Der Reisende

[11] Ein großer Mensch wie Mozart ist, wie alle großen Menschen, ein erhöhtes Beispiel und Exemplar jener sonderbaren Gattung von Lebewesen, die man im allgemeinen als eine Mischung von Körper und Geist, von Tier und Gott bezeichnen kann. Je größer das Exemplar, um so deutlicher tritt der Dualismus hervor, um so auffälliger ist der Kampf zwischen den beiden Gegenkräften, um so herrlicher die Ausgleichung, um so strahlender die Harmonie, die Auflösung der Dissonanz in den Akkord. Das Göttliche in Mozart ist so rein, daß eine ganze Epoche ihn nur im Licht einer falschen Idealität hat sehen können. Wüßten wir nichts von seinem Leben, so erschiene er uns vielleicht als eine halbmythische Persönlichkeit wie Shakespeare, und die Klavierkonzerte, die vier großen Sinfonien, der »Don Giovanni« und die »Zauberflöte« gälten als Produkte einer halbanonymen Schöpferkraft wie die Dramen des Dichters aus Stratford am Avon. Sie könnten zwar wie diese »historisch« einigermaßen befriedigend erklärt werden, und würden doch über alles Historische hinausragen in eine unerklärliche Kunst-Ewigkeit. Als Künstler, als Musiker, scheint Mozart kein »Mensch dieser Welt«. Nochmals: einer gewissen Epoche des 19. Jahrhunderts, der Romantik, schien sein Werk von einer so reinen, formal so gerundeten, »göttlichen« Vollendung, daß der gewalttätigste Wortführer dieser Zeit (in seiner Schrift über Beethoven) ihn als »Licht- und Liebes-Genius« der Tonkunst bezeichnen konnte – ohne Widerspruch, denn mit dieser Anschauung befand sich Richard Wagner im vollen Einklang auch mit Gegnern seiner Kunst, mit Robert Schumann, der Mozarts g-moll-Sinfonie als ein Werk »griechisch schwebender Grazie« bezeichnete, oder mit dem ersten ernsthaften Biographen Mozarts, Otto Jahn, der alle tieferen Dissonanzen in Mozarts Leben und Werk halb unbewußt, halb geflissentlich übersah. Geflissentlich, denn ungleich Wagner und Schumann kannte Jahn den größten Teil von Mozarts Briefen. Aber diese Briefe enthüllten Mozart so sehr als »Menschen dieser Welt«, seine blutvolle, kindliche, kindische, menschlich-allzumenschliche Persönlichkeit, daß man[11] sie, zum mindesten in Deutschland, lange nie ganz vollständig zu drucken gewagt hat, daß seine Witwe oder andere wohlmeinende Leute noch in solchen aus der letzten Lebenszeit einige Stellen für immer unkenntlich gemacht haben.
Dank diesen Briefen, den lebendigsten, ungeschminktesten, wahrhaftigsten, die je von einem Musiker geschrieben worden sind, kennen wir den Men schen Mozart. Viele Tage, manche Monate, und selbst ein paar Jahre in seinem kurzen Leben – etwa die Salzburger Jahre 1775 / 1776, oder die Monate zwischen seiner Rückkehr aus Paris und dem »Idomeneo«, und das Jahr 1789 in Wien – sind in trübes Dunkel gehüllt; aber dafür wissen wir über andere Tage und Monate und Jahre seines Lebens genaueren und intimeren Bescheid als bei irgendeinem andern großen Musiker des 18. und selbst des 19. und 20. Jahrhunderts. So genauen, daß das Bild des Menschen manchmal nicht mehr mit dem des Schöpfers zusammenzustimmen scheint. In Wirklichkeit besteht eine herrliche Einheit. Der junge Mensch, der die übermütigen Briefe an die Schwester oder die unflätigen »Bäsle-Briefe« geschrieben hat, hat auch seinen höchsten Spaß gehabt an den Kanons mit den gänzlich salonunfähigen Texten; der Komponist des »Musikalischen Spaßes« besaß eine theoretische Kunstweisheit, der er einmal auch literarische Form geben wollte; der große Dramatiker ist auch ein unheimlich scharfer, unbestechlicher, grausamer Menschenbeobachter; seine Musik spricht von Geheimnissen des Herzens, deren sich auch der Mensch bewußt war. Aber es ist einigermaßen wahr, daß Mozart nur ein Gast auf dieser Erde war. Das gilt im höchsten geistigsten Sinn – und davon wird überall in diesem Buch die Rede sein –, und es gilt auch im gewöhnlichen, menschlichen Sinn. Mozart war nirgends ganz daheim. Weder ganz in Salzburg, wo er geboren, noch ganz in Wien, wo er gestorben ist. Und zwischen Salzburg und Wien liegen Reisen fast nach allen Himmelsrichtungen – Reisen, die einen guten Teil seines Lebens füllen. Für Mozart war der Antritt einer Reise niemals ein Entschluß und die Wiederkehr in die Seßhaftigkeit immer mit Bedauern oder Zwang verbunden. »Mein Herz ist völlig entzücket aus lauter Vergnügen, weil mir auf dieser reise so lustig ist, weil es so warm ist in dem[12] wagen und weil unser gutscher ein galanter kerl ist, welcher, wen es der weg ein bißchen zuläßt so geschwind fahrt«, schreibt er von einer der ersten Poststationen (Wörgl, 13. Dez. 1769) nach Hause bei der ersten Fahrt nach Italien. Wie beneidet er den jungen Gyrowetz, der 1786 nach Italien aufbricht! »Sie glücklicher Mann! ach könnte ich mit Ihnen reisen, wie froh wäre ich!« Es ist das Jahr, an dessen Ende es ihn heftig drängt, wieder nach England zu gehen; da er dem alten Vater den Vorschlag macht, seine zwei Kinder »in Versorgung zu nehmen« – was der Vater allerdings »sehr nachdrücklich« ablehnt. Das älteste Kind Mozarts war schon während des Salzburger Sommeraufenthalts von 1783 gestorben, ohne daß die Eltern es wußten, und auch diese zwei andern Kinder wären vermutlich in der Obhut des Großvaters länger geblieben, als ihm lieb gewesen wäre. Denn was bedeuten für Mozart Kinder, wenn es sich um Reisen handelt! Sie mögen sterben und verderben. Es handelt sich um das Werk. Mozarts Schaffen wird durch Reisen nicht unterbrochen, sondern angeregt. Und wenn er nicht immer so reisen kann wie er will, wie in den zehn letzten Wiener Jahren, so verlegt er wenigstens sein Domizil – das niemals ein Domizil ist – von einer Wohnung in die andre, von der Stadt in die Vorstadt, und von der Vorstadt in die Stadt. Nicht einmal Beethoven hat so oft die Wohnung gewechselt; und Beethoven wechselte sie meist aus sehr realen Gründen. Bei Mozart spielt der innere Drang mit, in eine neue Umgebung zu kommen, aus neuer Umgebung neue Anregung zu schöpfen. Die Unbehaglichkeiten des Umziehens nimmt er in Kauf; sie ersetzen ihm die Unbehaglichkeiten der Postkutsche.
Mozart hat früh begonnen zu reisen. Am 12. Januar 1762 bringt der Vater ihn, der noch nicht ganz sechs Jahre alt war, an den kurfürstlichen Hof nach München, und bis 1773 stehen seine Reisen alle unter der Regie des Vaters. Und mit diesem Vater müssen wir uns befassen – indem wir den Versuch, den Reisenden Mozart zu verstehen, mit dem »Genealogischen« vereinigen. *[13] Leopold Mozart steht in der Erinnerung der Nachwelt als der Vater seines Sohnes. Ohne das Verhältnis zu Wolfgang Amadeus wäre sein Name nicht bedeutsamer als der von hundert andern wackeren Musikern des 18. Jahrhunderts, die an einem der vielen kleinen – weltlichen oder geistlichen – Fürstenhöfe Süddeutschlands ihr bescheidenes Ziel erreichten – und Leopold innerhalb seines engen Kreises nicht einmal das höchste, denn er wurde nie erster Kapellmeister.
