Patriotismus und Bildung

[108] Mozart war kein politisch interessierter Mensch. Er war geboren als ein Untertan des Erzbischofs von Salzburg, und er starb als ein Beamter im Dienst des römischen Kaisers; aber wir haben es bereits gemerkt, daß Loyalität im allgemeinen nicht zu den Tugenden der Mozartschen Familie gehörte und daß im Falle Colloredo Wolfgang Amadeus zu offener Auflehnung überging. Auch für Joseph II. entwickelte sich bei ihm keine Anhänglichkeit; und für Potentaten wie den luxuriösen Pfälzer Kurfürsten Karl Theodor oder den württembergischen Karl Eugen, den Kerkermeister der Rieger, Moser, Schubart, konnte sich nicht einmal Respekt einstellen, dafür hatte Mozart zu scharfe Augen für alle Menschlich-Allzumenschlichkeiten der erlauchten Herrschaften. Man braucht nur zu lesen, wie er über die Ankunft Pauls I., Großfürsten von Rußland, berichtet (24. Nov. 1781): »Nun ist das Großtier der Großfürst hier ...« Von Servilität ist in Mozart kein Hauch mehr vorhanden; darin ist er ein ganz moderner, demokratischer Mensch. Indes etwa Gluck, bei allem persönlichen Stolz, immer sich im Dienst der Habsburger fühlte, und Haydn niemals ganz die Lakaienuniform auszog, die zu tragen er im Dienste der Esterházy verpflichtet war. Mozart war zu weitgereist, um nicht über die Grenzen zu blicken. So wird er zwar gelegentlich zum deutschen Patrioten, wie der vielzitierte Brief an den Professor der Dichtkunst in Mannheim, Anton von Klein, beweist (21. März 1785): Klein, der Lieferant der Libretti für die[108] »Teutsche Oper« unter Karl Theodor, hatte einen »Kaiser Rudolf von Habsburg« gedichtet, den er Mozart zur Komposition anbot. Aber Mozart zögert, sogleich eine Zusage zu geben, wünscht erst Näheres über die Möglichkeiten der Aufführung eines solchen Werkes zu erfahren und schildert all die Mißlichkeiten und Unzulänglichkeiten, denen die Weiterführung der Deutschen Oper in Wien begegne. »wäre nur ein einziger Patriot mit am brette – es sollte ein anders gesicht bekommen! – Doch da würde vielleicht das so schön aufkeimende National-theater zur blüthe gedeihen, und das wäre Ja ein Ewiger Schandfleck für teutschland, wenn wir teutsche einmal mit Ernst anfiengen teutsch zu denken – teutsch zu handeln – teutsch zu reden, und gar teutsch – zu Singen!!! –« Sonderbar, wie ähnlich dieser Brief einem andern, ebenfalls in die rheinische Gegend gerichteten ist: dem von Vehse II., 8, p. 235 zitierten Kaiser Josephs II. an den Koadjutor von Mainz, Dalberg (13. Juli 1787): er sei »stolz darauf, ein Deutscher zu sein ... Wenn unsere guten deutschen Mitpatrioten sich wenigstens eine patriotische Denkungsart geben könnten, wenn sie weder Gallomanie, weder Prussomanie, noch Austromanie hätten, sondern eine Ansicht, die ihnen eigen wäre, nicht von andern erborgt ...« Joseph II. hat sich vermutlich jedoch das einige Deutschland nur unter habsburgischer Hegemonie vorstellen können; und Mozarts patriotische Exklamation hat ihn glücklicherweise nicht gehindert, die »Nozze«, den »Don Giovanni« und »Così fan tutte« zu komponieren. Und ebenso glücklicherweise hat er niemals eine patriotische deutsche Oper geschrieben wie »Günther von Schwarzburg« oder »Kaiser Rudolf von Habsburg«, sondern das Märchen-Singspiel »Die Entführung aus dem Serail« mit der humanen Lösung der Schlußszene und die »Zauberflöte«, eine Vorstadt-Maschinenkomödie, in Wahrheit ein Menschheitsstück.
