisekosten tragen so wie auch meine Diäten aus meinen eigenen Mitteln bestreiten; die Erlaubnis dazu wollte er mir schon beim Grafen Durazzo bewirken. – »O unendlich gern!« antwortete ich im höchsten Enthusiasmus, den ein Mann wie Gluck, der meine Liebe zur Kunst sowie meine ganzen Umstände kannte, über alles hätte achten sollen; »aber –«, setzte ich traurig hinzu, »es fehlt mir dazu an Gelde.« – »Ja«, antwortete[108] Gluck kalt und weggewandt, »dann kann freilich nichts daraus werden.« –

An eben demselben Abende soupierte ich bei dem damaligen Hofagenten, dem Herrn von Preiß, und erzählte ihm die Proposition, die mir Gluck gemacht hatte. »Ei tausend Sapperment!« sagte Herr von Preiß, »schlagen Sie ein und nehmen Sie Gluck beim Worte!« – »Ja«, erwiderte ich mit Achselzucken, »wo aber Geld hernehmen? Gluck will mich wohl mitreisen lassen, aber ich soll die Hälfte der Kosten tragen.« – »Pah!« antwortete der Biedermann – gesegnet sei seine Asche! – »dazu will ich schon Rat schaffen. Ich strecke Ihnen hundert Dukaten vor, die Sie mir eher nicht wiedergeben sollen, als bis Sie in bessere Umstände kommen. Speisen Sie morgen bei mir. Ich werde Herrn von Allstern einladen und ihn bei einem guten Glase Grännzinger (dem besten östreichischen Wein) dahin zu bringen suchen, daß er Ihnen ebenfalls so viel vorschieße. Überdem gebe ich Ihnen auf den Notfall einen offenen Wechsel auf 600 Gulden mit, mithin haben Sie gegen 1500 Gulden. Mit diesen können Sie schon gut fertig werden. Gedrängt sollen Sie deshalb von keinem von uns werden. Gehen Sie gleich morgen zu Gluck, machen Sie alles richtig, und dann kommen Sie mittags zum Essen.«

Mit Freudentränen dankte ich dem edlen Mann und ging des andern Tages zeitig zu Gluck. Er war außerordentlich erfreut darüber, befahl anzuspannen, und wir fuhren zum Grafen Durazzo. Dieser erteilte mir nicht nur die Erlaubnis und schenkte mir zu meiner Reise 50 Dukaten, sondern versprach mir auch einen sechsmonatlichen Vorschuß aus der Theaterkasse, und somit wurde unsere Abreise in vierzehn Tagen angesetzt.[109]

Mit einem Herzen voll Wonne eilte ich zum Mittagsmahl beim Herrn von Preiß, wo alles so eintraf, wie er mir den Tag zuvor versprochen hatte. Kurz darauf lud mich Graf Durazzo mit Gluck zu Tische, stellte mir darauf die Anweisung auf 225 Fl. aus der Theaterkasse mit dem Beifügen zu, daß die Kaiserin mir damit ein Geschenk zu meiner Reise mache und meine Gage auch während meiner Abwesenheit immer fortlaufen solle. »Wenn Sie«, fuhr er fort, »mit Ihrem Gelde nicht ausreichen sollten, so wird Ihnen Herr Kapellmeister Gluck hier gegen Anweisung auf Ihr Gehalt sehr gern einen Vorschuß tun.« – »Ich werde keinen brauchen«, versetzte ich etwas schnell und trocken; »denn ein paar gute Freunde haben für den Fall schon von selber gesorgt.« – »Tanto meglio!« sagte der Graf.

Unsere Reise verzögerte sich um einige Tage einer Signora Marini wegen, die als prima donna zwei Jahre hindurch in Prag auf dem Theater gewesen war und nun mit ihrer Mutter nach ihrer Vaterstadt Venedig zurück wollte. Gluck hatte sie schon vor drei Jahren in Italien gekannt und war so artig, um ihretwillen die Reise noch fünf Tage aufzuschieben, jedoch mit dem Beding, daß sie sich alsdann gefallen lassen müßte, Tag und Nacht zu reisen. Sie war dazu bereit, und wir fuhren in zween Wagen mit Postpferden von Wien ab.

Ich hatte den Auftrag von Gluck, alle Ausgaben der Reise zu bestreiten und Rechnung darüber zu führen. Auch Signora Marini ersuchte mich um diesen Dienst und gab mir eine wohlgespickte Goldbörse mit dem Bedeuten, daß sie sie, wen sie leer wäre, wieder füllen würde.

