c) Die »teutsche Oper«

[503] Von den dramatischen Gattungen, die Mozart gepflegt hat, war die nationale, das Singspiel oder die deutsche Operette, die jüngste. Die Opera seria sah zurück auf mindestens hundertsiebzig Jahre ihrer Entwicklung und die Opera buffa wenigstens auf fünfzig oder sechzig, als das Singspiel noch in den Kinderschuhen steckte. Und seine Ursprünge sind nichts weniger als national. Es geht zurück auf die französische Opera comique – deren Repertoire: kleine, mehr oder minder unschuldige, mehr oder minder schäferliche Komödien mit eingestreuten Musikstücken ja schon seit 1752 in Wien Eingang gefunden hatte. Diese Opéra comique hatte ungefähr am Anfang des Jahrhunderts als Parodie der Großen Oper begonnen, ohne aber in Paris je die satirische und sozialkritische Großartigkeit der Londoner Beggars Opera zu erreichen; später suchte sie mit der italienischen Buffooper zu rivalisieren, indem sie der Musik einen wachsenden Raum gönnte. Der Unterschied blieb immer der, daß die italienischen Buffonisten Sänger waren, die auch agierten, indes die Darsteller der Opera comique Schauspieler waren, die auch ein bißchen singen konnten.In Wien hatte der kaiserliche Intendant Conte Durazzo diese Pariser Ware heimisch gemacht; ihr Stoffkreis ist erkennbar aus den bloßen Titeln: »Le déguisement pastoral«, »Les amours champêtres«, »Le Chinois poli en France«, »Tirsis et Doristée«. Und Gluck hatte dieser importierten Ware eine Reihe seiner reizendsten Miniaturen hinzugefügt: »L'isle de Merlin« (1758), »La fausse esclave« (1758), »L'arbre enchanté« (1759), »La Cythère assiegée« (1759), »L'ivrogne corrigé« (1760), »La Cadi dupé« (1761) – dramatische Miniaturen, denen er 1764 eine große komische Oper hinzufügte, »La rencontre imprévue« oder »Les pèlerins de la Mecque«, der auf ihrem Gebiet kaum geringere Bedeutung zukommt als dem »Orfeo« auf dem Gebiet der Opera seria. Denn das war keine parodistische oder pastorale oder leis frivole oder leis gesellschaftskritische Nichtigkeit mehr, sondern ein französisches Gegenstück zur Opera buffa, ebenso im reformatorischen Sinn gemeint wie der »Orfeo«. Die Wirkung des Werkes war viel größer auf der deutschen Bühne als[504] auf der französischen, auf die es gemünzt war und die in Philidor, Monsigny und Grétry selber ihre Meister der Opéra comique besaß. Unter dem Titel »Die Pilgrime von Mekka«, in deutscher Übersetzung, ging es seit 1770 über alle deutschen Bretter, große und kleine. Wie gut Mozart es gekannt hat, wissen wir aus seinen Variationen über »Unser dummer Pöbel meint«, einen der »Schlager« Glucks in den »Pilgrimen«, und werden es bald noch mehr erfahren.
Vorläufig verstieg sein Ehrgeiz sich nicht bis zur Nachahmung eines so anspruchsvollen Werks. Er hatte vielleicht noch Melodien und Miniaturen von Philidor und Monsigny und Duni im Ohr, als ihn Dr. Anton Mesmer 1768 beauftragte, als bescheideneres Gegenstück zur »Finta semplice« das deutsche Singspiel »Bastien und Bastienne« zu komponieren. Ungleich der »Finta semplice« erlebte es eine Aufführung in Wien, und zwar auf dem Gartentheater des Dr. Anton Mesmer, der damals ein großes Haus auf der »Landstraße« machte und als Magnetiseur später weltberühmt wurde. Noch heute wird es von opernsingenden Novizen und Adepten gern gespielt, und die Zuhörerschaft entdeckt dabei stets mit Staunen, daß der kleine Mozart in der »Intrada«, dem kurzen Vorspiel, das Thema der »Eroica« Beethovens vorweggenommen hat. In Salzburg sollte das Werkchen wiederholt werden, wobei die Rolle des Colas einer Altstimme zugedacht war; für diese – nicht zustande gekommene – Aufführung liegen ein paar Secco-Rezitative vor. Aber es ist klar, daß das simple Stückchen eine solche Annäherung an die Opera buffa nicht verträgt und daß Mozart selber vermutlich eingesehen hat, es müsse beim gesprochenen Dialog bleiben.Der Ahnherr des Stoffes war kein Geringerer als Jean-Jacques Rousseau. Rousseau, der leidenschaftliche Parteigänger der Opera buffa, im besonderen der »Serva padrona« Pergolesis, und der Urheber des Schreis nach der »Rückkehr zur Natur«, hatte 1752 als ein sozusagen französisches Intermezzo seinen »Devin du village« gedichtet und komponiert (soweit hier von Komponieren die Rede sein kann), und wie alle höchst erfolgreichen Stücke wurde der »Devin du village« sogleich parodiert. Als »Les amours de Bastien et Bastienne« wurde Rousseaus[505] Schäferlichkeit durch Favart mehr ins Bäuerliche transponiert und 1753 in Paris aufgeführt. In Wien ward diese Parodie aufgegriffen durch Friedrich Wilhelm Weiskern (1710 bis 1768), den Sohn eines sächsischen Rittmeisters und einen der erfolgreichsten Komödianten der Wiener Bühne, und seit 1764 sogar gedruckt. Für Mozart hat dann noch ein gewisser Johann Müller drei Arien (Nrn. 11, 12, 13) hinzugedichtet.
Das ist eine lange Historie für ein so einfaches Stück. Nur drei Personen: das Liebespaar, Bastien, Bastienne, und der alte Schäfer Colas. Bastienne klagt über die Unbeständigkeit Bastiens und erhält von Colas den Rat, sich gleichgültig zu stellen und selbst flatterhaft zu erscheinen, das werde schon wirken. Bastien stellt sich ebenfalls ein, um Colas' Rat zu erbitten. Colas zaubert scheinbar Bastienne herbei und das Paar versöhnt sich nach einigen Auseinandersetzungen. Das ist alles; und das alles ist so kindlich, so sehr dem Alter und dem Genius des komponierenden Knaben angemessen, daß ein reizendes und bis auf heute lebensvolles Stückchen daraus geworden ist. Er schreibt für Bastien und Bastienne einfache Liedchen und liedhafte Duette von oft großem melodischen Reiz, immer in kurzen Taktarten, für Colas eine grobe Dorfmusik als Auftrittsszene und eine drollige Beschwörungsarie in dräuendem c-moll; er bleibt immer innerhalb der Grenzen des Singspiels. Ein feinfühliger Kritiker hätte vielleicht damals schon zweierlei in die Zukunft weisende Charakteristika bemerkt: die Sicherheit in der Behandlung des kleinen Orchesters, das den Streichern nur zwei Oboen (Flöten) und zwei Hörner hinzufügt, und den dramatischen Instinkt: etwa den jovialen Beginn des Finalterzetts, wenn Colas das Liebespaar in voller Umarmung überrascht.Mozart schreibt in seinen Opern niemals Duplikate: die »Nozze«, der »Don Giovanni«, »Così fan tutte« sind alle drei Opere buffe, aber jedes Werk ist von den andern so verschieden, daß es ein Opus sui generis zu sein scheint. Und das gleiche trifft zu auf seine deutschen Opern: »Bastien und Bastienne«, »Entführung« und »Zauberflöte«, die ebenfalls drei ganz verschiedene Exemplare der gleichen Gattung sind. Und alle diese Werke haben ihren besonderen historischen Hintergrund. Für die »Entführung« und die »Zauberflöte« aber schafft Mozart[506] sich selber das »Sprungbrett«, den historischen Hintergrund: für die »Entführung« in dem Singspiel, das die Nachwelt »Zaide« getauft hat, für die »Zauberflöte« in seinen Chören und Entr' actes zu dem Schauspiel »Thamos, König in Ägypten« von Tobias Philipp Freiherrn von Gebler.