Man hat nur nötig, Mozarts internationales, humanes Deutschtum zu vergleichen mit der Deutschtümelei der gleichzeitigen deutschen Singspielkomponisten – Hiller, Neefe, Benda, Wolf – und ihrem Streben nach »Natur«, nicht nur in der Oper, auch im Lied; ihrer patriotischen Satire »auf den Bombast[109] und den leeren Klingklang vieler italienischer Arien« (J. Fr. Reichardt, in den »Briefen eines aufmerksamen Reisenden« II, p. 101, 1776): ihrem Spott über »unsere italienisierte deutsche Componisten«. Mozart hätte sich getroffen fühlen können, denn er war ohne Zweifel so ein italianisierter deutscher Komponist; aber er war hoch erhaben über jeden billigen teutschen Patriotismus.
Unter den Nationen hatte Mozart seine Sympathien und Antipathien. Er liebte die französische Musik nicht, und seine Erfahrungen in Paris verleideten ihm auch die französische Nation, zum mindesten die Pariser, die ihm seit seiner Kindheit sehr verändert schienen (1. Mai 1778): »... die franzosen haben lang nicht mehr so viell Politesse, als vor 15 jahren. sie gränzen izt starck an die grobheit. und hofärtig sind sie abscheulich ...« Über die Französische Revolution, deren Anfänge Mozart noch erlebte, findet sich kein Wort in seinen Briefen oder in den Erinnerungen an ihn, sie berührte ihn nicht. Dagegen hatte er aus seinen Knabenjahren eine Vorliebe bewahrt für England und die Engländer, und ein paar Engländer – Stephen Storace und Thomas Attwood – gehörten zu Schülern, die er liebte und die ihm Anhänglichkeit bewahrten. Es gibt sogar eine Komposition Mozarts auf eine englische Heldentat – auf die Verteidigung Gibraltars durch Elliot und den Ausfall des »Black Dick«, alias Admiral Richard Howe. Die Seefeste war einige Jahre lang durch Franzosen und Spanier belagert worden, als Howe, durch einen überraschenden Angriff, der belagerten Garnison wieder zu Proviant verhalf und dadurch den Feind zwang, die Belagerung aufzuheben. Eine in Wien lebende ungarische Dame veranlaßte den Exjesuiten, Dichter, Milton- und Ossianenthusiasten Michael Denis, die britische Heldentat in einer Ode zu verherrlichen, und Mozart begann sie Ende 1782 in Musik zu setzen. Wir werden später sehen, warum er sie nicht vollendet hat. Gelegentlich liefert er dem Vater politische Kuriositäten, da er wußte, daß Leopold die Weltereignisse mit altklugen Kommentaren zu begleiten liebte – ein paar Proben sind besonders in dem Briefwechsel der letzten Jahre mit der Tochter zu finden, und es schmeichelt Leopold sehr, wenn Marianne[110] bewundernd bemerkt, es sei in ihm ein großer Staatsmann verlorengegangen. Als am 30. Dezember 1777 Kurfürst Max Joseph von Bayern plötzlich starb, ohne direkte Nachkommenschaft, hätte Kaiser Joseph gern die Beute erschnappt, wäre der Erbberechtigte, Karl Theodor, nicht so geschwind in München angekommen und hätte der Pfälzer nicht einen mächtigen Schutz im Rücken gehabt: die Grenadiere und die Kanonen des preußischen Königs, des »Alten Fritz«. Joseph hatte das Nachsehen, und Wolfgang schickt (7. Febr. 1778) dem Vater die gereimte Satire auf den Kaiser, der in dem letzten Reimpaar majestätisch seinen Fuchspelz abwirft:
»Bayern! seyd ruhig! ich komme zu schützen, – Und das Geschützte zu besitzen.