Sie war ein sehr schönes, interessantes Mädchen von[110] ungefähr vierundzwanzig Jahren, munter, launig und sehr unterhaltend; übrigens aber von sehr edlem, anständigen Betragen. Gleich beim ersten Mittagsmahl in Neustadt bat sie sich aus, daß wir Chapeaux, um unsers beiderseitigen Umgangs zu genießen, bei jeder Station bis Venedig wechseln und bald Gluck, bald ich in ihrem Wagen fahren möchten. Ihre Mutter, eine muntere lustige Frau von etwa funfzig Jahren, ausgelassen wie ihre Tochter, fuhr beständig in unserm Wagen, bald in meiner, bald in Glucks Gesellschaft, und die Zeit passierte uns allen sehr angenehm. Gluck war galant und suchte sich angenehm zu machen; ich suchte ihm aber alles wieder zu verderben, sobald ich ihm den Platz abgewonnen hatte, und diese kleine Eifersucht half uns die Reise um so pikanter zu machen. Das Mädchen war souveräne Gebieterin und Amor der Kapellmeister. Er gab Ton und Stimmung an. Glucks heiligster Vorsatz, Tag und Nacht zu reisen, ward früh unterminiert, und wir fanden es unter so günstigen Umständen doch gemütlicher, in Grätz, Laibach und Görz ein bequemeres und einträglicheres Nachtlager zu halten als diskursive immer weiter vorwärts zu rücken, was uns nicht viel mehr als – Meilen einbrachte.

Am siebenten Abend unserer Reise kamen wir in Mestri an. Wir hatten uns zwar vorgenommen, daselbst zu übernachten und am andern Morgen in einerpeota (einem größern zweirudrigen Schiffe, worauf sechs bis zehn Personen mit Bagage Raum haben) nach Venedig zu fahren. Aber die Marini war hartherzig genug, nun sie so nahe an Venedig war, von woher vielleicht süße Erinnerungen der vorigen Zeit auf sie eindrangen, uns noch für den Abend zur Überfahrt zu bewegen, und also[111] kamen wir vor Mitternacht in Venedig an. Es war gerade in der Nacht zwischen dem Palmsonntage und dem Montage der Karwoche.

Gluck beschloß, acht Tage hier zu bleiben. Wie bedauerten wir, daß unser Aufenthalt in Venedig gerade in die Karwoche traf, in welcher kein Theater offen war und wir daher außer einem Oratorium agli Incurabili nichts von Musik hörten. Es taugt niemals, wenn man von einer Sache vorher zuviel eingenommen ist. Nicht nur in Wien hatte ich vorlängst gehört, sondern auch unterweges erzählte mir Sign. Marini, daß agli Incurabili und alla Pietà ein Orchester von Frauenzimmern wäre, das sowohl in Absicht der Singstimme als der Exekution alle Orchester in Italien überträfe. Kaum konnte ich den Tag erwarten. Aber wie fand ich mich betrogen! Die Komposition dieses Oratoriums war sehr mittelmäßig; die Violinen waren durch das ganze Stück verstimmt, und wenn eine Aria aus dem B fa oder E la fa kam, griffen die Violinstimmen um einen Achtel-, auch wohl Viertelton zu hoch. Mit den Tempos ging es auch nicht richtig; denn bald schwankten sie, bald schleppten, bald eilten sie. Außer zwei Singstimmen, deren eine ein reiner Sopran und die andere ein runder Contr'Alt war, hörte ich nichts, was nur der mindesten Aufmerksamkeit wert gewesen wäre.

Zur Schadloshaltung für diese Musik sahe ich zwei Feierlichkeiten, die meine ganze Bewunderung erregten. Die eine war die Feier des Abends am Grünen Donnerstage, wo unser Heiland in Prozession zu Grabe getragen wurde. Die andere die Beisetzung des damaligen Dogen, der zwei Tage vor unserer Ankunft gestorben war. Beidemal war der große Markusplatz illuminiert, das heißt,[112] vor jedem Fenster der Paläste, die auf diesem Platze stehen, brannten zwei armdicke und eine Klafter lange Fackeln, welches den herrlichsten Anblick gab. Beidemal gingen feierliche Prozessionen um diesen festen und prächtigen Platz; es war schwer zu bestimmen, ob das Begräbnis Christi oder jenes des Doge mit größerer Feierlichkeit begangen wurde.

In der Nacht zwischen dem Karsamstage und dem ersten Osterfeiertage reisten wir nach Bologna. Der andere Pfingsttag war zur Eröffnung des neuen, prächtigen, von lauter Quaderstücken erbauten Opernhauses, das an die Stelle des ein Jahr vorher von Grund aus abgebrannten, auf Subskription der Vornehmsten und Reichsten vom Adel errichtet worden war, bestimmt. Der Direktor desselben, Graf Bevilaqua, ein Associé der Gesellschaft, hatte zur Einweihung die Metastasische Oper: Il trionfo di Clelia angeordnet und Gluck zur Bearbeitung dieses Stücks verschrieben. Primo uomo war der berühmte Kastrat Mansoli, prima donna Signora Girelli Aquilar (welcher letztere Beiname der Name ihres Mannes, eines berühmten Hoboisten und gebornen Spaniers war, der dem weltbekannten Besozzi nichts nachgab). Secondo uomo war ein junger Kastrat Toschi, der zwei Jahre darauf nach Wien berufen wurde. Seconda donna war ein junges hübsches Mädchen von siebenzehn Jahren; sie hatte eine reine und angenehme Stimme, aber war noch Anfängerin. Ihr Name ist mir entfallen. Primo tenore war der berühmte Giuseppe Tibaldi, den Gluck hernach nach Wien verschrieb und der sich hier sehr zu seinem Ruhme auszeichnete. Zur Direktion der ersten Violine wurde der damals in gutem Ruf stehende Konzertspieler Luchini aus Mailand, und zur zweiten[113] der ebenfalls sehr renommierte Spagnoletti aus Cremona verschrieben.