Die Musik zu dem »heroischen Drama« des Freiherrn ist die früher entstandene. Sie geht zum größten Teil zurück bis auf den Wiener Aufenthalt der Mozarts von 1773. Der Dichter, Staatsrat und Vizekanzler der k.k. böhmischen Hofkanzlei, hatte mit der Komposition der beiden großen Chorszenen, die sein Drama im ersten und fünften Akt enthält, zuerst einen Magister Joh. Tobias Sattler beauftragt und dessen Arbeit durch Gluck überprüfen lassen. Dann aber scheint ihn diese Musik doch nicht befriedigt zu haben und er bestellte bei Mozart eine neue. Mozart schrieb damals die beiden Chöre und fünf Instrumentalstücke: Gebler, dem sehr viel an einer Aufführung seines Werkes in Berlin lag, schrieb am 13. Dezember 1773 an den Berliner Literaten Friedrich Nicolai: »... ich ... schließe ... die Musick des Thamos bey, so wie selbige unlängst von einem gewissen Sigr. Mozzart gesetzt worden. Es ist sein Originalconcept und das erste Chor sehr schön.« Später hat Mozart dann für die Böhmsche Truppe, die 1779 in Salzburg gastierte, die beiden Chorszenen überarbeitet, die zweite sehr tiefgreifend, und einen dritten Chor hinzugefügt, dessen Text sich in Geblers Drama nicht findet. Vermutlich hat er auch die fünf instrumentalen Überleitungen bei dieser Gelegenheit revidiert. All diese Stücke hat Böhm dann für die Aufführungen eines Schauspiels von Karl Martin Plümicke mit dem Titel »Lanassa« verwendet, das auf A.-M. Lemierres »La veuve de Malabar« zurückgeht, also ein Drama mit indischem Stoff. Mozart hat Böhm auch gestattet, als Ouvertüre zu dem Ganzen eine seiner reicher besetzten Sinfonien von 1773 (K. Nr. 184) zu benutzen. In dieser Form ist Mozarts Musik zum »König Thamos« durch ganz Süd- und Westdeutschland getragen worden, und als Mozart Ende September 1790 während der Kaiserkrönung in Frankfurt war, konnte er sie selber hören. In der originalen Fassung sie zu hören, war ihm nicht beschieden. Vater Leopold hatte ihm Anfang 1783 einen Teil seiner Manuskripte nach Wien nachgeschickt,[507] darunter auch den »Thamos«. Mozart antwortet (15. Februar): »... Es thut mir recht leid daß ich die Musique zum thamos nicht werde nützen können! – dieses Stück ist hier, weil es nicht gefiel, unter die verworfenen Stücke; welche nicht mehr aufgeführt werden. – es müßte nur blos der Musick wegen aufgeführt werden, – und das wird wohl schwerlich gehen; – schade ist es gewis! ...«
Er hat recht. Wenn seine Chöre und Instrumentalstücke wirklich in der originalen Besetzung aufgeführt wurden, so müssen sie Geblers oder Plümickes Machwerke förmlich erdrückt haben. Besonders der erste, von einem riesigen Orchesterapparat (Flöten, Oboen, Fagotte, Hörner, Trompeten, Pauken, drei Posaunen, Streicher) begleitete, läßt sich nur mit ein paar von Mozarts eigenen größten Chorstücken vergleichen, dem d-moll-Kyrie oder Sätzen aus der c-moll-Messe. Merkwürdig, daß in Geblers »ägyptischem« Drama schon, wie später in der »Zauberflöte«, der symbolische Gegensatz zwischen Dunkel und Licht eine Rolle spielt. So ist dieser erste Chor ein gewaltiger Morgenhymnus, eine Begrüßung der Sonne, mit rondohaft wiederkehrendem feierlichen Tutti und Halbchören der Männer und Frauen; von feinster Arbeit und schlagender Wirkung zugleich. Das gleiche gilt von dem noch umfänglicheren und reicher gegliederten Chor im fünften Akt, einem Dankgesang, dessen patriotischer Jubel etwas so Hymnisches hat, daß man unwillkürlich an den Schlußchor der Neunten Sinfonie denkt. Und wenn der letzte, nachkomponierte Chor – wieder ein Bitt- und Dankgesang – durch ein priesterlich-mahnendes Baßsolo eingeleitet wird, so meint man bereits die Stimme Sarastros zu hören.Die Instrumentalstücke, Überleitungen von einem Akt zum andern, zeigen Mozart als Programmkomponisten. »Der erste Aufzug schließt mit dem genommenen Entschluß zwischen Pheron und Mirza« (dem Verschwörerpaar des Dramas) »den Pheron auf den Thron zu setzen.« Es ist ein zweiteiliger Allegrosatz in wildem c-moll, durch drei feierliche Akkordschläge eingeleitet wie die Ouvertüre zur »Zauberflöte«. »Thamos' guter Charakter zeigt sich am Ende des zweiten Aufzugs ...«, kontrastiert mit »Pherons falschem Charakter«: – es ist ein zärtliches[508] Andante in Es, in dem Pheron kaum den Schatten zum Licht aufbringt. Die Überleitung vom dritten zum vierten Akt ist Begleitmusik zu einer Pantomime, in sich oder aus sich selber kaum verständlich, aber als solche sehr ausdrucksvoll; die vom vierten zum fünften malt in einem Allegro vivace assai, beginnend in d-moll, »die allgemeine Verwirrung«, die den fünften Akt beschließende mit einer Gewitterszene »Pherons Verzweiflung, Gotteslästerung und Tod«. Als Mozart im Wiener Fasching von 1783 mit Frau und Freunden eine kleine Pantomime aufführte, verkleidet als Figuren der Commedia dell'arte, hat er in der Musik dazu das buffoneske Gegenstück zu diesen heroischen Pantomimen geliefert: so schlagend, so drollig, daß hundertfach zu bedauern ist, daß es nur in fragmentarischster Gestalt erhalten ist.
Ist der »König Thamos« (K. 345) ein ferner Vorläufer der »Zauberflöte«, so ist die »deutsche Operette« mit dem Titel »Zaide« (K. 344) ein sehr naher der »Entführung aus dem Serail«. Ihre Geschichte ist sehr merkwürdig. Das Autograph des Werkes kam 1799 in Mozarts Nachlaß zum Vorschein – als eines deutschen Singspiels, an dessen Musik nicht viel zu fehlen und das nur des verbindenden Textes zu bedürfen schien, um zu neuem Leben erweckt und von Konstanze geschäftlich genutzt zu werden. So wandte Konstanze, mit der Mozart bezeichnenderweise nie über das Werk gesprochen hatte, sich in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung an die Öffentlichkeit mit der Bitte, falls »Jemand den Titel dieses Singspiels kennen, oder, falls es gedruckt ist, wissen sollte, wo es herausgekommen ist, es den Verlegern dieser Zeitung anzuzeigen.« Eine Antwort ist offenbar nicht erfolgt. J. Anton André, der kurz darauf mit dem gesamten Schatz der Handschriften Mozarts auch das Autograph des immer noch titellosen Werkes erworben hatte, gab es endlich, 1838, unter dem Titel »Zaide« heraus. Der Librettist war diesmal der Salzburger Trompeter Andreas Schachtner, der in Mozarts Kindheitsbiographie eine so freundliche Rolle spielt und später den Text zum »Idomeneo« übersetzen sollte. Seine Vorlage war ein elendes musikalisches Singspiel gewesen mit dem Titel »Das Serail, oder: Die unvermittelte« (= unvermutete) »Zusammenkunft in der Sklaverei zwischen Vater,[509] Tochter und Sohn«, das mit Musik von Joseph von Friebert in Bozen 1779 zur Aufführung gekommen war. Auch Schachtner hat vermutlich den Titel »Das Serail« beibehalten. Mozart schrieb das Werk Ende 1779 für die Böhmsche Wandertruppe im Hinblick auf Wien: – es war einer seiner vielen Versuche, irgendwo außerhalb des verhaßten Salzburgs Fuß zu fassen. Aber am 29. November 1780 starb die Kaiserin, und so muß Vater Leopold am 11. Dezember dem Sohn nach München melden: »... Wegen dem schachtner: Drama ist itzt nichts zu machen, da die Theater stillstehen, und mit dem Kayser, der sich in allem mit dem Theater abgiebt, in dieser Sache nichts zu machen ist. Es ist auch besser, da die Musik ohnehin nicht ganz fertig ist ...« Worauf Mozart (18. Januar 1781) den Vater bittet, »Schachtners operette« wenigstens nach München mitzubringen, »– ins Cannabichsche haus kommen Leute, wo es nicht Mal à propos ist wenn sie so was hören«. Und dann ist nicht weiter die Rede von dem Werk, dem vermutlich nichts weiter fehlte als ein Schlußchor mit Soli und die Ouvertüre.