Aber Leopold Mozart ist nun einmal der Vater seines Sohnes; als Vater eines solchen Genius hat er seine Aufgabe begriffen, und der Sohn hätte ohne ihn, im Gehorchen und Widerstreben, niemals den Charakter und die Größe erreicht, die er erreicht hat. Leopold steht im Lichtkreis des Sohnes, ohne den er im Dunkel stände. Aber da steht er: nicht immer ganz sympathisch, oft sehr fragwürdig, im Licht und im Schatten, rund und plastisch. Und nicht sein Talent, aber sein Ehrgeiz, sein Wollen, seine Energie heben ihn doch weit hinaus über viele Zeitgenossen. Er war kein bloßer »Musikant«. Das literarische Zeugnis, das er hinterlassen hat, seine Violinschule von 1756, sichert ihm einen kleinen Platz in jeder Geschichte der Instrumentalmusik, unter allen Umständen. Auch ohne den unsterblichen Sohn wäre Leopold Mozart immer der achtungswerte Verfasser des »Versuchs einer gründlichen Violinschule«, geschrieben zur selben Zeit, da er Wolfgang Amadeus zeugte. Eine kleine Autobiographie hat Leopold im ersten Lebensjahr seines Sohnes für F.W. Marpurgs »Historisch-Kritische Beyträge zur Aufnahme der Musik« geschrieben, die eine »Nachricht von dem gegenwärtigen Zustande der Musik Sr. Hochfürstlichen Gnaden des Erzbischoffs zu Salzburg im Jahr 1757« enthalten. Sie gibt einen Abriß des Lebens und Schaffens des 38jährigen und lautet: »Hr. Leopold Mozart aus der Reichsstadt Augspurg. Ist Violinist und Anführer des Orchesters. Er componirt für die Kirche und für die Kammer. Er ist den 14ten Wintermonat (Nov.) 1719 geboren, und trat bald nach abgelegten Studien der Weltweisheit und Rechtsgelahrtheit im Jahre 1743 in die Hochfürstl. Dienste. Er hat sich in allen Arten der Composition bekannt gemacht, doch aber keine Musik in den Druck gegeben, und nur[14] im Jahre 1740 6 Sonaten à 3 selbst in Kupfer radieret; meistens nur um eine Übung in der Radierkunst zu machen. Im Heumonate 1756 gab er seine Violinschule heraus.«
»Von des Hrn. Mozart's in Handschriften bekannt gewordnen Compositionen sind hauptsächlich viele contrapunctische und andre Kirchensachen zu merken; ferner eine große. Anzahl von Sinfonien, teils nur à 4 teils aber mit allen nur immer gewöhnlichen Instrumenten; ingleichen über dreißig große Serenaten, darinnen für verschiedne Instrumente Solos angebracht sind. Er hat außerdem viele Concerte, sonderlich für die Flötraversiere, Oboe, das Fagott, Waldhorn, die Trompete etc., unzählige Trios und Divertimenti für unterschiedliche Instrumente; auch zwölf Oratorien und eine Menge von theatralischen Sachen, sogar Pantomimen, und besonders gewisse Gelegenheits-Musiken verfertiget, als: eine Soldatenmusik mit Trompeten, Pauken, Trommeln und Pfeifen, nebst den gewöhnlichen Instrumenten; eine türkische Musik; eine Musik mit einem stählernen Clavier; und endlich eine Schlittenfahrtsmusik mit fünf Schlittengeläut; von Märschen, sogenannten Nachtstücken, und vielen hundert Menuetten, Operntänzen, und dergleichen Stücken nicht zu reden.« Wir können diese Angaben einigermaßen ergänzen. Leopold war der älteste von sechs Söhnen des Augsburger Buchbindermeisters Johann Georg Mozart, dessen Vorfahren nach der Vatersseite bis ins 17. und vielleicht bis ins 16. Jahrhundert zurück verfolgt werden können; der Name, heute ein Symbol der Grazie, nimmt manchmal rauhere Form an, etwa Motzert; und rauh – Handwerker, Bauern – waren vermutlich seine Träger. Auch Leopolds Mutter, Anna Maria Sulzer, die zweite Frau des Buchbinders, war eine geborne Augsburgerin; sie überlebte ihren Mann, der 57jährig am 19. Februar 1736 starb, um mehr als dreißig Jahre und scheint in behaglichen Verhältnissen gelebt zu haben, denn gerade um die Zeit der Entstehung der Violinschule war Leopold eifrig dahinter her, neben seinen vielen Geschwistern als Miterbe nicht zu kurz zu kommen – jedes von ihnen hatte a conto der Hinterlassenschaft damals bereits 300 Gulden im voraus empfangen. Unter diesen Geschwistern muß er sich durch geistige Regsamkeit[15] ausgezeichnet haben, denn er wurde nicht Handwerker wie seine Brüder Joseph Ignaz und Franz Alois, beide ehrsame Buchbinder. Sein Pate, der Kanonikus Johann Georg Grabher, bringt ihn unter als Diskantisten im Chor der Kirche zum Heiligen Kreuz und St. Ulrich, und aus einem Kirchensänger kann gar leicht ein geistlicher Herr werden. Er lernt nicht nur singen, sondern auch Orgel schlagen; 1777 macht der Sohn in München die Bekanntschaft mit einem einstigen Mitschüler Leopolds, der sich des temperamentvollen Orgelspiels des jungen Musikers im Kloster Wessobrunn noch deutlich erinnert. Nach dem Tod des Vaters schickt man Leopold nach Salzburg und unterstützt ihn mit Geld, in der Meinung, diese Unterstützung werde zum Studium der Theologie verwendet werden. Aber Leopold ist schon damals ein kleiner Diplomat, er hegt heimlich ganz andre Pläne und »foppt die Pfaffen herum wegen dem Geistlich werden«. Er studiert nach zwei Jahren an der Salzburger Universität durchaus nicht mehr Theologie, sondern »Logik« und, wie er behauptet, auch Jurisprudenz. Infolgedessen blieben vermutlich die pekuniären Nachhilfen aus Augsburg aus. Leopold sieht sich genötigt, seine Studien abzubrechen und tritt als Kammerdiener in den Dienst des Präsidenten des Salzburger Domkapitels, des Grafen Johann Baptist Thurn, Valsassina und Taxis (ein Adelsgeschlecht, weltbekannt als das der Postmeister des Heiligen Römischen Reichs).
Dies ist ungefähr alles, was wir aus den ersten zwanzig Jahren seines Lebens wissen. Wer seine Lehrer im Orgelspiel und in der Komposition waren, bleibt dunkel; eher läßt sich rekonstruieren, was er auf den Augsburger Domchören gesungen hat. Es waren die konzertanten Kirchenwerke süddeutscher und italienischer Meister – ihr glänzendster und einflußreichster Repräsentant der Kaiserliche Kapellmeister J.J. Fux. Was ihm persönlich die Freie Reichsstadt Augsburg mitgab, die Katholiken und Protestanten in ihren Mauern vereinigte, war vielleicht eine gewisse Toleranz, oder sagen wir besser: eine kritische Haltung gegen alles Pfaffentum, die ihn vom geistlichen Beruf abhielt; war ferner ein solider, etwas provinzialer Geschmack in der Kirchenmusik und ein süddeutsch-der ber in der weltlichen. Dieser süddeutsche Geschmack dokumentiert sich am[16] deutlichsten in des Pater Valentin Rathgebers »Augsburger Tafel-Confect«, einer umfangreichen Sammlung – vier Hefte – von volkstümlichen, bäurischen, bürgerlichen Liedern, Chören, Quodlibets, Instrumentalstücken, alle erschienen (1733–46) bei Leopolds Augsburger Verleger Lotter, alle voll von bajuvarisch-schwäbischem, breitem, behaglichem, auch grobem Humor. In der Familie Mozart haben diese Stücke eine große Rolle gespielt, und ohne sie sind weder Leopolds »Schlittenfahrt« und »Bauernhochzeit« denkbar noch Wolfgangs jugendliches »Gallimathias Musicum«. Leopold hat von seinen Augsburger Landsleuten wenig gehalten, und Wolfgang noch viel weniger; aber diese süddeutsche Erbschaft steckte ihnen im Blut.