Das Orchester bestand aus etlichen siebenzig Personen. Da in Italien bei so großen Orchestern zwei Flügel üblich sind, so wurde zum zweiten der bekannte Kapellmeister Mazzoni bestimmt. Er war in Bologna ansässig und zugleich in einigen der angesehensten Kirchen, Klöster und Prälaturen besoldeter Kapellmeister.

Der Graf Bevilaqua, ein sehr liebenswürdiger Kavalier, nahm uns sehr gütig auf. Gluck stellte mich ihm als seinen Scholaren vor; denn wir hatten verabredet, daß ich mich nirgends eher als Konzertspieler angeben sollte, bis wir nicht erst die vornehmsten Violinisten gehört hätten.

Gluck bezeigte dem Grafen sein Verlangen, die Sänger von der Oper zu hören, und sogleich besorgte er ein Konzert von dreißig der besten Subjekte in seinem Hause für den folgenden Nachmittag, wo außer uns dreien sonst kein Zuhörer war. Ich war außerordentlich entzückt über die Girelli, über Mansoli und Tibaldi, vorzüglich aber gefiel mir eine Arie, bei welcher Aquilar mit der Hoboe seiner Frau akkompagnierte. Auch hörte ich Luchini und Spagnoletti jeden ein Violinkonzert spielen. »Nun«, sagte Gluck heimlich zu mir, »vor diesen zween Hexenmeistern brauchen Sie sich eben nicht zu fürchten.« Ich dachte das wohl eben auch, aber ich erwiderte: »Ich dächte, sie spielen beide sehr gut, nur hat jeder eine andere Methode.«

Nun fing Gluck an zu komponieren. Da er aber in Wien schon viel vorgearbeitet hatte, so gab er nach zehn Tagen den ersten Akt zum Abschreiben.

Des Nachmittags arbeitete Gluck niemals, sondern bloß[114] am Abend und am Vormittage. Nach Tische gingen wir Besuche zu machen, sodann auf das Kaffeehaus, wo wir gewöhnlich bis zum Abendessen blieben.

Eine unserer ersten Visiten machten wir dem großen Farinelli, von dem meine Leser schon wissen, daß er sich nach dem Tode seines großen Wohltäters, des Königs von Spanien, hierher begab. Er war damals schon ein Greis von beinahe achtzig Jahren. Er lud uns einige Male zu Gaste und bewirtete uns königlich. Allein es war kein Wunder, denn er war gegen eine Million reich. Ich erinnerte ihn an Mad. Tesi, erzählte ihm, wie ich jahrelang mit ihr in einem Hause gelebt usw., und das brachte mir bei ihm Vorteil.

Auch besuchten wir den weltbekannten klassischen musikalischen Diktator, den Padre Martino. Er war fast ebenso alt als Farinelli, und beide waren innige Busenfreunde. Gluck kannte ihn schon viele Jahre und reiste nie durch Bologna, ohne diesem padre di tutti i maestri (wie ihn noch heute alle Kapellmeister nennen) seine Ehrfurcht zu bezeigen.

Zufälligerweise erfuhr der Kapellmeister Mazzoni, daß ich ein Violinspieler sei, und nachdem er mich gehört, ersuchte er mich, bei dem großen Kirchenfeste, das bei San Paolo gehalten werden würde und wozu er sowohl die beiden Vespern als das Hochamt neu komponiert habe, früh beim Hochamte mich mit einem Konzerte hören zu lassen. Ich willigte ein.