Wir begreifen heute, warum. Es war eine »Türkenoper« und es war eine Großmutsoper, und Mozart fühlte sich offenbar angezogen von dem musikalischen Kolorit des Schauplatzes wie von dem »empfindsamen« Ausgang. Was eine »empfindsame Komödie« damals alles enthalten mußte, das erfahren wir von dem Dichter Jean-Pierre Claris de Florian (Théâtre, tome I, Paris 1797), der als Verfasser solcher Dramen Bescheid wußte:»J'entends par la comédie de sentiment ... celle qui met sous les yeux du spectateur des personnages vertueux et persécutés; une situation attachante où la passion combat le devoir, où l'honneur triomphe de l'intérêt; celle enfin qui sait nous instruire sans nous ennuyer, nous attendrir sans nous attrister, et qui fait couler des douces larmes, le premier besoin d'un cœur sensible.«Das war hier alles vorhanden. Die »tugendhaften und verfolgten Personen«: der edle Gomatz, der in Gefangenschaft geraten ist und bei dem Sultan Sklavendienste verrichtet; die Favoritin Zaide, die den Schlafenden mit Sympathie betrachtet, ihm[510] Geld zusteckt und mit ihm die gemeinsame Flucht beschließt; der Renegat im Dienst des Sultans, der, von unwillkürlicher Sympathie für das Paar ergriffen, die Flucht erleichtert. Sie mißlingt natürlich, und alle drei sollen sterben. Der Sultan scheint unerbittlich. Da weist der Renegat – er heißt bei Mozart Allazim und ist in Wirklichkeit der Fürst Ruggiero – dem Tyrannen nach, daß er ihm vor fünfzehn Jahren das Leben gerettet hat, und im letzten Augenblick ergibt sich, daß Gomatz und Zaide Sohn und Tochter des Renegaten sind. Der Sultan gibt allen die Freiheit, nicht ohne zu betonen, daß »nicht nur Europa, sondern auch Asien tugendhafte Seelen erzeugen kann«. Man möchte die Lösung des Knotens am liebsten zurückführen auf Lessings »Nathan der Weise«, in dem alle Beteiligten sich schließlich ebenfalls als Geschwister oder Verwandte entpuppen, wenn der »Nathan« nicht eben auch erst im Jahr 1779 entstanden wäre und wenn es anginge, das Werk höchster religiöser und menschlicher Toleranz mit dem kleinen provinziellen süddeutschen Singspiel in ideelle Verbindung zu bringen.
Die »Zaide« oder, wie wir sie neu taufen wollen, »Das Serail«, ist eine »ernsthafte Operette«. Der Humor ist nur vertreten durch die Episodenrolle des Sklavenhändlers Osmin, der in einem Prestissimo, einer »Lach-Aria«, einige Lebensweisheit von sich gibt über die Narren, die ihr Glück nicht zu nützen verstehen: die Arie hat ungefähr denselben Sinn wie Goethes Lieder aus dem »Groß-Kophta«, die Hugo Wolf so meisterlich komponiert hat. Von einem feineren Humor in höherem Sinn zeugt die Arie des Gomatz (Nr. 6) »Herr und Freund! wie dank ich dir.« Gomatz ist gleichzeitig erfüllt von seinem Drang, dem Renegaten für seine Hilfe zu danken und Zaide von der plötzlichen Schicksalswendung zu benachrichtigen; und diesen Zwiespalt hat Mozart aufs reizendste zum Ausdruck gebracht. Sonst geht es sehr empfindsam zu in diesem Werk. Zaide singt über dem schlafenden Gomatz eine melodisch voll erblühte »Schlummerarie« (Nr. 3); sie sucht den Sultan zu erweichen durch den Vergleich mit der Nachtigall im Käfig, der man die Flucht auch nicht übelnehmen könne: Nr. 12, ein reizendes A-dur-Stück mit bloßer Streicherbegleitung; sie beschimpft ihn in g-moll und gedenkt im Mittelsatz, einem Larghetto, trauernd[511] des Geliebten (Nr. 13). Gomatz hat eine Art von »Bildnisarie« vor der »Zauberflöte«, ein merkwürdig exaltiertes Stück (Nr. 4); und beide Geschwister haben ein kurzes, verhaltenes Freudenduett (Nr. 5). Allazim ist in zwei etwas neutralen Stücken (Nr. 7 und 14) als Fürst und Weiser charakterisiert und Soliman in seinen beiden Arien (Nr. 9 und 11) als Despot. Ein kleiner Chor der steinklopfenden Verbrecher leitet den ersten Akt ein und gibt Gomatz Gelegenheit zu einem der beiden historisch merkwürdigsten Stücke der Partitur: dem Melodram, in dem Gomatz sein Geschick beklagt, aus dessen Unerträglichkeit er Zuflucht im Schlaf sucht. Das andre leitet den zweiten Akt ein: des Sultans heftige Diatribe gegen das weibliche Geschlecht. Mozart hatte in Mannheim durch die Seilersche Truppe die neue Gattung kennengelernt (12. November 1778): »... – ich weis nicht, habe ich ihnen, wie ich das erstemahl hier war, etwas von dieser art stücke geschrieben? – ich habe damals hier ein solch stück 2 mahl mit dem grösten vergnügen auführen gesehen! – in der that – mich hat noch niemal etwas so surpreniert! – Denn ich bildete mir immer ein, so was würde keinen Effect machen! – sie wissen wohl, daß da nicht gesungen, sondern Declamirt wird – und die Musique wie ein obligirtes Recitativ ist – bisweilen wird auch unter der Musique gesprochen, welches alsdann die herrlichste wirckung thut; – was ich gesehen war Medea von Benda; er hat noch eine gemacht, Ariadne auf Naxos, beyde wahrhaft – fürtrefflich ...« Seine Begeisterung ist so groß, daß er das Recitativo accompagnato am liebsten ganz durch melodramatische Behandlung des Textes ersetzt sähe, und er hatte die Absicht, selber ein ganzes Melodram »Semiramis« auf einen Text des Freiherrn von Gemmingen zu schreiben, genau im Stil der »Ariadne« und »Medea« Georg Bendas. Das hat er glücklicherweise nicht getan, glücklicherweise, denn das Melodram ist und bleibt eine bedenkliche Zwittergattung; aber hier, im Singspiel, ist es in der Tat eine glücklichere, legitime Vermittlung zwischen Dialog und Aria, und die beiden Stücke sind ein wahres Arsenal Mozartscher ausdrucksvoller Formeln.
Die beiden schönsten Stücke der Partitur sind jedoch die beiden Ensembles: ein Terzett in E-dur, das den ersten Akt[512] beschließt, und ein großes Quartett im zweiten, vor der Lösung der Katastrophe. Im Quartett, um mit diesem zu beginnen, sind alle vier Personen von verschiedenen Gefühlen beherrscht: Zaide will allein für Gomatz sterben: Gomatz spricht ihr Mut zu; der bereits begnadigte Renegat beklagt das Schicksal der zwei Opfer; der Sultan betont immer wieder seine Unerbittlichkeit. All das ist im reinsten Fluß und voller Deutlichkeit und Gefühl versinnlicht. Noch schöner ist das Terzett. Die drei zur Flucht bereiten Menschen stehen bei Sonnenaufgang vor dem offenen Meer; ein abziehendes Gewitter, Regenbogen vor dunklem Hintergrund. Seligkeit erfüllt ihr Herz; nur Zaide sieht in den fernen Blitzen Vorboten künftigen Unheils. Doch löst sich alles in einem Allegro schlichtester Melodik und feinster Arbeit – und allein um dieses Stückes willen möchte man versuchen, dies Werk zu retten. Aber Mozart hat das selbst verhindert: drei Jahre nach »Das Serail« komponiert er selber »Die Entführung aus dem Serail«, und dieses größere Wiener Schwesterwerk verdunkelt für immer die bescheidenere Salzburger Vorläuferin.