« In einer entschiedenen Abneigung stimmt er mit Leopold aufs innigste überein: in der gegen den Militarismus. Leopold hat in Ludwigsburg bei Stuttgart Gelegenheit, sich über die kostspielige Soldatenspielerei des Herzogs Karl Eugen von Württemberg zu äußern, der in dem kleinen Land ein Heer von 15000 Mann unterhielt – ein Heer, dessen Existenz erkauft war durch Korruption und Elend im ganzen Land, ein Heer, das später beim Einfall der französischen Revolutionstruppen übrigens sofort davonlief. Leopold schreibt (11. Juli 1763): »Ludwigsburg ist ein ganz besonderer Ort. Es ist eine Statt. allein die Zäune und gärten-geländer, hauptsächlich aber die Soldaten sind die Stattmauern. wenn sie ausspeyen, so speyen sie einem officier in die tasche oder einem Soldaten in die Patrontasche. sie hören ohne unterlaß auf der Gasse, nichts als: halt! Marche! schwenkt euch etc. sie sehen nichts als Waffen, trommeln und Kriegsgeräthe. Vor dem Eingang des schlosses stehen 2 grenadier und 2 Dragoner zu Pferd die grenadiers Mützen auf dem Kopfe und einen Curas auf der Brust, in der hand aber den bloßen säbl, [die] über sich ieder ein schönes großes Dach haben von blech, statt eines schilterhauses. Mit einem Worte, es ist unmöglich, das man eine gröste accuratesse im Exercitio, und eine schönere Manschaft sehen kann. Man sieht absolute keinen andern Mann als grenadiersmäßige Leute, so zwar, daß Mancher feldwebl 40 f. monatlich besoldung hat.[111] sie werden lachen! und es ist wirklich lächerlich. wenn ich zum fenster stand, so glaubte ich nichts als soldaten zu sehen, die bereit wären, eine Person auf einer Comoedie oder opera vorzustellen. dencken sie nur, alle leute sind haargleich, und täglich, nicht in wuckeln frisiert; sondern wie der erste petit-Maitre in viele Locken vom Kopf weg gekämmt und schneeweis eingepudert, die bärte aber kohlschwarz geschmiert ...« Und Wolfgang liefert dazu das Echo, wenn er (18. Dez. 1778) aus dem bayrischen Kaisersheim berichtet: »... was mir am lächerlichsten vorkömmt, ist das grausame militaire – möchte doch wissen zu was? – nachts höre ich allzeit schreyen: Wer da? – gieb aber allzeit fleißig antwort: schmecks! ...« Was hätten Mozart, Vater und Sohn, zu dem, dank der unheilbaren Dummheit dieser menschlichen »race méchante«, völlig militarisierten 19. und 20. Jahrhundert gesagt! Sie befinden sich im übrigen in voller Übereinstimmung mit einem großen italienischen Zeitgenossen, Vittorio Alfieri, der 1769 Berlin besucht: »All'entrare negli stati del gran Federico, che mi parvero la continuazione di un solo corpo di guardia, mi sentii raddoppiare e triplicare l'orrore per quel infame mestier militare; infamissima e sola base dell'autorità arbitraria, che sempre è il frutto di tante migliaja di assoldati satelliti ... Uscii di quella universal caserna prussiana ... abborrendola quanto bisognava« (Autobiographie).»Beim Eintritt in die Staaten des Großen Friedrich, die mir vorkamen wie die Verlängerung einer einzigen Wachtstube, fühlte ich in mir den Abscheu vor diesem schimpflichen Militärberuf verdoppelt und verdreifacht: vor dieser ehrlosesten und einzigen Grundlage der Willkürherrschaft, die immer die Frucht ist von der Unterhaltung von so viel tausend Häschern ... Ich verließ diese allumfassende Preußische Caserne ... mit dem Abscheu den sie verdiente.«
Viel mehr als für die großen Weltereignisse interessiert sich Mozart für die kleinen politischen Affären, denn da sind Menschen im Spiel, die er kennt. Eine Äußerung über eine dieser Affären bringt ihn sogar in den Verdacht des Antisemitismus. Am 11. September 1782 schreibt er dem Vater:»... Die Jüdin Escules wird freylich ein sehr gutes und nützliches instrument zur freundschafts-trennung zwischen dem kayser und Russischen[112] hofe gewesen seyn – denn sie ist wirklich vorgestern nach berlin geführt worden, um dem könig das vergnügen ihrer gegenwart zu schenken; – die ist also eine haupt-Sau – denn sie war auch die einzige ursache an dem unglück des günthers – wenn das ein unglück ist, 2 Monath in einem schönen zimmer (nebst beybehaltung aller seiner bücher, seinen forte piano etc.) arrest zu haben, seinen vorigen Posto zu verlieren, dann aber in einem andern mit 1200 fl. gehalt angestellt zu werden; denn er ist gestern nach hermannstadt abgereiset. – doch – solch eine sache thut