Am Nachmittage vor dem großen Festtage ging ich mit Gluck in diese Kirche, um Mazzonis erste Vesper zu hören. Die Musik bestand mit Chören und Instrumenten aus mehr als hundert Personen. Die Komposition war schön und prachtvoll, nur schien sie mir für die[115] Kirche ein wenig zu munter und profan; denn sie glich – die musterhaften Fugen ausgenommen – mehr einer opera seria als einer Kirchenmusik. Zwischen den Psalmen spielte Spagnoletti ein Konzert von Tartini, das ich vor einigen Jahren einstudiert hatte. Die ganze Kirche war voll von Kennern und Musikliebhabern, und man sah aus den Mienen aller Zuhörer, daß der Violinist allgemeinen Beifall fand. Gluck sagte zu mir: »Nun können Sie auf den Beifall Ihrer Zuhörer morgen sichere Rechnung machen, da sowohl Ihre Komposition als Ihr Vortrag viel moderner ist.«

Schon war es ruchbar, daß am folgenden Tage beim Hochamte ein deutscher Virtuos sich auf der Violine hören lassen würde. Als wir aus der Kirche kamen, hörten wir, daß zwei Herren zueinander sagten: »Doman' mattina sentiremo un virtuoso tedesco«, worauf der andere erwiderte: »Temo, che si farà canzenar, dopo che abbiamo sentito quel bravo Spagnoletti.« (Ich fürchte, er wird sich auslachen lassen, nachdem wir den braven Spagnoletti gehört haben.) – Aber als ich den Tag darauf ein Konzert von meiner Komposition spielte, ward ich doch nicht ausgelacht, wie jener Herr prophezeit hatte. Gluck, Herr Bevilaqua und Sign. Mansoli gratulierten mir zu dem allgemeinen Beifalle, den ich von allen Zuhörern eingeerntet hätte. Gluck erzählte mir, daß er sich geflissentlich an die gestrigen beiden Kritiker herangedrängt habe, um ihr Urteil zu hören, und da habe denn der eine von ihnen ausgerufen: »Per Dio! quel ragazzo suona come un angelo« (Bei Gott! der junge Mensch spielt wie ein Engel), und der andere hinzugesetzt: »Come è mai possibile, che una tartaruga tedesca possa arrivare a tale perfezione?« (Wie ists möglich, daß eine[116] deutsche Schildkröte zu einer solchen Vollkommenheit gelangen kann?) Worauf er denn sich die Freiheit genommen, zu dem zweiten zu sagen: »Signor, con permissione! Anch' io sono una tartaruga tedesca, ma con tutto questo ho l'honore di scriver l'opera nuova per l'apertura del teatro ristabilito.« (Mit Erlaubnis, mein Herr: Auch ich bin eine deutsche Schildkröte, aber bei alledem habe ich die Ehre, die neue Oper bei Eröffnung des wieder aufgebaueten Theaters zu schreiben.) Der eine habe darauf depreziert und versichert, daß er von nun an von dem Vorurteile, das man ihm von der deutschen Nation beigebracht habe, gänzlich geheilt sei.

Kaum hatte Gluck seine Erzählung geendigt, so kam der Pater Prior des Klosters mit noch zwei Ordensgeistlichen und dankte mir für meine Mühe; da er aber, sagte er, aus seinem stalo (Beichtstuhl) in der Kirche bemerkt hätte, welchen Beifall ich bei den Zuhörern erworben habe, so wage er die Bitte, daß ich heute nachmittag bei der Vesper noch ein Konzert spielen möchte. Ich schlug es ihm aber rund ab. Mein guter Prior ließ demungeachtet nicht nach. Doch da Graf Bevilaqua versicherte, dies sei eine Distinktion, die, solange Bologna stehe, noch keinem Virtuosen zu Teil geworden sei, und daß es in der Stadt eine allgemeine Sensation machen würde, so willigte ich ein.

Am Abend war die Kirche gedrängt voller Menschen, und eine Menge hatte wieder fortgehen müssen, die keinen Platz mehr finden konnte. Ich spielte – aber hatte ich vormittags gut gespielt, so gelang es mir jetzt noch einmal so gut.

Nach der Vesper wurden wir im Kloster bewirtet, wobei Gluck, ich, Mazzoni und die beiden Kastraten Potenza[117] und Nicolini, die am heutigen Tage gesungen hatten, zugegen waren. Es war wirklich ein sardanapalisches Souper, denn alles, was nur Italien Leckerhaftes um diese Zeit hervorbrachte, ward zum besten gegeben. Wir schwelgten da bis gegen Mitternacht und gingen recht echt musice nach Hause.