»Ein gewisser Mensch, namens Mozart, in Wien, hat sich erdreistet, mein Drama ›Belmont und Constanze‹ zu einem Operntexte zu mißbrauchen. Ich protestiere hiemit feierlichst gegen diesen Eingriff in meine Rechte und behalte mir Weiteres vor. Christoph Friedrich Bretzner, Verfasser des ›Räusch chen‹.« Diese Notiz ließ der Verfasser des »Räuschchen«, im Hauptberuf Handlungsbuchhalter, in der »Leipziger Zeitung« vom Jahre 1782 abdrucken. Der Operntext, zu dem Bretzners Machwerk »mißbraucht« worden war, hieß »Die Entführung aus dem Serail« und war schon ein Jahr vorher als Singspiel mit Musik von Johann André in Berlin über die Bretter gegangen. So wie er vorlag, konnte Mozart ihn nicht brauchen; mit Hilfe des Gottlieb Stephanie, Schauspieler am Nationaltheater, der Wien mit allen möglichen Übersetzungen und Bühnenstücken versorgte, suchte er ihn für seine Zwecke herzurichten. Wir haben bereits gesehen, mit welchem Scharfblick für das Wesen seiner Figuren, welchem Instinkt für die Bühne er dabei zu Werk ging. Und es ist ein ganz gutes Libretto geworden; ja es finden sich, neben greulichen Ungeschicklichkeiten,[513] im Text sogar ein paar poetische Stellen: als Belmonte und Konstanze den Tod vor sich sehen, finden sie ein paar höchst eindringliche Worte. Und ich kann auch dem Tadel nicht beistimmen, daß die Flucht des Doppelpaares nicht ans Ende des II. Aktes verlegt ist: der III. Akt gewinnt eine ungewöhnliche Spannung und Fülle dadurch, daß er die Flucht, ihr Mißlingen, die drohende Strafe und die glückliche Lösung in knappen Rahmen zusammendrängt. An den Aktschluß einer »Operette« gehört nicht eine dramatische Zäsur, sondern Musik, und die hat Mozart in einem unsterblichen Quartett geliefert, das eins seiner größten Meisterwerke ist.
Aus diesen Andeutungen kann man den Inhalt des Werkes schon einigermaßen entnehmen. Es ist fast derselbe wie der der »Zaide«; nur daß sich die »Entführung« zur »Zaide« verhält wie eine reiche Variation zum einfachen Thema. Statt Zaide und Gomatz, den Geschwistern, ein wirkliches edles Liebespaar, Konstanze und Belmonte; anstelle des despotischen Sultans Soliman, der erst am Ende generös wird, die Sprechrolle des Bassa Selim, eines Renegaten, der von Anfang an gute Sitten zeigt und die gefangene Konstanze nur mit ihrem Willen besitzen will. Das sind die drei »parti serie«. Aber indes »Zaide« fast nur »parti serie« hatte, ist die »Entführung« bereichert durch »parti buffe«: Blonde, Konstanzes Zofe; Pedrillo, Belmontes Diener, mit den beiden Damen von Seeräubern gefangen und an den Bassa verkauft: und vor allem Osmin, des Bassas Haremswächter, in Blonde verliebt. Die Handlung ist sehr einfach. Akt I: Belmonte kommt verkleidet vor den Palast des Bassa, wird von Osmin grob abgewiesen, gewinnt Fühlung mit Pedrillo, der ihn als Architekten beim Bassa einführt, und erzwingt Eintritt in den Palast. Akt II: Osmin macht neue, ebenso täppische wie vergebliche Versuche, Blondes Gunst zu gewinnen; der Bassa, nicht ohne Drohungen, ebenso vergebliche bei Konstanze. Pedrillo teilt Blonde die Ankunft Belmontes mit und macht Osmin unschädlich, indem er ihn mit Wein anfüllt. Belmonte kommt dazu: Quartett – eher Doppelduett – in dem der Fluchtplan verabredet wird; Zweifel der Männer an der Unberührtheit der Damen; Reaktion der Damen; Versöhnung und Hymnus auf die Liebe. Akt III: heroische Aria Belmontes,[514] Ständchen Pedrillos, das als Zeichen der Bereitschaft dient; Flucht und Entdeckung. Die beiden Paare, von Osmin im Triumph herbeigeschafft, sehen den Tod vor Augen; aber der Bassa verzeiht, obwohl er in Belmonte den Sohn seines Todfeindes erkennt, und schenkt ihnen die Freiheit. Dankgesang in Form eines Vaudeville, und Jubelchor.
Es waren mehrere Umstände, die Mozarts »Entführung« zu einem epochemachenden Ereignis machten. Es war ein deutsches Singspiel, aber ein Singspiel besonderer Art. Goethe hat es formuliert, indem er seine eigenen Versuche auf diesem Gebiet, als Textlieferant für die kleinen Weimarer Musiker, abschloß mit der Erkenntnis, daß das Erscheinen der »Entführung«, wie er sich ausdrückte, »alles niederschlug«. Das nord- und mitteldeutsche Singspiel hatte, wie die Opéra comique und dieser folgend, im Laufe der sechziger Jahre der Musik einen immer größeren Platz eingeräumt. Es war besonders der spätere Thomas-Kantor, Johann Adam Hiller in Leipzig, der in die »deutsche Operette« auf seine Art die Teilung der Figuren in »parti serie« und »parti buffe« eingeführt und an die Gesangskunst der Darsteller größere Anforderungen gestellt hat. Gerber, im Alten Lexikon (1790), nennt Hiller »den wohltätigsten Mann für unser Zeitalter« und will damit sagen: »daß er uns Deutsche hat Singen gelehrt, so, wie wir singen sollten.«Er geht so weit, zu behaupten, daß Hiller »uns zur Zeit, wo man einen Sänger auf einem deutschen Theater noch nie gesehen hatte, eine deutsche Operette gab, welche ... jene der Italiener und Franzosen an Richtigkeit der Deklamation, an Wahrheit im Ausdruck, an abstechender Zeichnung der verschiedenen Charaktere, an angemessenem, zweckmäßigem, bald tändelnden, bald kühnen und feurigen, aber allezeit edlen Gesange, an gewissenhafter Reinheit der Harmonie, an Witz, Laune und Mannigfaltigkeit ... weit vorzuziehen ist«. Wenn das von Hiller und seinen vielen Nachahmern, den Benda, Koch, Neefe usw., nicht wahr ist, so ist es gewiß wahr von der »Entführung«. Die Wiener verlangten weit mehr an Musik, an Gesangskunst, an orchestraler Fülle, als die Norddeutschen. Und Mozart gab es ihnen, er griff tief in den Farbentopf. »Zu schön für unsere Ohren, und gewaltig viel Noten, lieber Mozart«,[515] soll Joseph II. nach der ersten Aufführung am 16. Juli 1782 gesagt haben, worauf Mozart gelassen erwidert haben soll: »Gerade so viel, Eure Majestät, als nötig ist.« Mozart hat wieder Klarinetten, wie in Paris und Mannheim und München, und wie hat er sie verwendet! Mozart hat die »türkische Musik«: Piccoloflöte, Trompeten und Pauken, Triangel und Piatti, und welches Kolorit gibt sie der Ouvertüre, den Janitscharen-Chören, den Wutausbrüchen Osmins, dem Saufduett: ein Kolorit, zugleich exotisch, lustig und drohend!