Dunkel ist, was Leopold nach Salzburg geführt hat, wohin von Augsburg der Weg über ein Kulturzentrum wie München ging. Ingolstadt, die Kurbayrische Universität, lag den Augsburgern viel näher und hätte für eine streng orthodoxe Ausbildung des jungen Theologen die gleiche Gewähr geboten wie Salzburg. Vielleicht haben die Domherren zu St. Ulrich Leopold Mozart nach Salzburg empfohlen, denn St. Ulrich war eins der Benediktinerklöster, die einst zur Stiftung der Salzburger Universität beigetragen hatten, und von den vierzig Augsburger Domherren waren einige (Dietrichstein, Waldstein) immer auch Domherren zu Salzburg. Wie dem auch sei; das Schicksal führt Leopold an die Salzach, was für Leopold wie für Salzburg einige Folgen gehabt hat. Sein Studium der »Logica« ist auf sein Denken nicht ohne eingreifende Wirkung geblieben, gute und fatale. Er wird ein »gebildeter« Musiker, der sich nicht nur Gedanken macht über Welt und Menschen, sondern auch über die Regeln seiner Kunst; der sich interessiert für Rubenssche Bilder, für Literatur und für die kleine und große Politik der kleinen und großen Potentaten seiner Zeit; der leidlich Latein versteht und seine Muttersprache zu handhaben weiß – und zwar ganz außerordentlich geschickt und lebendig zu handhaben, mit vielen derben und volkstümlichen süddeutschen Wendungen, die seinem Stil einen besonderen Reiz verleihen. Wer je eine seiner brieflichen Reisebeschreibungen aus Paris oder London oder einer seiner Briefe an den Sohn nach Mannheim gelesen hat, der wird inne, mit welcher Lebhaftigkeit und[17] Eindruckskraft Leopold Mozart die Feder zu führen wußte. Wenn er seine Gefühle am Morgen der Abfahrt von Frau und Sohn nach Paris beschreibt, einem verhängnisvollen Augenblick, denn er sollte seine Frau nicht wiedersehen, erhebt sich die Wahrheit und Realistik der Schilderung ins unbewußt Dichterische (25. Sept. 1777):
»Nachdem ihr abgereist, gieng ich sehr math über die Stiege, und warf mich auf einen Seßl nieder. Ich habe mir alle Mühe gegeben mich bey unserer Beuhrlaubung zurück zu halten, um unsern Abschied nicht schmerzlicher zu machen, und in diesem daummel vergaß ich meinem Sohn den vätterlichen Seegen zu geben. Ich lief zum fenster und gab ihn solchen euch beyden nach, sahe euch aber nicht beym Thor hinausfahren, und wir mußten glauben, ihr wäret schon vorbey, weil ich vorher lange da saß ohne auf etwas zu denken. Die Nannerl weinte ganz erstaunlich und ich mußte mir alle Mühe geben sie zu trösten. Sie klagte Kopfwehe und grausen im Magen, endlich kam ihr ein Erbrechen und sie spieb dapfer, band ihr den kopf ein, legte sich ins beth und ließ die fenster Läden zu machen, der betrübte Pimps lag zu ihr. Ich gieng in mein Zimmer, bath mein Morgengebeth, legte mich um halbe 9 uhr aufs beth, laß in einem Buch, beruhigte mich und schlummerte ein. Der Hund kam, ich war wache, er zeigte mir, daß ich mit ihm gehen sollte, aus diesem verstund ich, daß es nicht weit von 12 uhr sein müsse und er hinab wollte. Ich stand auf, nahm meinen Belz, fand die Nannerl in tiefem schlaf und sahe auf der uhr, daß es halbe 1 uhr war. Da ich mit dem Hund zurückkam, weckte ich die Nannerl, und dann ließ ich das Essen bringen. Die Nannerl hatte gar keinen Appetit; sie aß nichts, legte sich nach Tische ins Bett, und ich bracht, nachdem herr Bullinger weg war, meine zeit mit bethen und lesen auch auf dem Bette zu. Den Abend war die Nannerl gesund und hungerig, wir spielten Biquet, dann aßen wir in meinem Zimmer, und machten nach dem Nachtessen noch ein paar spiel, dann giengen wir in gottes nahmen schlafen. So vergieng dieser traurige Tag, den ich in meinem Leben nicht zu erleben glaubte.« Es verschlägt nichts, daß Leopold, der Diplomat, mit dieser simplen Schilderung auch einigen Eindruck auf den Sohn zu[18] machen wünschte, der seinerseits in bester Stimmung war (23. Sept. 1777): »es wird noch alles gut gehen, ich hoffe der Papa wird wohl auf seyn, und so vergnügt wie ich ...«
Diese geistige Überlegenheit, im Lauf der großen Reisen mit der Familie oder dem Sohn noch gesteigert durch Weitläufigkeit und Erfahrung, war für Leopold allerdings auch ein Danaergeschenk. Denn sie hat ihn mit dem Gefühl der Überlegenheit über seine Kollegenschaft erfüllt und ihn kritisch gemacht gegen seine Vorgesetzten; sie hat ihn beruflich isoliert und sehr zu seiner Unbeliebtheit beigetragen. Sein »diplomatischer Sinn« läßt ihn hinter den Reden und Handlungen seiner Mitmenschen häufig noch mehr an verborgener Schlechtigkeit vermuten als vorhanden war, und verleitet ihn nicht nur zu scharfsinnigen Beobachtungen, sondern auch zu entscheidenden Fehlern. Aber wer wollte ihm Unrecht geben, wenn er, in einem Brief an Wolfgang (18. Okt. 1777), der Meinung und Mahnung Ausdruck gibt: »Ich bitte Dich, halte Dich an gott, der muß es thun, denn die Menschen sind alle Böswichter! ie älter Du wirst, ie mehr Du Umgang mit den Menschen haben wirst, ie mehr wirst Du diese traurige Wahrheit erfahren.« Hat Leopold den »Principe« Macchiavellis gelesen? »Perchè degli uomini si può dir questo generalmente, che sieno ingrati, volubili, simulatori, fuggitori de' pericoli, cupidi di guadagno e mentre fai lor bene, sono tutti tuoi, ti offeriscono il sangue, la roba, la vita, ed i figli, ... quando il bisogno è discosto; ma quando ti si appressa, si rivoltano.« »Denn von den Menschen kann man dieses im Allgemeinen sagen, daß sie undankbar, wankelmütig, Heuchler, vor Gefahren feige, gewinnsüchtig sind, und solange Du ihnen Gutes tust, sind sie ganz Dein eigen und bieten Dir Blut und Eigentum und Leben und Kinder an, ... wenn Dein Bedürfnis in weiter Ferne steht; aber wenn es sich Dir nähert, kehren sie den Rücken.« Dieser Hypochondrie hält die Waage seine zärtliche Liebe zu seiner Familie, seine Vorsorge in allen Angelegenheiten des täglichen Lebens, die sich am glänzendsten bewährte auf Reisen – es war um 1760 ein geradezu abenteuerliches Unternehmen, mit einer Frau und zwei zarten Kindern durch ganz Europa zu fahren, als Reisemarschall und Impresario in einer Person. Dazu[19] kommt seine Rechtschaffenheit in allen Dingen des bürgerlichen und beruflichen Lebens. Ja, die »Collegen« sind Handwerker und Trunkenbolde; der erzbischöfliche Brotherr ist nicht bloß der Brotherr, sondern auch der feindliche Tyrann, den man wohl ein wenig hinters Licht führen kann. (Leider ist er nicht geneigt, sich hinters Licht führen zu lassen.) Mit allen Schwächen Leopolds versöhnt jedoch die Bitterkeit und Tragik seines Geschicks, die er tief empfunden hat. Er sieht in seinem Sohn die Sonne und den Glanz seines Lebens, er glaubt, wenn Wolfgang nur unter seiner Leitung bleiben wolle, werde er den Gipfel auch menschlichen Erfolgs erreichen. Er muß erfahren, wie der Sohn ihm entgleitet; und er stirbt als ein einsamer Mann, dem nichts geblieben ist als der Briefwechsel mit seiner Tochter und die Freude an einem Enkelchen, dessen erste scheinbare musikalische Regungen er mit Entzücken beobachtet, auf den aber dann auch nicht der leiseste Schimmer solchen Familienglanzes übergegangen ist.