Von diesem Nicolini muß ich doch ein Geschichtchen erzählen, wovon ich Augen- und Ohrenzeuge war. Er war nach dem Schlage vieler junger Kastraten lebhaft, keck, munter, plauderhaft und arrogant. Seiner Gewohnheit nach hatte er die Augen mehr in der Luft als auf der Erde. Wir kamen um eine Ecke, um in eine andere Straße einzubiegen, in der ein blinder Bettler auf der Erde saß. Nicolini, der ihn nicht gewahr wurde, stolperte über seine Füße, so daß er bald gefallen wäre. Voller Ingrimm schrie er mit seiner sonoren Kastratenstimme: »Eh! cane d'un orbo maledetto!« (Du verfluchter blinder Hund!) Der Bettler, der ihn wegen seiner Diskantstimme für eine Weibsperson hielt, blieb ihm nichts schuldig: »Eh! Putana di strada!« schrie er ihm nach, »perchè strapazzi un povero orbo mendicante?« (I du Straßenhure! Warum schimpfst du einen armen blinden Bettler?) Wir alle brachen in ein helles Gelächter aus, besorgten aber doch Mißhandlungen für den armen Teufel von Seiten Nicolinis. Allein der griff in die Tasche, nahm zwei Lire (acht Groschen) und drückte sie dem Bettler mit den Worten in die Hand: »Nun, Alter, da du es doch einmal erraten hast, wer ich bin, so schenk ich dir zwei Lire zum Almosen.« Der Blinde, als er würklich diese Münzen in der Hand fühlte, raffte sich dankbar zusammen, schloß die Hände mit seiner Krücke bittend ineinander und sagte: »Gott vergelte[118] es und verleihe Euch dafür die Gnade, daß Ihr Euch gleich der heiligen Magdalene bekehren, Euer schändliches Leben verlassen und Buße tun möget!« – Hatten wir nicht gelacht, so mußten wir noch zehnmal mehr lachen. Es war eine der komischsten Szenen meines Lebens.

Das Geschichtchen verbreitete sich bald in ganz Bologna, und von Stund an nannte man den Nicolinila Santa Maddalena.

Es ist in Italien bei den Klöstern Sitte, daß, wenn jemand von einem Kloster ein Präsent erhält, ihm solches öffentlich mit einem eigens hierzu bestimmten Apparat in seine Wohnung getragen wird. Es pflegt gewöhnlich ein Mann in schwarzer spanischer Tracht mit einer großen Perücke voranzugehen, dann folgen zwei Kirchendiener in Chorröcken, die das Präsent auf einem ungeheuren silbernen Präsentierteller mit zwei Henkeln und mit einem Stück Damast zugedeckt tragen; hinter ihnen kommen zwei andere Laienbrüder in ihrem Mönchshabit, worüber sie weiße Rockette anhaben. Wenn auch gleich die Wohnung desjenigen, der das Geschenk erhält, nahe bei dem Kloster ist, so geht doch – man sehe die Eitelkeit der Mönche! – diese Karawane mit manchen Umwegen durch die Hauptplätze und Straßen der Stadt; und obschon jeder Einwohner ohnehin weiß, daß jemand ein Präsent bekommt, so hat doch der voraufgehende Mann den Befehl, jeden Wißbegierigen aufzuklären, woher, wohin und warum dieses Präsent komme.

Am andern Morgen kam mein Wirt und meldete mir, daß eine Deputation von San Paolo da sei und vorgelassen werden wolle; ich würde, sagte er, ein Präsent bekommen, wofür ich dem Überbringer einenscudo[119] (harten Taler) zum Trinkgeld (bona man) geben müsse. Ich ließ die Leute eintreten. Der Deputierte hielt eine Anrede an mich, die über eine Viertelstunde dauerte und immer weiter nichts enthielt als Danksagungen von Seiten des Priors und des ganzen Konvents, und wie sehr sie mich bitten ließen, in Betracht ihrer überaus großen Armut (die ich denn doch bei dem gestrigen sardanapalischen Souper nicht wahrnahm) mit diesem kleinen Geschenke vorlieb zu nehmen. Es bestand aus mehr als zwanzig Pfund der herrlichsten kandierten Früchte und des allerbesten Zuckerwerks. Dabei lagen sechs Paar weißseidene und sechs Paar schwarzseidene Neapolitaner Strümpfe, sechs doppelseidene Mailänder Schnupftücher und zwölf größere und kleinere Reliquien, welche alle in silbernen fil di grano gefaßt waren. Ich ließ dem Prior und dem ganzen Konvent meinen Dank vermelden, gab dem Demosthenes mit der Perücke seinen scudo, und mit tiefen Bücklingen und Kratzfüßen entfernten sie sich.

An ebendemselben Nachmittage, als wir gerade nach dem Kaffeehause gehen wollten, kam der ehrwürdige Greis Padre Martino zu uns, um seine Gegenvisite zu machen. Bei dieser Gelegenheit ersuchte er mich, ich möchte bei der bevorstehenden großen Feierlichkeit in seiner Kirche ein Konzert spielen; doch verlange er es nicht umsonst und hoffe, daß ich mit der gewöhnlichen Taxe von 12 Doppien (Doppeldukaten) zufrieden sein würde. Ich antwortete, daß ich nur unter der ausdrücklichen Bedingung, keine Bezahlung annehmen zu dürfen, spielen würde und daß ich die Ehre, von dem Vater der Musik dieses Vorzugs würdig geachtet zu sein, weit höher als alles Gold schätze. Der gute Greis[120] dankte mir für meine, wie er sie nannte, schöne Denkungsart, und nachdem er sich noch eine halbe Stunde bei uns aufgehalten hatte, ging er so, wie er kam, von einem Laienbruder am Arm geführt und auf eine Krücke gestützt, fort.