Der andere, noch wichtigere Grund für die epochemachende Wirkung der »Entführung« ist der, daß Mozart, zum erstenmal, drastisch gesprochen, der dramatische Knopf aufgegangen war. Im »Idomeneo« war noch ein Überschuß an Musik vorhanden gewesen, der der Opera seria mit ihrer traditionellen Balance zwischen Text und Musik nicht unangemessen war. In der »Entführung« denkt Mozart nicht mehr in »Kategorien«. Belmonte ist nicht mehr ein Arien singender Tenor, sondern ein vornehmer Jüngling von der Gattung der Taminos; zartfühlend, energisch, heroisch. Konstanze ist ein ähnlicher Charakter; und nur einmal hat Mozart die dramatische Wahrheit ihres Charakters »der geläufigen Gurgel der Cavalieri« (der ersten Darstellerin der Rolle) aufgeopfert, als er ihr die große C-dur-Aria mit konzertierender Flöte, Oboe, Violine und Violoncello schrieb (Nr. 11, »Martern aller Arten«), ein Stück heroischer Virtuosität oder virtuoser Heroik, das der arme Bassa einfach abzuhören hat. Aber sonst: wie wächst jedes Stück aus der Situation heraus, wie schlagend ist jeder Charakter in der Situation getroffen! Blondchens Jubel (12, »Welche Wonne, welche Lust«), Pedrillos wackelnder Versuch, sich selber Mut einzusprechen (13, »Frisch zum Kampfe«); Belmontes freudige Erwartung (1, »Hier soll ich dich denn sehen«), der Ouvertüre entnommen, dort aber in Moll, hier in Dur; seine und Konstanzens »empfindsame« Arien, die schönsten wohl Belmontes »Oh wie ängstlich« (4), Konstanzes »Traurigkeit ward mir zum Lose« (10), beide eingeleitet durch Rezitative voll feinster Nuancen. Verdoppelt gesteigert findet sich diese Innigkeit in Recitativo und Duett (20) »Welch ein Geschick« im letzten Akt. Wir sagen mit Absicht: Innigkeit. Denn hier weniger als[516] je neigt Mozart zur »comédie larmoyante« wie so manche italienische Buffokomponisten, zum Beispiel Paisiello in der »Nina pazza per amore«. Mozart sucht Wahrheit, nicht Rührung, geschweige denn Sentimentalität. Die größte Schöpfung Mozarts in diesem Werk ist jedoch die Gestalt des Osmin. Das ist kein »Basso buffo caricato«, der zufällig deutsch singt, keine Karikatur, sondern ein ebenso realistischer Kerl wie Falstaff: grob, gallig, unendlich komisch als grollender Freund von Weib und Wein, aber auch unendlich gefährlich. Mozart hat ihn, mit chromatischen, harmonischen, koloristischen Wendungen in wahre Paroxismen der Wut, des Sadismus hineingesteigert: ein »Erst geköpft, dann gehangen« ist das Gegenstück zur Trunkenheits-Aria Don Giovannis; das g-moll des Liedchens, mit dem er auftritt, charakterisiert den Barbaren.
Eine »deutsche Operette« hat keine Finali wie eine Opera buffa, aber sie hat Ensembles. Und das ist das Auszeichnende der Ensembles in der »Entführung«, daß sie die Handlung im Fluß erhalten, vorwärtstreiben, entwickeln. Niemand steht auf der Szene, bloß um zu singen. Belmontes Auseinandersetzung mit Osmin (2), Osmins eheliche Belehrung durch Blonde (9), das Terzett der drei Männer als erster, das Quartett als zweiter Aktschluß: alle führen die Handlung weiter. Dies Quartett ist immer, und mit Recht, besonders bewundert worden: jeder der beiden Tenöre äußert seine Bedenken über die Standhaftigkeit der beiden Damen auf seine Weise, und jede der Damen reagiert auf die ihrige – es ist wie die Verbindung eines ernsten und komischen je zweistimmigen »Kanons«. Das Vaudeville am Schluß hätte jeder andre Komponist in voller Harmonie gehalten – aber Mozart läßt es durch einen neuen, letzten Wutausbruch Osmins stören und steigert dadurch seine rührende und herzliche Wirkung. Dieser dramatischen Bewegtheit entspricht die Beweglichkeit des Orchesters. Mir scheint, mehr als irgendwo anders folgt Mozart in der »Entführung« den Anregungen des Textes: Belmontes Herzklopfen, Pedrillos Gliederschlottern, Konstanzes Seufzen usw. Dies Orchester redet ebenfalls eine neue Sprache, auch eine neue Sprache der Dynamik, die von unendlicher Feinheit der Abstufung ist. Das ganze Werk ist der volle Durchbruch der Persönlichkeit Mozarts[517] als dramatischer Komponist. Es hat ihm ungeheure Mühe gemacht: keine seiner Opernpartituren ist so voll von Streichungen, Kürzungen, Änderungen wie die »Entführung«. Zu keiner hat er so lange gebraucht: fast ein volles Jahr. Aber von nun an kann er nichts mehr schreiben, was dramatisch gleichgültig ist. Und sie war ein großer Erfolg. Cramers Magazin (I, 352), läßt sich im Dezember 1782 aus Wien melden: »... die Entführung aus dem Serail ... ist voll Schönheiten ... und übertraf die Erwartung des Publikums, und des Verfassers Geschmack und neue Ideen, die hinreißend waren, erhielten den lautesten und allgemeinsten Beifall.«
Noch einmal hatte Mozart mit Stephanie zusammenzuarbeiten, als Joseph II. zu Ehren der Generalgouverneure der Niederlande, das heißt des Herzogs Albert von Sachsen-Teschen und seiner Gemahlin, der Erzherzogin Christine, in Schönbrunn ein »Lustfest« veranstaltete. Es war »Der Schauspiel-Direktor – eine Komödie mit Musik, bestehend aus Ouvertüre, zwei Arien, einem Terzett und Vaudeville« (K. 486), wie es Mozart am 3. Februar 1786 selber in sein Tagebuch einträgt. Aufgeführt wurde es am 7. Februar in Schönbrunn vor den fürstlichen Zuhörern, und am 18. und 25. öffentlich wiederholt. Den Inhalt bilden die Erlebnisse eines Theaterdirektors, der, nachdem er mit gutem Repertoire Fiasko gemacht, die Permission erhalten hat, für Salzburg (!) eine neue Truppe zusammenzustellen, und dem sich nun ein paar Vertreter des Bühnenvölkchens präsentieren – erst Schauspieler, dann ein paar Sängerinnen und ein Tenorist. Jede gibt ein Probestück, die eine eine »empfindsame« Aria (Mad. Herz = Aloisia Lange), die andre ein mehr naives Rondo (Mad. Silberklang = Cat. Cavalieri). Dann geraten sie sich in die Haare, da jede eine höhere Gage zu verdienen glaubt als die andre, und übersingen sich in einem Terzett, in dem der Tenorist (Mons. Vogelsang = Adamberger, Mozarts Belmonte) zu beschwichtigen sucht. Zum Schluß stellt sich in einem »Vaudeville« à la Finale der »Entführung« die Einigkeit her; hier erhält auch der Buffo der Truppe, der den armen Theaterdirektor sachgemäß beraten hatte, ein kleines Solo – nur zum Beweis, daß er nicht singen kann. – Der Stoff des Stückes ist alt und war im »Impresario delle Canarie« sehr artig schon[518] von Metastasio als Intermezzo behandelt worden; und nach Metastasio haben ihn hundert andre Komödiendichter – zum Beispiel Goldoni im »Impresario delle Smirne«, und hundert Librettisten – zum Beispiel Bertati im »Capriccio«, zum Anlaß für mehr oder minder blutige Theater- und Opern-Satire genommen. Das feinste all dieser Stücke ist Calzabigis »Opera seria«; und zu den hausbackensten gehört sicherlich der »Schauspiel-Direktor« unseres Stephanie des Jüngeren: – vor den hohen Herrschaften durfte kein freieres Wort gewagt werden, und die Figur des Bankiers, der eine der Schauspielerinnen aushält, ist schon kühn genug. Bei der gleichen Hoffestlichkeit war Salieri wieder der Glücklichere: er durfte Castis dramatischen Scherz »Prima la musica e poi le parole« komponieren – ein ganz andres Meisterstück treffender Opernsatire.