Doch wir haben vorgegriffen und fahren weiter fort in der Charakteristik Leopolds. Der Dienst als Kammerdiener bei dem Kapitular-Kanonikus Graf Thurn und Taxis war offenbar nur ein Weg oder Umweg, Leopold Mozart endgültig der Musik zuzuführen. 1740 widmet er seinem Patron sein erstes Werk, sechs Kirchen- und Kammersonaten für zwei Violinen und Baß, deren Notenteil er selber gestochen hat, und nennt in der Dedikation den Prälaten im barocken Stil seine »väterliche Sonne, deren wohltätige Einflüsse ihn mit einem Male aus dem harten Dunkel all seiner Not gezogen und auf die Bahn all seiner glücklichen Umstände gebracht hätten«. Eine dieser Sonaten ist neu gedruckt (Denkmäler der Tonkunst in Bayern IX, 2; ed. M. Seiffert); sie zeigt eine merkwürdige Mischung von altväterischer Steifheit und von ein paar freieren Zügen von »Galanterie« – Leopolds Entwicklung als Musiker fiel in die schwierigen Jahrzehnte, in denen die Elegik und der Adel des altklassischen Stils –, verkörpert etwa in Corelli, Bach, Händel, Vivaldi – sich gleichsam verhärtet und versteift und der neue, vom Geist der Opera buffa beseelte »galante« Stil einzudringen beginnt. Es ist Leopold nie gelungen, den vollen Ausgleich zwischen beiden Strömungen zu finden.[20] Das hindert ihn nicht, sich sofort in den vollen Strom des Salzburger musikalischen Lebens zu stürzen. Es war erfüllt von rauschender Musik im Dom und in den zahlreichen andern Kirchen der geistlichen Residenz; von instrumentaler Musik für die Kammer der Prälaten und Adeligen des Hofstaates; von Schauspielmusik für die dramatischen Vorführungen der Schulen und der Universität; von Musik für das Oratorium und gelegentlich selbst für die Oper. Daß das alles sehr provinzial war, merkt Leopold erst nach seinen Reisen; nach 1762. So schreibt er gleich für die Fastenzeit 1741 eine oratorienhafte »Cantata« »Christus begraben« für drei Stimmen mit Rezitativen, Arien, einem Duett und Schlußchor (der Text ist erhalten); 1742 für die kleinere Aula der Universität die Musik zu einem Schuldrama »Antiquitas personata«, antikisch, aber mit erbaulicher Moral; 1743 wieder eine neue Passions-Cantata, »Christus verurtheilt«, diesmal für vier Singstimmen und Chor.
Solche Arbeiten ebnen ihm den Weg in die erzbischöfliche Hofkapelle. Noch 1743 wird er Violinist im Orchester, 1744 überträgt man ihm – Beweis für sein frühentwickeltes pädagogisches Talent – den Unterricht der Kapellknaben im Geigenspiel, und ernennt ihn dann zum Hofkomponisten. Er kann an Gründung eines Hausstandes denken. Er muß schon bald in Salzburg bekannt geworden sein mit Anna Maria Pertl, Tochter des Pflegekommissars am Stift von St. Gilgen am Wolfgangsee, denn später (21. Nov. 1772) schreibt er ihr aus Mailand nach Hause: »Es wird, wie glaube, 25 Jahre seyn, daß wir den guten Gedanken hatten uns zu verheyrathen. Diesen Gedanken hatten wir zwar viele Jahre zuvor. Gute Dinge brauchen Zeit!« Die Bemerkung in ihrer Trockenheit und Liebenswürdigkeit charakterisiert den Mann und die Frau, in deren Ehegemeinschaft es sicherlich nie eine Trübung gegeben hat. Anna Maria Mozart, ein Jahr jünger als ihr Gatte (geb. 25. Dezember 1720 in Schloß Hüttenstein bei St. Gilgen), früh Waise geworden, hat die Überlegenheit Leopolds immer anerkannt. Sie war eine gute, beschränkte Frau, sicherlich eine glänzende Hausmutter, empfänglich für allen Salzburger Klatsch, für alle Ereignisse und Menschen der kleinen Residenz, die von ihr ebenso freundlich beurteilt wurden wie von ihrem Gatten kritisch und sarkastisch.[21] Von ihr hat Wolfgang, der sie zärtlich liebte und nicht den mindesten Respekt vor ihr hatte, all seine naiven, lustigen, kindischen Züge geerbt – alles, was als »Salzburgerisch« in seinem Charakter anzusprechen ist. Denn die Salzburger erfreuten sich damals im ganzen Reich keines sonderlichen Rufes in puncto Ernsthaftigkeit, Klugheit, Vernünftigkeit; sie galten im Gegenteil als höchst ergeben allen leiblichen Genüssen und höchst abgeneigt allen geistigen; sie verkörperten alle Eigenschaften, die man in der süddeutschen Hanswurst-Komödie dem komischen Protagonisten dieser Stücke zuschreibt. »Casperl Larifari« ist ein Salzburger. Er ist allerdings auch ein wenig Münchner, auch ein wenig Wiener, auch ein wenig lombardisch oder venezianisch. Im Triangelnetz dieser Städte lag Salzburg im Mittelpunkt. Wolfgang wußte um diese Eigenheiten der Salzburger genau Bescheid; er haßte sie und teilte sie, zum Spaß, ein bißchen.
Leopold und Maria Anna bekamen in ihrer Ehe sieben Kinder, von denen fünf im zartesten Alter starben und, wie später in Wolfgangs eigener Ehe, nur zwei am Leben blieben: das vierte, Maria Anna Walpurga Ignatia, das »Nannerl«, geboren 30. Juli 1751, und das siebente und letzte, Wolfgang Amadeus, geboren 27. Januar 1756. Die ersten Regungen der musikalischen Begabung seines Sohnes haben das Leben und die Gedankenrichtung Leopolds von Grund aus verändert. Von jetzt an lebt und denkt er nur noch in Beziehung zu Wolfgang Amadeus. Bis 1762 war sein Ehrgeiz, in der Hofkapelle an die erste Stelle zu rücken, gedämpft worden durch seinen Vorgesetzten, den Kapellmeister Johann Ernst Eberlin, der als schöpferischer Musiker ihn weit überragte und den er selber als Muster »eines gründlichen und fertigen Meisters«, als Beispiel einer wunderbaren Fruchtbarkeit und Leichtigkeit der Produktion anerkannte. Aber als Eberlin 1762 starb, befand sich Leopold schon auf einer jener Kunstreisen mit seinen Kindern, die er als moralische Verpflichtung und als pekuniäre Spekulation – die Verteilung von »Verpflichtung« und »Spekulation« ist nicht ganz leicht abzuwägen – der Erfüllung seiner Salzburger Amtspflichten bei weitem vorzog. Mit einiger Mühe, und nicht ohne versteckte Drohungen,[22] er werde Salzburg ganz den Rücken kehren, erlangt er (28. Febr. 1763) die Vizekapellmeisterstelle, indes Gius. Franc. Lolli, ein sehr unbedeutender Musiker, bisher Vize-Kapellmeister unter Eberlin, dessen Nachfolger wurde.