Bald wurde es in Bologna ruchbar, daß ich vom Padre Martino zu dem ersten Festtag der überaus großen Feierlichkeit per la visità della Madonna di San Luca geladen sei; man wußte sogar, daß ich die mir angebotene Bezahlung ausgeschlagen und bloß zur Ehre Gottes zu spielen versprochen habe.

Der Tag kam heran, an welchem die erste Feierlichkeit des Umgangs des wundertätigen Madonnenbildes, das der Evangelist Lukas gemalt haben sollte, und welche drei Tage dauerte, begann. Wir gingen zur Vesper in die Kirche. Die Komposition war vom Padre Martino. Ach! welch ein Abstich war zwischen dieser Musik und der von Mazzoni!! – So einen majestätischen, erhabenen und rührenden Kirchenstil habe ich nie gehört. Selbst Caldaras Komposition mußte dieser Arbeit weit nachstehen. In einem Psalm – mich dünkt, es war ein Magnificat – war das Amen eine achtstimmige Fuge. Ach Gott! welch ein künstliches Gewebe! – Man stelle sich die Wirkung vor, welche diese herrliche Fuge machen mußte, da das Orchester aus 160 Personen bestand, unter welchen achtzig Vokalstimmen waren!

Am folgenden Morgen ging ich mit Gluck zu diesem verehrungswürdigen Greise, der uns auf eine Chocolade gebeten hatte. Wir äußerten unser Erstaunen über das herrliche Werk, die Vesper nämlich, die wir gehört hatten. »Vermutlich«, sagte er, »werden die gestrige Vesper und das heutige Hochamt mein Schwanengesang[121] sein; denn ich fühle bereits die merkliche Abnahme meiner Leibes- und Seelenkräfte.« Wir bedauerten, daß wir wohl niemals wieder Gelegenheit haben würden, die achtstimmige Fuge zu hören. »Ei«, versetzte der liebenswürdige Greis, »ich werde diese Fuge statt dem Amen im Credo, das aus eben dem Tone ist, einlegen, und so weit ist Ihr Wunsch befriedigt.«

Bei dem Graduale spielte ich mein Konzert mit aller möglichen Anstrengung, und es glückte mir vollkommen, weil ich mich acht Tage darauf präpariert hatte. Bald nach meinem Konzert verfügte ich mich mit Gluck nach der Kirche, um das Credo und das Amen in der Entfernung zu hören. Welche neue Schönheiten entdeckten wir heute bei der achtstimmigen Fuge, die uns gestern entschlüpft waren! Wonnetrunken gingen wir nach Hause und setzten uns zu Tische. Bald nach der Mahlzeit kam unser Wirt, brachte einen ziemlichen Pack in Papier versiegelt und sagte: »Padre Martini schickt Ihnen beiden einige Pfund Chocolade.« Auf dem Paket war von seiner eigenen zitternden Hand geschrieben: 12 libre per il mio caro amico, il Cavagliere Gluck, e 12 libre per il mio caro figliuolo, il Signor Carlo Ditters.

Am folgenden Morgen trat unser Wirt in mein Zimmer mit der Nachricht, unten sei ein Kerl, der mich zu sprechen verlange, er sei aber so zerlumpt und sehe so verdächtig aus, daß er Bedenken getragen habe, ihn vorzulassen. Er verlange aber durchaus, mich selber zu sprechen. »Ich rate Ihnen nicht«, setzte er hinzu, »daß Sie allein bleiben; man darf nicht jedermann trauen. Ich will daher meine zwei handfesten Hausknechte mit mir heraufnehmen, dann mag er immer kommen. Unterdessen riegeln Sie gleich hinter mir die Tür ab und machen[122] Sie nicht eher auf, als bis Sie meine Stimme hören.« – Der Wirt ging; ich schloß ab und bat Gluck, auf mein Zimmer zu kommen. Zu mehrerer Sicherheit nahm ich meine beiden Sackpistolen. Eine hielt ich unter meinem Schlafrock versteckt, die andere verbarg Gluck unter seinem Kleide.