Mozart hat seinen beiden Sängerinnen zwei sehr dankbare Arien auf den Leib geschrieben und ist im »Vaudeville« selber so hausbacken geblieben, wie es der Text verlangte. »Jeder Künstler strebt nach Ehre – wünscht der einzige zu sein ...«, das war nicht begeisternd. Das Terzett ist sehr lustig und berührt sich ein wenig mit den komischen Terzetten, die Mozart manchmal für den Hausgebrauch hinwarf. Das schönste Stück dieser Gelegenheitsarbeit, und weit über die Gelegenheit hinausragend, ist die geistreiche Ouvertüre, im reinsten Buffostil, voll von Überraschungen der Form.Als Mozart die Einlagen zum »Schauspiel-Direktor« schrieb, arbeitete er längst an den »Nozze di Figaro«; und für die folgenden drei oder vier Jahre wird er ganz zum italienischen Buffokomponisten. Aber nach »Così fan tutte« konnte er kaum mehr auf einen kaiserlichen Opernauftrag rechnen; Leopold II. liebte ihn nicht. Da griff, in seinem letzten Lebensjahr, in sein dramatisches Schaffen ein alter Bekannter wieder ein, der obendrein als Logenbruder neuen Einfluß auf ihn gewonnen hatte: der Direktor des Freihaustheaters auf der Wieden, Emanuel Schikaneder. Die Bekanntschaft der Mozartschen Familie mit Schikaneder war 1780/81 geschlossen worden, als dieser mit seiner Truppe in Salzburg ein fünfmonatiges Gastspiel gab, und Mozart hat damals, mitten in der Arbeit am »Idomeneo«, für eine von Schikaneders Sängerinnen, Mademoiselle Ballo,[519] bereits eine Aria geschrieben (K. Anh. IIa), die verschollen ist.
Schikaneder war ein Theatermensch von reinstem Wasser. Geboren war er 1751 als armer Leute Kind in Straubing bei Regensburg, doch deutet sein Name eher als auf bayrische auf Tiroler Herkunft. Nach dem Taufregister hieß er nicht Emanuel, sondern Johannes Joseph. Nach dem frühen Tod seines Vaters wurde er ein Wandermusikant, sprang aber 1773 einer Schauspielertruppe bei und wurde 1777 ein hervorragendes Mitglied der »Kurbayrisch privilegierten Moserschen Gesellschaft«, die ganz Süddeutschland mit dramatischer Kunst jeder Gattung: Komödien, Tragödien, Singspielen und Balletten, versorgte. Schikaneders Rollenfach war damals das des jugendlichen Liebhabers und Helden, worin ihm seine Frau sekundierte; wir wissen, daß er einer der ersten deutschen Hamlets war. Im folgenden Jahr aber wurde er selber Prinzipal der Truppe und hatte besondere Erfolge in Stuttgart, Nürnberg, Augsburg, Regensburg – Erfolge, die nicht immer mit den feinsten Mitteln der Theaterkunst erzielt waren, denn Schikaneder war ein Liebhaber von Maschinen, Dekorationen, glänzenden Aufzügen, Massenszenen, Blitz und Donner, Grab und Gespenstern und war jederzeit bereit, den gröbsten Wünschen seines Publikums weitgehend entgegenzukommen. Nach dem Salzburger Gastspiel verlegte er das Feld seiner Tätigkeit, ohne Süddeutschland zu vernachlässigen, auch in die österreichischen Erblande und war unter anderm 1786 in Wien gewesen, wo ihm der Kaiser sogar ein Privileg zur Erbauung eines neuen Vorstadttheaters erteilte. 1789 kam er, gerufen von seiner Frau, für dauernd nach Wien und übernahm die Direktion des noch nicht lang vorher (1787) gegründeten Freihaus-Theaters in der Vorstadt Wieden, auf dem er sofort mit Geschick das Singspiel und die deutsche Oper zu pflegen anfing. Nichts ist bezeichnender für seine Tendenzen als die beiden Stücke, mit denen er begann. Das erste war eine Posse mit Gesang: »Der dumme Gärtner aus dem Gebirge, oder die zwei Anton«, in der er sich die Kasperlrolle des dummen Anton selber vorbehalten hatte: Der Erfolg war so groß, daß Schikaneder dem Werk sechs Fortsetzungen gab. Das zweite war eine große romantisch-komische Oper »Oberon, König der Elfen«, nach Wielands Epos, der Text[520] von dem Komödianten Karl Ludwig Giesecke, die Musik von Paul Wranitzky, einem Schüler Haydns. Auch hier war der Erfolg so bedeutend, daß Schikaneder diesem »Oberon« einige Werke gleichen und ähnlichen Charakters folgen ließ, so im September 1790 den von ihm selber verfaßten »Stein der Weisen« oder »Die Zauberinsel«, für den er den Stoff Wielands Märchensammlung »Dschinnistan« entnahm.
Mozart war diesen Vorgängen aufmerksam gefolgt. Aus einer der Fortsetzungen des »Dummen Anton« entlehnte er das Thema zu Klaviervariationen (K. 613, »Ein Weib ist das herrlichste Ding auf der Welt«), keine seiner besten, obwohl sie die letzten sind. Für den »Stein der Weisen« instrumentierte er ein komisches Duett, dessen Komponist wahrscheinlich Benedikt Schack war: »Nun, liebes Weibchen, ziehst mit mir.« Die beiden Figuren, Lubano und Lubanara, entsprechen genau Papageno und Papagena und wurden auch von den entsprechenden Darstellern gesungen: Schikaneder selber und Madame Gerl. Mozart kann nicht sehr verwundert gewesen sein, als Schikaneder im Frühjahr 1791 an ihn herantrat, für das Wiedener Theater eine ähnliche Oper zu schreiben wie den »Stein der Weisen« oder »Die Zauberinsel«, nämlich »Die Zauberflöte«. Die Frage, woher Schikaneder den Stoff zu diesem Werk entnahm, ist im einzelnen sehr schwierig zu lösen; uns mag genügen, daß es in der Hauptsache wieder Wielands Märchensammlung entnommen war, besonders dem Märchen mit dem Titel »Lulu oder die Zauberflöte«.Wie die Entstehung des »Requiem«, so ist auch die der »Zauberflöte« von Legenden umsponnen. Mozart soll mit diesem Werk Schikaneder aus finanziellen Nöten gerettet haben; Schikaneder soll ihn bei der Komposition durch Wein und Austern bei guter Laune erhalten und ihn dabei in einem Gartenhaus beim Theater eingesperrt haben, das, wie die Santa Casa nach Loreto, Anno 1874 auf den Kapuzinerberg ob Salzburg gebracht wurde, und an dem jede Planke vermutlich ebenso echt ist wie jede an der Santa Casa selber. Mozart soll gezögert haben, den Antrag anzunehmen, aus Furcht vor einem Fiasko: denn »eine Zauberoper habe er noch nicht gemacht«. All das ist natürlich Unsinn. Das Werk ging am 30. September in Szene, und der Erfolg steigerte sich bei jeder Wiederholung. Schikaneder[521] konnte, wenn ihm das gegeben gewesen wäre, an seinem Gemeinschaftswerk mit Mozart wirklich reich werden. Aber er war ein Komödiant, der lebte und leben ließ, ein Verschwender und Schürzenjäger, der es mit der ehelichen Treue nie genau genommen hatte. 1802 verlor er das Privileg seines Theaters an einen reichen Logenbruder und zog sich in ein Schlößchen in Nußdorf zurück, das er zuletzt wieder verkaufen mußte. Er war in seinen letzten Jahren irrsinnig und starb 1812. Wie Mozart ist er in einer Massengrube verscharrt worden.