Über diesen Rang hat Leopold es nie hinausgebracht. 1772 starb der Erzbischof Sigismund von Schrattenbach, der achtzehn Jahre lang in leidlich patriarchalischem Geist regiert hatte und der Familie Mozart wohlwollte. Sein Nachfolger Hieronymus Colloredo, Sohn des Wiener Reichsvizekanzlers unter Franz I., erst vierzig Jahre alt, Verehrer Rousseaus und Voltaires, erfüllt von den Reformideen Kaiser Josephs, den Salzburgern verhaßt, war so sehr viel weniger geneigt, die Seitensprünge seines Vizekapellmeisters Leopold Mozart und seines Konzertmeisters und Hoforganisten Wolfgang Amadeus ohne weiteres hinzunehmen, daß der Konflikt zwischen Autorität und Genius unvermeidlich wurde. Dieser Konflikt hat Weltberühmtheit und historische Bedeutung erlangt, und auch in diesem Falle schwankt die Waagschale der Gerechtigkeit – die Schuld liegt durchaus nicht ganz auf Seiten der Autorität und des Erzbischofs. Jedenfalls: Leopold wird immer wieder zurückgesetzt. Seit 1773 hat er sogar zwei Vorgesetzte: Lolli und Domenico Fischietti; seit 1773 Fischietti und Jacob Rust. Als Rust Salzburg verließ, hätte Leopold Kapellmeister werden müssen, und er gewinnt es über seinen Stolz, August 1778, sich seinem Brotherrn »untertänigst zu Füßen zu legen« und in Erinnerung zu rufen, daß er »bereits 38 Jahre dem Hohen Erzstift diene, und seit dem Jahre 1763 als Vice-Capellmeister in die 15 Jahre die meisten und fast alle Dienste unklagbar verrichtet habe und noch verrichte«. Die Demütigung ist umsonst. Der Erzbischof gewährt zwar Leopold eine Remuneration, aber nicht die Ernennung; und 1783 folgt auf Fischietti ein anderer Italiener, Lodovico Gatti: Leopold stirbt als Vizekapellmeister. Mit der »unklagbaren Verrichtung fast aller Dinge«, dem »unklagbaren Dienst«, steht es auch etwas bedenklich. Denn wenn man die Zeitdauer aller Reisen zusammenrechnet, die Leopold Mozart mit seiner Familie oder mit dem Sohn allein vom 12. Januar 1762 bis zum 13. März 1773 gemacht hat, so kommen wohl an die sieben Jahre Abwesenheit von Salzburg[23] zusammen; und der Erzbischof war nicht im Unrecht, wenn er diese Reisen nur unter Einziehung von Leopolds Gehalt gestattete – es war generös genug, daß er ihm immer wieder den Eintritt in die Kapelle offenhielt. Und man fühlte in Salzburg bald, daß Leopold von solchen Reisen, die seinen Horizont gewaltig erweiterten, als ein anderer in die provinzielle Heimat zurückkehrte. Er wird noch kritischer als vorher gegen Verhältnisse und Kollegen; er versieht seinen Dienst noch weniger mit vollem Herzen. Die Hauptsache ist und bleibt ihm die Entwicklung des Sohnes. Wolfgang hat die Stellung des Vaters gut charakterisiert, wenn er (4. Sept. 1776) an Padre Martini in Bologna schreibt: »per altro essendo il mio padre già 36 anni in servizio di questa Corte, e sapendo, che questo Arcivescovo non può e non vuol vedere gente avanzata in Età, non lo se ne prende à Core, si è messo alla Letteratura per altro già suo studio favorito ...«
In Wahrheit befaßt Leopold sich nicht mit Literatur, sondern nur mit seinem Sohn. Auch in den Jahren der fast völligen Entfremdung, seit 1782, steht Wolfgang noch im Mittelpunkt seiner Gedanken und Gefühle, auch wenn er in den Briefen an die Tochter ihn nur noch »dein Bruder« nennt, auch wenn der Briefwechsel immer stockender wird und manchmal von Seiten des Vaters derbe und unliebenswürdige Formen annimmt. Die letzte große Freude Leopolds ist der Aufenthalt in Wien im Februar, März und April 1785, während dessen er Zeuge wird des zur Reife gediehenen Genies und der äußeren Erfolge seines Sohnes. Und der Höhepunkt seines Lebens war vielleicht jener Samstagabend des Februars, da zum ersten Male Mozarts drei Streichquartette K. Nr. 428, 464 und 465 gespielt wurden, und Haydn, dem sie dediziert waren, zu Leopold sagte: »Ich sage Ihnen vor Gott, als ein ehrlicher Mann, Ihr Sohn ist der größte Komponist, den ich von Person und dem Namen nach kenne; er hat Geschmack und überdies die größte Kompositionswissenschaft.« Was für ein Wort aus dem Munde des einzigen großen Musikers, der damals imstande war, der Größe Mozarts gerecht zu werden! Genie und Kunst vereinigt, »Galant« und »Gelehrt« – die beiden Extreme, in die damals die Musik auseinanderzubrechen drohte – wieder verschmolzen! Wir werden,[24] in einem späteren Kapitel, sehen, daß es das tiefste Wort war, das über Mozart gesagt werden konnte. Leopold hat es vielleicht, im historischen Sinn, nicht ganz verstanden, aber es krönte seine ganze Erziehungsarbeit und rechtfertigte sein Dasein.
Leopold war kritisch gestimmt gegen Salzburg; Wolfgang hat sich über seine Vaterstadt früh lustig gemacht, und sie späterhin, genauer seit 1772, aus tiefster Seele gehaßt. Nun ist es schwer, Salzburg zu hassen, wenn man an die Baulichkeiten dieser Stadt und an ihre Lage in der Landschaft denkt: an den majestätisch-jubilierenden Dom und die würdevolle Residenz, an das vorherrschende heitere, kulissenhafte Barock der Architektur, das dazu verlockt, es als szenischen, theatralischen Hintergrund zu benutzen; an seine Gärten mit dem südlichen Anhauch, an den glitzernden Fluß, der aus dem Gebirge rasch und hell in die bayrische Hochebene hinausströmt, zwischen Kapuzinerberg und der Feste Hohensalzburg, die, nicht allzu drohend, Stadt und Landschaft glorios beherrscht; in weitem Umkreis die ewigen Berge, Wiesen, Wälder, Fels und Schnee; über allem ein Himmel, der Sehnsucht nach Italien und Erinnerung an Italien zugleich ist. Es hat nicht gefehlt an Vergleichen von Mozarts Musik mit dieser Landschaft, oder umgekehrt, und es fällt durchaus nicht schwer, Mozarts Melodie, seinen Sinn für Form, die tiefe und ernste Harmonie seiner Werke in Beziehung zu bringen zu dieser szenischen Lieblichkeit, die auf dunklem Hintergrund doppelt lieblich erscheint. Aber man kann sich des Gedankens nicht erwehren, daß, wäre Mozart in Augsburg, München, Bozen oder Würzburg geboren, ähnliche Beziehungen mit gleicher Leichtigkeit herzustellen wären. Wahrscheinlich ist, daß Mozart diese Schönheit gar nicht gesehen hat und daß sie auf ihn nicht einmal unbewußt eingewirkt hat. Weder die Stadt noch die Landschaft erweckten in ihm heimatliche Gefühle. Für ihn war Salzburg, seit seinem sechzehnten Jahr, lediglich der Ort, in dessen erzbischöflichem Palais ein übelwollender Brotherr residierte und wo etwa zehntausend provinzielle, kleinstädtische Miteinwohner lebten. Er sieht hinter aller lachenden Szenerie die Bäurischkeit und den Schmutz, die immer vorhanden waren und auch heut' noch bemerkbar sind. Er war kein Jäger und Fischer wie Haydn und[25] kein Spaziergänger oder Spazierläufer wie Beethoven, und er hätte weder die »Tageszeiten« Sinfonien oder die »Jahreszeiten« noch eine Pastoralsinfonie schreiben können. Er reist in einer streng verschlossenen Kutsche, und die Aussicht durch die winzigen Fenster interessiert ihn wenig. Friedrich Rochlitz berichtet, angeblich nach den Mitteilungen Konstanzes: »Wenn Mozart mit seiner Frau durch schöne Gegenden reiste, sah er aufmerksam und stumm in die ihn umgebende Welt hinaus, sein gewöhnlich mehr in sich gezogenes und düsteres, als munteres und freies Gesicht heiterte sich nach und nach auf, dann fing er an zu singen oder vielmehr zu brummen ...« Aber das ist ebenso wohlmeinender und unverschämter Schwindel wie die übrigen von diesem schöngeistigen Leipziger Schwätzer nach Mozarts Tod in Umlauf gesetzten Anekdoten. Denn wann ist Mozart mit Constanze »durch schöne Gegenden« gefahren? Ich wüßte nur die Reise von Wien nach Salzburg im Sommer 1783 und die beiden Reisen nach Prag von 1787 und 1791. Und während dieser beiden Reisen war Mozart angestrengt tätig. Mozart komponiert und »spekuliert« im Wagen. Seine Musik bedarf nicht der Anregung von außen, durch Bilder; sie ist beschlossen in sich selbst; sie folgt ihren eigenen, himmlischen, astralen Gesetzen und wird nicht beeinflußt von einem realen, heiteren oder bedeckten Himmel.