In einer Weile hörte ich klopfen, und der Wirt meldete sich mit den Worten: »E permesso?« Ich schob den Riegel auf und trat mit Gluck hinter einen Tisch, der mitten im Zimmer stand. Der Wirt kam mit den Hausknechten, die an der Tür stehen blieben, zuerst herein und hinter ihnen der zerlumpte Kerl, der mich fragte, ob ich der junge deutsche Virtuose wäre, der gestern bei den Minoriten gespielt hätte? – »Ja!« antwortete ich; »e poi?« (und was weiter?), und währenddem zog ich die Pistole gleichsam spielend unter dem Schlafrock hervor, Gluck tat ein Gleiches. Der Kerl lächelte, sahe sich nach den beiden Hausknechten um und sagte mit komischem Lächeln: »Die Vorsicht hätten Sie nun eben nicht nötig; ob ich gleich schlecht angezogen bin, so bin ich doch ein galant'uomo.« – »Aber so sagt, was Ihr wollt«, redete der Wirt ihn an. Ohne ein Wort zu antworten, griff er in die Tasche, zog ein Billet samt einem kleinen Schächtelchen hervor und legte beides auf den Tisch. – »Was soll das?« fragte ich. – »Ich weiß nicht; belieben Sie nur das Billet zu lesen.« – Ich las, und mit geflissentlich verstellten Zügen stand folgendes in italienischer Sprache darin: »Nehmen Sie beiligendes Schächtelchen als einen Beweis des Vergnügens, das mir Ihr gestriges Konzert in der Minoritenkirche verursacht hat, und belieben Sie beiliegenden Empfangsschein zu unterschreiben.«[123]

Ich ließ das Schächtelchen von dem Überbringer öffnen, und es war eine schöne goldene Uhr darin. Ich unterschrieb den Schein; er nahm ihn. Aber denscudo, den ich ihm geben wollte, schob er zurück und entfernte sich, ohne mir weder auf Bitten noch Drohen sagen zu wollen, von wem das Geschenk käme. »Ich habe mein Wort gegeben, es nicht zu verraten«, sagte er; »son galant' uomo, e tanto basta.« Und so ging er.

Wir sannen nach, von wem wohl das Geschenk kommen möchte, und wir mutmaßten endlich, daß es von den Patern Minoriten sein könnte.

Am folgenden Tage waren wir bei Farinelli zu Mittag gebeten, und wir trafen eine ansehnliche Gesellschaft dort an. Wie erstaunte ich, als ich bei dem Essen in seinem Kammerdiener dieselben Gesichtszüge des gestrigen Kerls zu erkennen glaubte. Nach dem Essen richtete ich einige unbedeutende Fragen an ihn, und sein Ton der Stimme war ebenfalls der nämliche, und also wußte ich, woran ich war. Alles Ableugnen von Seiten Farinellis half nichts, er mußte es eingestehen; aber mit vieler Feinheit wußte er mich alles Dankes dafür zu überheben, und es durfte davon keine Rede mehr sein. –

Endlich kam es zur Aufführung der Gluckischen Oper. Sie gefiel ungemein, ungeachtet sie lange nicht nach der Idee des Komponisten ausgeführt wurde. Soviel man des Rühmens von den italienischen Orchestern überhaupt macht, so unzufrieden war Gluck damit. Siebenzehn große Proben wurden gehalten, und demungeachtet fehlte bei der Produktion das Ensemble und die Präzision, die wir bei dem Wiener Orchester von jeher zu hören gewohnt waren.

Nach der dritten recita wollten wir nach Venedig zurückkehren,[124] um all' Ascensione (zur Himmelfahrt), bei welcher Feierlichkeit immer vier oder fünf Theater zu gleicher Zeit in Venedig offen sind, die neuen Opern daselbst zu hören und dann nach Mailand, Florenz und überhaupt nach andern großen Städten Italiens zu reisen. Allein wir erhielten Briefe vom Grafen Durazzo, der uns nach Wien zurückberief, weil gegen Anfang des Herbstes die römische Königskrönung des nachherigen Kaisers Joseph II. zu Frankfurt am Main vor sich gehen sollte. Wir mußten daher unser Vorhaben aufgeben. Unterdes machten wir noch einen kleinen Abstecher nach Parma, woselbst wir die Oper: Catone in Utica von Bachs Komposition (dem nämlichen, der nachher mit dem Namen des Londner Bachs in Deutschland benannt wurde) hörten. Etliche Arien waren sehr schön, die übrige Musik aber war, nach italienischer Sitte, nur so hingeworfen. In Parma beschlossen wir, einen andern Weg nach Wien zu nehmen. Wir gingen daher über Mantua, Klagenfurt, Trient etc. nach Wien zurück. Kaum waren wir angekommen, so ward die Krönung bis auf künftiges Jahr verschoben, und ich hatte die Reue, Italien ganz unnötigerweise so frühe verlassen zu haben.