Es ist ein Kriterium für das dramatische oder vielmehr dramatisch-musikalische Verständnis, ob man das Libretto zur »Zauberflöte« gut oder schlecht findet. Manche Beurteiler finden es so gut, daß sie die Verfasserschaft dem armen Schikaneder ab- und dem Schauspieler Karl Ludwig Giesecke zusprechen, der eigentlich Johann Georg Metzler hieß, erst Jura und nebenher Mineralogie studierte, aber 1783 Komödiant wurde und zu Schikaneders Truppe gehörte. 1801 sagte er der Bühne Valet, wurde Königlicher Bergrat in Dänemark und 1814 Professor der Mineralogie und Chemie an der Universität Dublin, wo er starb. Als er um 1818/19 Wien wieder besuchte, soll er den ganzen Text der »Zauberflöte« für sich als Verfasser in Anspruch genommen haben. Aber wenn überhaupt ein Wort des Librettos von ihm stammt, so höchstens Taminos Unterredung mit dem Sprecher, deren Diktion ein wenig über Schikaneders Vermögen hinausgeht.Denn die Schwäche des Librettos – eine kleine Schwäche, der leicht abzuhelfen ist – liegt nur in der Diktion. Es enthält eine Menge ungeschickter, kindischer, vulgärer Wendungen. Aber die Beurteiler, die nun das ganze Libretto für kindisch und ungereimt halten wollen, täuschen sich sehr. Goethe war jedenfalls dieser Meinung nicht, als er einer »Zauberflöte zweiten Teil« dichtete, leider unvollendet, aber voll von Märchenglanz, Poesie und Tiefsinn. Im dramaturgischen Sinn ist Schikaneders Arbeit meisterhaft. Man kann am Dialog kürzen und verbessern, aber man kann im Aufbau dieser zwei Akte und des Ganzen keinen Stein von der Stelle rücken oder versetzen – ganz abgesehen davon, daß man dadurch Mozarts wohldurchdachte, organische Tonarten-Ordnung zerstören würde.[522] Ich kann auch nicht den geringsten Beweis dafür finden, daß Schikaneder, durch die Aufführung einer Konkurrenzoper im Leopoldstädter Theater veranlaßt, mitten in seinem Libretto die Tendenz und die Charaktere seiner Oper verändert hätte. Sarastro, der Vertreter des Lichts, der Güte, der Humanität, und die Königin der Nacht stehen sich feindlich gegenüber: Sarastro hält ihre Tochter Pamina bei sich gefangen, um sie vor dem Einfluß der Mutter zu bewahren. Die Königin glaubt in Tamino, der in ihr Bereich geraten ist, das Werkzeug zu erkennen, Pamina zu befreien und sie selber an Sarastro zu rächen. Sie erscheint ihm, der durch ein bloßes Bildnis in Liebe zu Pamina entbrannt ist, gibt ihm den Naturburschen Papageno als Begleiter mit und versieht beide mit hilfreichen Zauberinstrumenten: Tamino mit einer Flöte, Papageno mit einem Glockenspiel. Aber ihr Plan mißlingt, obwohl sie in dem Mohren Monostatos, der Pamina mit seiner Geilheit verfolgt, einen Verräter an Sarastro gewinnt. Tamino gerät in den edlen Bann Sarastros und seiner Gefährten. Um in ihren Kreis aufgenommen zu werden, unterzieht er sich den schwersten Prüfungen, an denen Papageno minder erfolgreich teilnimmt. Der zweite Akt endet mit der Vereinigung des Liebespaares und seiner Aufnahme in die humane Gemeinschaft und mit der Niederlage der Königin. All das spielt sich ab in der Sphäre des Märchens: drei Damen stehen im Dienst der nächtlichen Königin; drei Genien schweben hernieder, um Meldungen zu tun, Lehren zu erteilen und Katastrophen abzuwehren; zwei Geharnischte stehen vor der Pforte, durch die Pamina und Tamino schreiten, um die letzte Probe abzulegen, die Feuer-und-Wasser-Probe; das für Papageno bestimmte Weibchen, Papagena, erscheint ihm zuerst als verhutzelte Alte; Taminos Flöte lockt und besänftigt alle Tiere der Wildnis, Papagenos Glockenspiel zwingt Monostatos und seine schwarzen Häscher zu frenetischem Tanz. Es scheint sich lediglich um ein phantastisches Spiel zu handeln, zu nichts anderem bestimmt, um ein Vorstadtpublikum durch Maschinen und Dekorationen, durch die bunte Mischung von wunderlichen Vorgängen und groben Späßen zu unterhalten.
Es ist davon ein bißchen; aber es ist viel mehr, oder: es ist etwas ganz anderes, dank Mozart. Die »Zauberflöte« gehört[523] zu den Stücken, die ebenso ein Kind entzücken wie den Erfahrensten der Menschen zu Tränen rühren, den Weisesten erheben können. Jeder einzelne und jede Generation findet etwas anderes darin, und nur dem lediglich »Gebildeten« oder dem reinen Barbaren sagt sie nichts.
Der Erfolg, die Sensation bei den ersten Zuhörern in Wien hatte stoffliche, politische Ursachen. Mozart und Schikaneder waren Freimaurer, Mozart ein leidenschaftlicher und Schikaneder sicherlich ein schlauer und tätiger. Er operierte in dem Libretto ganz offenkundig mit den Symbolen der Freimaurerei. Dem ersten Druck des Librettos sind – eine Seltenheit! – zwei Kupferblätter beigegeben: das eine stellt Schickaneder-Papageno in seinem Federkleid dar; das andre aber die Pforte zu den »inneren« Räumen, die große Pyramide mit Hieroglyphen, und eine Reihe von Emblemen: den fünfzackigen Stern, Winkelmaß und Kelle, Sanduhr und gestürzte Säulen und Platten. Jedermann verstand das. Nach den Zeiten der Toleranz für die »Brüder« unter Joseph II. war mit Leopold II. wieder die Reaktion eingezogen, begannen wieder geheime Verfolgungen und Unterdrückungen. Die Königin der Nacht, das war Maria Theresia, Leopolds Mutter, und ich bin überzeugt, daß auch der schwarze Verräter Monostatos auf eine bestimmte Persönlichkeit deutete.Unter dem Deckmantel der Symbolik war die »Zauberflöte« ein Werk der Auflehnung, des Trostes, der Hoffnung. Sarastro und seine Priester sind die Repräsentanten dieser Hoffnung auf den Sieg des Lichts, der Humanität, der Menschheitsverbrüderung. Mozart hat rhythmisch, melodisch, koloristisch dafür gesorgt, daß der geheim-offenkundige Sinn der Oper noch deutlicher werde. Er eröffnet und schließt sie in Es-dur, der Freimaurer-Tonart. Die langsame Einleitung der Ouvertüre beginnt mit den drei Akkordschlägen, die das dreimalige Anklopfen des Adepten an die Pforte symbolisieren; und in der entscheidenden Szene klopft Tamino denn auch an drei verschiedene Pforten an. Ein dreimaliger Akkord antwortet auf Sarastros Eröffnungen im Tempel. Die Holzbläser – die typischen Instrumente der Wiener Logen – spielen eine hervortretende Rolle; der Klang der Posaunen, von Mozart bisher, im »Idomeneo«, im »Don Giovanni«[524] nur im höchsten theatralischen Sinn gebraucht, gewinnt symbolische Kraft.