Seine erste Reise hat Mozart, wie erwähnt, er war kaum sechs Jahre alt, nach München angetreten, an den Hof des Kurfürsten Maximilian III. – eine Reise, an die er vermutlich keine Erinnerung bewahrt hat. Aber er war aus einem kleinen Virtuosen bereits ein kleiner Komponist geworden, als er mit Schwester, Vater und Mutter etwas über ein halbes Jahr später, im Herbst 1762, nach Wien kam und in den Palais des Adels und am kaiserlichen Hof Proben seiner musikalischen Frühreife gab. Man kam an am 6. Oktober; am Abend vorher hatte die erste Aufführung von Glucks »Orpheus und Euridice« stattgefunden; und es ist nicht unwahrscheinlich, daß Mozart eine der Wiederholungen gesehen und gehört hat, bei aller Wunderkindschaft ohne die Reife, die zum Verständnis des antikisierenden Werks gehört. Ein andres, sehr wirksames Beförderungsmittel der Reife befällt ihn in Wien: schwere Krankheit, der[26] verhängnisvolle Scharlach, der vielleicht der Anfang seines frühen Endes war. Nach der Genesung geht es zu siebenwöchigem Aufenthalt nach Preßburg, und so hat oder hätte Mozart auch ein Stückchen Ungarn kennengelernt, ohne daß ihn das zu weiteren Fahrten nach dem Südosten verlockt hätte. Es interessieren ihn nur Gegenden oder Zentren, wo es Musik gibt, kultivierte Musik, nicht etwa Volksmusik, die gerade uns heute so sehr interessiert. Er zieht seine Anregung nicht aus dem Urtümlichen, Volksmäßigen, sondern aus dem bereits Geformten. Zur Volksmusik hat er noch ein wenig das Verhältnis der Renaissance, die in allen Äußerungen des Volks, auch den musikalischen, etwas Komisches sah, etwas nur der Parodie Zugängliches – der ernsten oder komischen Parodie – wenn es in diesem Punkt auch einige Ausnahmen gibt.
Am 9. Juni 1763 tritt die Familie Mozart die große Reise nach Frankreich und England an, von der sie erst am 30. November 1766 zurückkehren sollte und auf der sie nicht nur eine Reihe süd- und westdeutscher Städte berührte: München und Ludwigsburg, Schwetzingen und Frankfurt, sondern auch das katholische Belgien und das reformierte Holland, das südöstliche Frankreich, die Schweiz und die väterliche Heimat- und Reichsstadt Augsburg. Der literarische Spiegel dieser langen Exkursion sind die oben erwähnten Briefe Leopolds an den Salzburger Freund, Hausherrn und finanziellen Vertrauten Lorenz Hagenauer. Diese Briefe sind bisher nur teilweise, nur so weit veröffentlicht, als sie sich mit Wolfgang und den persönlichen und musikalischen Erlebnissen der Familie befassen; aber wer sie ganz kennt, erstaunt immer von neuem über die vielfachen Interessen Leopolds, seine Beobachtungsgabe, seinen Scharfblick für Menschen und Verhältnisse, nur getrübt, wenn es sich um die Abmessung des Erfolgs der beiden Kinder handelt. Auch für den besonderen Charakter von Städten und Landschaften hat Leopold gelegentlich einen Blick, wenn auch nur eine Beurteilung, die nie über die Beschränktheiten seiner Zeit hinausgeht. Er führt, gleich beim ersten Besuch in Wien, den kleinen Wolfgang in die Josefstadt und zur Karlskirche, die ihm zweifellos imponiert hat, denn das war Geist vom architektonischen Geiste Salzburgs. Aber man sehe seine Beschreibung Ulms[27] (11. Juli 1763): »Ulm ist ein abscheulicher, altvätterischer, und ... abgeschmackt gebauter Ort ... Stellen Sie sich nur Häuser vor, wo Sie von außen das ganze Stock- und alles Holzwerk, so wie es angelegt ist, sehen müssen, und wenn es hoch kommt, solches mit einer Farbe überstrichen, das Mauerwerk aber schön weiß, oder jeder Ziegel, so wie er liegt, natürlich angemalt ist, damit die Mauer und das Holzwerk desto deutlicher gesehen wird. Und so sehen Westerstetten, Geislingen, ... Göppingen, Plochingen und vieles von Stuttgart aus ...« Dagegen gefällt ihm – und auch Frau Mozart – die liebliche Gegend am Neckar: »Doch kann ich nicht umhin seyn Ihnen zu sagen, daß Wirtemberg das schönste Land ist: von Geislingen an bis Ludwigsburg sieht man nichts als rechts und Lincks zu gleicher zeit Wasser, Wälder, Felder, Wiesen, Gärten und Weinberge, und dieß zugleich und auf das schönste vermischet.« Er vergleicht Heidelberg mit Salzburg, was freilich nur einigermaßen gelten kann für das Verhältnis von Stadt und Burg, oder Feste und Stadt und Fluß, nicht aber für die weitere Landschaft. Leopold hat Sinn für Schlösser, Kuriositäten, Bilder – die Kreuzabnahme von Rubens in der Kathedrale von Antwerpen versetzt ihn in ungewöhnliche Begeisterung. Dagegen heißt es von Gent nur (19. Sept. 1765): »Gent ist ein großer aber nicht volkreicher Ort.«
Erst mit den italienischen Reisen, während welcher Mutter und Schwester zu Hause in Salzburg bleiben müssen, beginnen Wolfgangs eigene Äußerungen über Welt und Menschen. Von Anfang an sieht er die Menschen mit unheimlicher Gabe der Beobachtung; besonders wenn sie mit Musik und Drama zu tun haben. Er ist fünfzehn Jahre alt, wenn er seiner Schwester die Akteure der Veroneser Oper beschreibt; eines »Ruggiero«, die Musik vermutlich von Pietro Alessandro Guglielmi (7. Jan. 1770): »Oronte, il padre di Bradamante, è un principe (fa il signor Afferi), un bravo cantante, un baritono, mà gezwungen, wen er in Falset hinauf, aber doch nicht so sehr, wie der Tibaldi zu Wien. Bradamante, figlia d'orionte, inamorata di Ruggiero mà (sie soll den Leone heyrathen, sie will ihm aber nicht), fà una povera Baronessa, che ha avuto una gran disgrazia, mà non sò che? Recita (unter einem fremden Nam, ich weiß aber den[28] Namen nicht) ha una voce passabile, e la statura non sarebbe male, ma distona come il diavolo. Ruggiero, un ricco principe, innamorato di Bradamante, un Musico, canta un poco Manzolisch ed ha una belissima voce forte ed è già vecchio, ha cinquantacinque anni ed ha una leuffige gurgel ...