Während ich in Italien war, kam der große Violinist Lolli nach Wien, wo er sich einige Monate aufhielt und viel Geld erwarb. Mein älterer Bruder konnte mir, gleich am Abend meiner Rückkunft, nicht genug von der Sensation sagen, die sein Spiel überall gemacht hatte. Auf meine Frage, in welcher Manier er spiele, gab er mir eine Sonate von ihm, der er habhaft geworden war, und versicherte mich, aus dieser könne ich mich ganz in seiner Spielart orientieren; denn was sie enthalte, komme[125] mit einiger Veränderung in allen seinen Stücken vor. Ich sah sie durch, und die ganz eigentümlichen Passagen machten mir das vollkommen begreiflich. – »Wie ist sein Adagio?« fragte ich. »Nicht sonderlich!« versetzte mein Bruder, »und überdies lebt und webt es darin von allerhand krausen Bockssprüngen. Indes bedauern deine Freunde dich sehr, weil die meisten Wiener sagen: Nun ist unser armer Ditters abgestochen. Allein ich weiß gewiß, wenn du acht Tage darauf studierst, machst du alle Passagen nach.« – »Behüte Gott!« sagte ich. »Ich muß gerade das Gegenteil tun und durch solides Spielen und Ausdruck im Adagio abzustechen suchen.«

Am folgenden Morgen ging ich mit Gluck zum Grafen Durazzo, um unsere Zurückkunft zu melden. Ich bat den Grafen, mich einen Monat lang mit Konzertspielen zu verschonen, weil ich während meiner Abwesenheit von Wien einige neue Konzerte entworfen hätte, die ich aber erst ausfeilen und gut einstudieren müßte, um alsdann mit neuen Gedanken auftreten zu können. »Brav, mein Sohn!« sagte der Graf; »ich gebe Ihnen sechs Wochen Zeit, denn Sie werden einen schweren Stand haben. Lolli hat erstaunende Sensation gemacht; aber ich verlasse mich doch auf Sie.«

Ich sperrte mich ein, schützte Krankheit vor und studierte vom Morgen bis zum Abend. Ehe noch vier Wochen verstrichen waren, meldete ich mich beim Grafen und sagte, ich sei nun vollkommen bereit aufzutreten. Er bestimmte hierzu den nächstfolgenden Akademietag im Theater.

Ich spielte mein neues Konzert, dessen erstes Allegro keine sehr großen Schwierigkeiten enthielt. Im darauf folgenden Adagio befliß ich mich, dasselbe in der Singart[126] des im Adagio und hauptsächlich im rubbamento di tempo vortrefflichen Kastraten Potenza, den ich öfter in Bologna gehört hatte, vorzutragen. Um aber den Zuhörern doch auch zugleich zu zeigen, daß ich im Stande sei, Schwierigkeiten zu exekutieren, hatte ich das Finale mit sehr schwer scheinenden, aber doch gut in der Hand liegenden Passagen hinlänglich gepfeffert. Dies überraschte das Publikum so sehr, daß keine Hand war, die nicht Beifall klatschte; und mit einer Stimme schrie alles überlaut: »Finale da capo! Finale da capo!« – Durch diesen Beifall aufgemuntert, wiederholte ich das Finale in einem noch rascheren Tempo, spielte es mit der größten Fertigkeit, und bei der letzten Kadenz fiel ich in ein Capriccio, ging durch Arpeggios in verschiedene Töne, aus denen ich mich wieder herauswand, und schloß mit einem Doppeltriller, den man von mir noch nie gehört hatte. Kurz, ich hatte das Glück, den Lolli aus dem Sattel zu werfen, und in Wien erscholl der allgemeine Ruf: Lolli erregt Erstaunen, Ditters erregt es auch, spielt aber zugleich fürs Herz.

Den Rest des Sommers und den folgenden Winter brachte ich, außer meinen Dienstgeschäften, in öftermaliger Gesellschaft des liebenswürdigen Joseph Haydn zu. Welcher Freund der Musik kennt wohl nicht den Namen und die schönen Arbeiten dieses ausgezeichneten Komponisten? – Über jedes neue Stück, das wir von andern Tonsetzern hörten, machten wir unsere Bemerkungen unter vier Augen, ließen jedem, was gut war, Gerechtigkeit widerfahren und tadelten, was zu tadeln war.

Ich rate jedem angehenden Tonsetzer, mit einem seiner Kollegen ohne Neid und Mißgunst eine genaue Verbindung zu stiften und das zu tun, was ich und Haydn mit[127] unserm Nachforschungsgeist taten; ich stehe ihnen dafür, daß nichts mehr im Stande sein wird, ihn zu bilden, als dergleichen freundschaftliche Bemerkungen, wenn anders alle Vorurteile dabei beseitigt sind. Er wird davon nicht nur den Nutzen haben, sich mancher Schönheit mit sicherer Wirkung bedienen zu können, sondern wird auch lernen, jene Klippen, an welchen dieser und jener Komponist gescheitert ist, sorgfältig zu vermeiden. Es ist übrigens gar nichts Neues, was ich da sage; denn es ist weltbekannt, daß Kritik – echte, unparteiische Kritik wahrer Kenner – von jeher allen schönen Künsten und Wissenschaften den ergiebigsten Nutzen gebracht hat und immerfort verschaffen wird.

Quelle:
Dittersdorf, Karl Ditters von: Karl Ditters von Dittersdorf Lebensbeschreibung, Seinem Sohne in die Feder diktiert. München 1967, S. 105-128.
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