Für den »Uneingeweihten« waren diese freimaurerischen Züge bedeutungslos und sind das noch mehr geworden für spätere Generationen. Was bleibt, ist der ewige Reiz der naiven Handlung, das Vergnügen an der Geschicklichkeit Schikaneders – was für ein Meisterzug, die Liebenden im Finale des I. Aktes vor aller Augen zusammenzuführen! – und die bewundernde Ehrfurcht vor der Musik Mozarts. Sie ist kindlich und göttlich zugleich, erfüllt zugleich von höchster Einfachheit und höchster Meisterschaft. Das Erstaunlichste an dem Werk ist seine Einheit. Das Singspiel, die »Teutsche Oper«, war von Anfang an eine bunte Mischung aus den heterogensten Ingredienzien gewesen: französische Chanson oder Romance, italienische Aria oder Cavatina, buffoneske Ensembles und – das einzige Deutsche außer der Sprache – einfache Lieder. Diese Mischung herrscht auch in der »Zauberflöte«. Die große Szene (4, »O zittre nicht, mein lieber Sohn«) und die Aria (14, »Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen«), der Königin der Nacht, für Mozarts Schwägerin Josefa Hofer geschrieben, sind Stücke im reinsten Stil der Opera seria, rührend oder voll leidenschaftlicher Kraft, mit ausschweifender Koloratur; – aber diese Koloratur charakterisiert zugleich die blinde Passion der funesten Königin. Auf der andern Seite steht als äußerster Gegensatz das Auftrittsliedchen Papagenos (2, »Der Vogelfänger bin ich ja«), das ein Gassenhauer wäre, hätte Mozart es nicht durch Witz und Instrumentation geadelt; sein Zauberliedchen mit dem Glockenspiel (20, »Ein Mädchen oder Weibchen«); oder seine burleske Selbstmord-Szene und das folgende drollige Duett (»Pa ... pa ... pa«) mit Papagena. Dazwischen stehen die Gesangsstücke Taminos, Paminas, Sarastros – Taminos »Bildnis-Aria« (3), Paminas rührende g-moll-Klage, als Tamino ihre Fragen nur durch Seufzer erwidern darf (17, »Ach, ich fühl's, es ist verschwunden«), Sarastros berühmte Belehrung (15, »In diesen heilgen Hallen«), die man Hallen-Arie getauft hat; das kleine Duett Pamina-Papageno (7, »Bei Männern, welche Liebe fühlen«), das ein Lied in zwei Strophen ist. Sind sie italienisch, sind sie deutsch?[525] Man kann nur sagen, sie sind mozartisch, in ihrer Verbindung von reinstem Ausdruck mit reinster Melodik; sie sind arios, aber nicht italienisch; sie sind einfach, aber viel zu ausdrucksreich, viel zu wenig simpel, viel zu sensitiv in jeder Wendung der Gesangsstimme, jeder Schattierung der Begleitung, um in die Kategorie des deutschen Liedes zu passen. Ähnliches gilt von den Ensembles und den beiden großen Finali in ihrem Verhältnis zur Opera buffa. Wo wäre in der Opera buffa (die Opera seria kommt hier gar nicht in Betracht) Raum gewesen für die Terzette der drei Knaben, die in ihrem transparenten Schimmer aus einem neuen Reich der Musik geholt scheinen – jenem Reich, in dem Ariel gebietet; für die Szenen der drei Damen, die zugleich so menschlich-humoristisch und so hoheitsvoll beamtenhaft sind! Vor allem aber war in der Opera buffa kein Raum für den Chor – aus dem Mozart die schönsten und feierlichsten Wirkungen seines Werkes gewinnt.
Die feierlichsten Wirkungen. Die Mischung und Verschmelzung des Heterogensten in der »Zauberflöte« ist wahrhaft unglaubwürdig. Papageno mag, mit einem Hängeschloß vor dem plauderhaften Mund, den drei Damen verzweifelte Zeichen geben, oder Monostratos, zur Pianissimo-Begleitung des Orchesters, vor der schlafenden Pamina seinen grotesken phallischen Tanz aufführen – sowie Mozart den Ton des großen Ernstes anschlägt, sind wir im eigentlichen, innersten Zauberkreis des Werkes. Der Priestermarsch, Sarastros Anrufung (10, »O Isis und Osiris«) haben in die Oper einen eigenen, neuen Klang gebracht, weit entfernt von Kirchlichkeit: man möchte ihn Weltfeierlichkeit nennen. Zwei Stücke vor allem tragen bei zu diesem neuen Klang. Im I. Akt der Beginn des Finale mit den Posaunen, gedämpften Trompeten, liegenden Stimmen der Holzbläser und lichten Stimmen des Knaben-Terzetts: der weihevollen Einführung von Taminos Dialog mit dem alten Priester. Es ist einer der Mittelpunkte des Werkes: wenn Tamino nach diesem feierlichen Dialog sich fragt:»O ew'ge Nacht! Wann wirst du schwinden?Wann wird das Licht mein Auge finden?«[526] und der unsichtbare Chor ihm trostvoll erwidert, fühlt man die Dämmerung einer besseren Menschheit. Im zweiten Akt ist es die letzte Prüfung der Liebenden, die »Feuer-und-Wasser-Probe«, für die Mozart alle musikalischen Mittel aufgewendet hat, über die er verfügte: höchste Einfachheit, höchste Meisterschaft; die Szene der Geharnischten, die er als Choralbearbeitung gestaltet hat: die Melodie des Chorals »Ach Gott vom Himmel sieh darein« eingebaut in ein feierliches Fugato; das selig-ernsthafte Duett Tamino-Pamina, das sich zum Quartett erweitert, der gedämpfte langsame Marsch der Bläser zu Taminos Flöte, der C-dur-Jubel, der das Bestehen der Prüfung begrüßt.
Es gibt zwei Wege, sich der »Zauberflöte« zu nähern. Mozart hat sie bei Zeitgenossen beide kennengelernt. In einer der ersten Wiederholungen saßen in der Nähe seiner Loge Bekannte aus Bayern: »... (Die N.N.) hatten heute eine Loge (und be) zeugte(n) über alles recht sehr ihren Beifall, aber Er, der allerfeind, zeigte so sehr den Bayern, daß ich nicht bleiben konnte, oder ich hätte ihn einen Esel heißen müssen; – Unglückseligerweise war ich eben drinnen als der zweite Ackt anfieng, folglich bei der feyerlichen Scene, er belachte alles; anfangs hatte ich Geduld, ihn auf einige Reden aufmerksam machen zu wollen, allein er belachte alles; – da ward's mir nun zu viel – ich heiß ihn Papageno, und gehe fort – ich glaube aber nicht, daß es der Dalck verstanden hat ...« Aber ein paar Tage später führt er Salieri und die Cavalieri in die Oper und »Du kannst nicht glauben, wie artig beide waren –, wie sehr ihnen nicht nur meine Musick, sondern das Buch und alles zusammen gefiel. – Sie sagten beide (:) ein Operone – würdig bey der größten festivität vor dem größten Monarchen aufzuführen ...«Ein »operone«, eine »Große Oper«. Ja, das ist unter Mozarts Händen dies Maschinenstück für ein elendes Wiener Vorstadttheater geworden. Er selber war sich natürlich genau bewußt, was er der Welt geschenkt hatte. Und der wachsende Zulauf zu den Aufführungen erfreute ihn. »... was mich aber am meisten freuet, ist der Stille beifall! – man sieht recht wie sehr und immer mehr diese Oper steigt.« Es war sein Vermächtnis an die Menschheit, sein Appell an die Ideale der Humanität.[527] Nicht der »Titus«, nicht das Requiem: sein letztes Werk ist die »Zauberflöte«. In der Ouvertüre, die nichts weniger ist als eine Singspiel-Ouvertüre, hat er den Kampf und Sieg der Menschheit zusammengedrängt mit den symbolischen Mitteln der Polyphonie: Arbeit, gefährdete Arbeit in der Durchführung; Kampf und Triumph.

Fußnoten

1 Anmerkung: Allen 17 Sonaten all'epistola fehlt die Viola, wie einem Teil der Salzburger Kirchenmusik, und wie Mozarts Tanzmusik überhaupt. Warum – diese Frage ist noch nicht geklärt. Meiner Meinung nach hat die Viola einfach eine Oktave höher mit dem Baß zu gehen. Aber die Eigentümlichkeit ist konserviert bis in Mozarts letzte Lebenszeit, in der er für den Fasching eine große Reihe zum Teil einfallreicher, naiver, festlicher Tanzmusik geschrieben hat, für doppelten Gebrauch: mit zwei Geigen und Baß allein, oder mit reichem Blasorchester. Man kann zum Beispiel ein Tanzmenuett von einem Sinfoniemenuett auf den ersten Blick unterscheiden: ein Sinfoniemenuett hat immer eine, manchmal sogar zwei Violen; in einem Tanzmenuett ist die Viola niemals notiert.
Quelle:
Einstein, Alfred: Mozart. Sein Charakter, sein Werk. Zürich, Stuttgart 31953, S. 528.
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