« Man sieht vor sich den alten Kastraten, der da Ariostos mächtigen Lieblingshelden singt! Oder Mozart beschreibt (21. August 1770) à la Rabelais einen Bologneser Dominikanermönch, »welcher für heilig gehalten wird. Ich zwar glaube es nicht recht, denn er nimmt zum Frühstück oft eine Tasse Chokolade, gleich darauf ein gutes Glas starken spanischen Wein, und ich habe selbst die Ehre gehabt, mit diesem Heiligen zu speisen, welcher (eine) Karaff Wein und auf die Letzte ein ganzes Glas voll starken Weins bey der Tafel getrunken hat, zwey gute Schnitze Melonen, Pfirsiche, Birnen, fünf Schalen Kaffee, einen ganzen Teller voll Vögeln, zwey volle Teller Milch mit Limonien. Doch dieses könnte er mit Fleiß thun, aber ich glaube nicht, denn dieses wäre zuviel, und aber er nimmt viele Sachen zur Jausen auf Nachmittag.« Das ist der Fünfzehnjährige, der später die Figuren des Osmin oder Monostatos schaffen soll. Man hat im Hause Mozart, bei aller äußerlichen Wahrung der devoten Formen, nicht den mindesten Respekt vor Geistlichen, Potentaten und Berühmtheiten; man hat ihnen zu sehr hinter die Kulissen gesehen. Mit welcher Vorsicht behandelt Goethe, wenn er nach Neapel kommt, die allerhöchsten königlichen Herrschaften, Karoline, die ihrer Mutter so ungleiche Tochter Maria Theresias, und den Pulcinell von König! »Der König ist auf der Jagd, die Königin guter Hoffnung, und so kann's nicht besser gehen.« Leopold schreibt nach Hause (26. Mai 1770): »Wenn das volk nicht so gottlos und auch gewisse Leute nicht so dumm wären, die sich es sonst nicht einfallen lassen, daß sie dumm sind ...«, und Wolfgang (5. Juni), ganz respektlos: »Der König ist grob neapolitanisch auferzogen, und steht in der Oper allezeit auf einem Schemerl, damit er ein Bissel größer als die Königin scheint ...« Wenn er in Wien den Erzherzog Maximilian, den jüngsten Bruder des Kaisers, einen einst angenehmen Jungen, inzwischen Erzbischof von Köln geworden, wiedertrifft, schreibt er (17. Nov. 1781): »wem gott[29] ein amt giebt, giebt er auch verstand – und so ist es auch wirklich beym erzherzog. – als er noch nicht Pfaff war, war er viel witziger und geistiger, und hat weniger aber vernünftiger gesprochen. – sie sollten ihn izt sehen! – Die Dummheit guckt ihm aus den augen heraus. – er redet und spricht in alle Ewigkeit fort, und alles ist falset. – er hat einen geschwollnen hals. – mit einem wort als wenn der ganze herr umgekehrt war. –« Oder die Beschreibung einer europäischen Berühmtheit, wie des Dichters Wieland, der zur Aufführung seiner veroperten »Alceste« nach Mannheim gekommen war (27. Dez. 1777): »ich hätte mir ihn nicht so vorgestellt wie ich ihn gefunden; er kommt mir im reden ein wenig gezwungen vor. Eine ziemlich kindische stimme; ein beständiges gläselgucken, eine gewisse gelehrte grobheit, und doch zuweilen eine dumme herablassung mich wundert aber nicht daß er (wenn auch zu weimar oder sonst nicht) sich hier so zu betragen geruhet, denn die leute sehen ihn hier an, als wenn er vom himmel herabgefahren wäre. man genirt sich ordentlich wegen ihm, man redet nichts, man ist still; man giebt auf jedes wort acht, was er spricht; – nur schade daß die leute oft so lange in der erwartung seyn müssen, denn er hat einen defect in der zunge, vermög er ganz sachte redet, und nicht 6 worte sagen kann, ohne einzuhalten, sonst ist er wie wir ihn alle kennen, ein vortrefflicher kopf. Das gesicht ist von herzen häßlich, mit blattern angefüllt, und eine ziemlich lange Nase. Die statur wird seyn: beyläufig etwas größer als der Papa.« Man kann alle Memoiren der klassischen Weimarer Zeit und die ganze Literatur über diese Zeit durchsehen, ohne eine so lebendige und scharfe Beschreibung Wielands zu finden.
Um so karger sind in Mozarts Briefen die Spiegelungen von Erlebnissen der Landschaft; und über Kunst äußert er sich überhaupt nicht. Ein erhaltenes Reisetagebuch Mariannes von der großen Reise 1763–66 zeigt, daß die Kinder vom Vater vor allem andern auf Kuriositäten hingewiesen wurden. In Heidelberg sieht man »das Schloß, die Tapetenfabrik und Seidenfabrik, das große Faß, und den Brunnen, wo die Herrschaft das Wasser holen läßt«; in London »habe ich gesehen den Park und einen jungen Elephanten, einen Esel, der hat weiße und kaffeebraune[30] Striche und so gleich, daß man es nicht besser malen könnte«; aber sie verzeichnet immerhin auch Greenwich und das British Museum. Leopold beschreibt die Umgebung Neapels im Lohnkutscherstil und »erledigt« sie auch im gleichen Stil. Als »Baedeker« führt er mit sich ein trockenes Buch, Joh. Georg Keyßlers (1693–1743) »Neueste Reisen durch Teutschland (und) Italien« von 1740, vielleicht in der Ausgabe von 1752, auf das er mehrfach auch die Gattin verweist. Es ist ein Buch nach Leopolds Herzen: voll von kritischen Betrachtungen, voll von Interesse für Kuriositäten und nicht frei von Vergnügen an höfischem Klatsch: ganz ein Buch des 18. Jahrhunderts, ohne Blick für wirkliche Werte. Bozen, in der schönsten Jahreszeit besucht, wenn auch bei Regen, wird bezeichnet (28. Oktober 1772) als das »traurige Bozen«, und darin stimmt Wolfgang überein mit dem Vater: »botzen dies Sauloch. Ein gedichte von einen der über botzen fuchs-teufel wild und harb war.
soll ich kommen nach botzen, so schlag ich mich lieber in d'fozen«. Die Mozarts kommen von dem heiteren Salzburg, wo es keine finsteren Lauben gibt und die Hauptkirche nicht gotisch ist; von Bozens Lage, von den Dolomiten, den Zacken des Schlern im Abendschein sehen sie beide nichts. Dagegen Goethe, der für Berge auch nur ein mehr mineralogisches oder geologisches oder meteorologisches Interesse hat, kann drei Lustren später schreiben: »Bei heißem Sonnenschein kam ich nach Bozen. Die vielen Kaufmannsgesichter freuten mich beisammen. Ein absichtliches wohlbehagliches Dasein drückt sich recht lebhaft aus. Auf dem Platze saßen Obstweiber mit runden flachen Körben, über vier Fuß im Durchmesser, worin die Pfirschen neben einanderlagen, daß sie sich nicht drücken sollten. Ebenso die Birnen ...« Goethes Auge ist »licht, rein und hell«. Mozarts ist scharf und unbestechlich, aber nur für Menschen. Und für auffallende Ereignisse (Mailand, 30. Nov. 1771): »ich habe auf dem Domplatz hier 4 kerl hencken sehen. sie hencken hier wie zu lion.« Leopold findet für die Lage von Florenz ein schönes Wort (3. April 1770): »Ich wünschte, daß Du Florenz selbst und die[31] ganze gegend und Lage dieser Statt sehen solltest, Du würdest sagen, daß man hier leben und sterben soll.« Und wenn er – für immer – Abschied nimmt von Italien (27. Febr. 1773): »es kommt mir schwer Italien zu verlassen« – und in dieser Wehmut liegt mehr als der Gedanke an die Rückkehr unter das Joch des verhaßten Salzburger Brotherrn. Wolfgang sieht das Kapitol und die andern sechs Hügel Roms, aber die kurze Beschreibung geht nicht ab ohne Witze (14. April 1770): »ich wünschte nur das meine schwester zu Rom wäre, dan ihr wurde diese stadt gewis wohlgefahlen, indem die peters kirchen Regulair und viele andere sachen zu Rom Regulaire sind. Die schönsten blumen tragens iezt vorbey, den augenblicke sagte es mir der papa ...« Die schönsten Blumen interessieren ihn nicht, denn er sitzt zu Hause und bedeckt Papier mit Noten. »Neapel ist schön.« (19. Mai 1770), »Venezia mi piace assai« (13. Febr. 1771): das ist alles. Die Sehenswürdigkeiten Venedigs scheint Leopold allein besucht zu haben, denn er gebraucht (1. März 1771) die Wendung, er werde nach der Heimkunft im einzelnen erzählen: »Wie mir das Arsenal, die Kirchen, ospitali und andere Sachen etc.; ja wie mir ganz Venedig gefahlen, werde Dir weitläuftig sagen ...« Aber wenn Wolfgang später, im Februar 1783, eine Pantomime schreibt und sie mit der Schwägerin, dem Schwager und ein paar Freunden agiert, wird offenbar, wie genau er zwölf Jahre vorher die Figuren des venezianischen Karnevals beobachtet und sie in der Erinnerung behalten hat, und es ist ein ewiger Verlust der Kunst, daß dies Meisterwerk der »Commedia dell'arte« nur skizzenhaft und fragmentarisch erhalten ist.
Die späteren Reisen – nach Mannheim und Paris von 1777/78 begonnen mit der Mutter, aber allein beendet –, nach München zur Beendigung und Aufführung des »Idomeneo«, machen ihn ganz reif im menschlichen Sinn, aber tragen nur dazu bei, ihm den Blick und das Gefühl für die tiefe Provinzialität Salzburgs zu schärfen. Jedes italienische Nest scheint ihm manchmal der Vaterstadt überlegen an Geschmack und Kultur, geschweige denn Mannheim, das damals ein Ort der Zivilisation und des Fortschritts war. In Paris bemerkt er nur die Wendung zum Schlimmeren und Unbehaglicheren in der Stimmung der ihm[32] unsympathischen Nation – unsympathisch in erster Linie wegen ihrer ihm unsympathischen Musik.
Auch nach Wien, Anfang 1782, kommt Mozart als Gast und Reisender: – er weiß noch nicht, daß es infolge des Bruches mit dem erzbischöflichen Brotherrn sein dauernder Aufenthalt werden sollte. Und da es sein dauernder Aufenthalt geworden ist, begrüßt er jede Abwechslung, jeden Abschied von ihm mit Begierde. Kann er nicht reisen, so wechselt er wenigstens die Wohnung, bald freiwillig, bald mehr unfreiwillig. Im Sommer 1788 zieht er, mehr unfreiwillig, nach Währing in eine Gartenwohnung und schreibt an Puchberg (17. Juni): »Wir schlafen heute dass erstemal in unserm neuen quartir, alwo wir Sommer und Winter bleiben; – ich finde es im grunde einerley wo nicht besser; ich habe ohnehin nicht viel in der stadt zu thun, und kann, da ich den vielen besuchen nicht ausgesetzt bin, mit mehrerer Muße arbeiten ...« Man sieht deutlich, er wäre lieber in der Stadt und sucht lediglich sich und dem Freund seine Verbannung aufs Land schmackhaft zu machen. Aus einem Brief an den Vater (13. Juli 1781) aus Reisenberg bei Wien scheint wirkliche Freude an der Landschaft zu sprechen: »Das ist eine stunde weit von Wien, wo ich schreibe, es heißt Reisenberg. – ich war schon einmal über nacht hier; und izt bleib ich etwelche täge. – Das häuschen ist nichts; aber die gegend! – der Wald – worinnen er (Graf Cobenzl) eine grotte gebauet, als wenn sie von Natur wäre. Das ist Prächtig und sehr angenehm.« In Wahrheit ist weniger sein Natursinn berührt als sein Gefühl für Bequemlichkeit, sein Bedürfnis nach Heiterkeit der Umgebung. Eine Gegenüberstellung zweier süddeutscher Städte in ein- und demselben Brief (28. Sept. 1790) an die Gattin ist sehr charakteristisch: »Zu Nürnberg haben wir gefrühstückt – eine häßliche Stadt – Zu Würzburg haben wir unsern theuern Magen mit Kaffee gestärkt, eine schöne, prächtige Stadt ...« Die kleinliche Renaissance und die herbe Gotik der alten Reichsstadt mißfallen ihm; indes ihn das helle und heitere Barock der Bischofsstadt anheimelt, in deren Schloß Tiepolo seine Fresken kaum vierzig Jahre vorher beendet hatte. Elfmal hat das Ehepaar Mozart in Wien innerhalb neun oder zehn Jahren seine Behausung vertauscht, manchmal schon nach[33] drei Monaten. Es ist wie eine ewige Reise von einem Gastzimmer zum andern – Gastzimmer, die man bald vergißt. In einer der besser ausgestatteten Wohnungen, Schulergasse 8, damals Große Schulerstraße 846, findet sich im Arbeitszimmer Mozarts auf der Decke eine hübsche Stuckdekoration mit weiblichen Genien und Putten; ich bin überzeugt, daß Mozart niemals auch nur einen Blick nach oben verschwendet hat.
Er war jeden Augenblick bereit, Wien mit einer andern Stadt, Österreich mit einem andern Land zu vertauschen. Leopold hatte ganz recht mit seinem Mißtrauen über die mögliche Dauer der englischen Reise von 1787 – sie hätte sich leicht in eine Niederlassung verwandeln können. Im Jahre 1789 oder 1790 schaffte Mozart sich ein Buch an, dessen Zweck nur zu verräterisch ist: das »Geographisch und topographische Reisebuch durch alle Staaten der österreichischen Monarchie nebst der Reiseroute nach Petersburg durch Polen« (Wien 1789) – er dachte an eine Reise nach Rußland – vermutlich ein Gedanke, entstanden in Gesprächen mit dem russischen Botschafter in Dresden, Fürst Bjeloselski, bei dem Mozart im April 1789 viel musizierte. Aber Mozart muß sich mit kleineren Reisen oder mit »Reisen« in Wien begnügen. Um Michaelis 1790 bezieht er eine Wohnung in der Rauhensteingasse, ohne zu ahnen, daß es seine letzte sein sollte. Oder hat er es geahnt und ist deshalb so ungewöhnlich lange in ihr geblieben, weil ihm das Ausziehen nicht mehr der Mühe wert schien? Denn im Dezember 1791 ist er von da übergesiedelt in eine dauernde Behausung, »in die letzte und engste auf dem St.-Marxer Friedhof«, wie Konstantin von Wurzbach sich ausdrückt, der als erster die Wohnstätten Mozarts zusammenzustellen versucht hat.
Quelle:
Einstein, Alfred: Mozart. Sein Charakter, sein Werk. Zürich, Stuttgart 31953, S. 11-34.
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