einem Ehrlichen Manne immer wehe, und nichts in der Welt kann so was ersetzen. – Nur sollen sie daraus ersehen, daß er nicht so ein sehr großes verbrechen gethan hat. – sein ganzes verbrechen ist – Etourderie – leichtsinnigkeit – folglich – zu wenig scharfe verschwiegenheit – welches freylich ein großer fehler bey einer Cabinets-Personn ist. – obwohlen er nichts von Wichtigkeit Jemand anvertrauet, so haben doch seine feinde, wovon der Erste (der gewesene Stadthalter gr: v: herber-Stein) ist, es so gut und fein anzustellen gewust, daß der kayser welcher so ein starkes vertrauen zu ihm gehabt hat, daß er Stundenweise mit ihm arm in arm im zimmer auf und ab gegangen, ein desto stärkeres Mistrauen in ihn bekamm. – zu diesem allen kam die Sau Escules (eine gewesene amantin vom günther) und beschuldigte ihn auf das Stärkste – bey der untersuchung der sache kamme es aber sehr einfältig für die herrn heraus – der große lärm von der Sache war schon gemacht – die großen herrn wollen niemals unrecht haben – und mithin war also das schicksaal des armen günthers, den ich vom herzen bedauere, weil er ein sehr guter freund von mir war, und (wenn es beym alten geblieben wäre) mir gut dienste beym kayser hätte thun können. – stellen sie sich vor wie fremd und unerwartet es mir war, und wie nahe es mir gieng. Stephani – Adamberger – und ich waren abends bey ihm beym Soupè und den andern tag wurde er in arest genommen ...« Mozart hatte, wie G. Gugitz in den Mozarteums-Mitteilungen III, p. 41–49 (1921) nachgewiesen hat, gänzlich unrecht mit seiner Verteilung von Schuld und Unschuld in dieser Skandalaffäre, die so viel Staub aufgewirbelt hatte, daß er sogar in Salzburg sichtbar war. Johann Valentin Günther, zehn Jahre älter als Mozart, Freimaurer,[113] war erst Offizier gewesen, wurde dann aber als Kabinettssekretär der Vertraute und Günstling des Kaisers, obwohl oder vielleicht weil er ein beschränkter Mensch war, der seinem Patron alles nach dem Munde redete. Er unterhielt ein Verhältnis mit Eleonore Eskeles, der Tochter eines Rabbiners, verheiratete und geschiedene Fließ, die man völlig unbewiesener- und ungerechtfertigterweise beschuldigte, dem Günther Kabinettsgeheimnisse abgelockt und sie zwei preußischen (jüdischen) Spionen weitergegeben zu haben. Günther wurde gestürzt, aber er fiel weich: als Hofkriegsratkonzipist nach Hermannstadt in Siebenbürgen, in die liebevoll geöffneten Arme der dortigen Freimaurer. Der ganze Zorn Josephs entlud sich über die Jüdin, die trotz bewiesener Unschuld des Landes verwiesen wurde – nach Josephs Tod, am 7. Dezember 1791 (zwei Tage nach Mozarts Tod!) wurde sie von Leopold II. allerdings geräuschvoll rehabilitiert, zog es aber vor, erst 1802 nach Wien zurückzukehren, wo sie 1812 hochgeachtet starb, geehrt durch einen brieflichen Nachruf – Goethes. Nun war Mozart nichts weniger als ein Judenfeind und hätte auch gar keine Ursache gehabt, einer zu sein. Als Taufpate seines ersten Söhnchens, Raimund Leopolds, nahm er, wenn auch etwas unfreiwillig, seinen jüdischen Hausherrn an, den Baron Raimund Wetzlar von Plankenstern, einen seiner Gönner und Wohltäter, und in der höchst aufschlußreichen Liste der Subskribenten auf seine Konzerte, die er am 20. März 1784 dem Vater einsendet, sind die Namen jüdischer Familien reichlich vertreten. Und es ist nicht bekannt, daß die Wiener Wucherer, denen Mozart in seinen letzten Lebensjahren in die Hände fiel, gerade jüdische Wucherer gewesen wären.
Es ist manchmal ausgesprochen worden, daß Mozart seine großen Bildungserlebnisse nur in den Grenzen des Musikalischen gehabt hätte. Das ist richtig und unrichtig. Es ist wahr, daß er alles, was er an Musik gehört hat, entweder abgestoßen oder so vollkommen in sich aufgenommen hat, daß es nicht mehr von seinem Wesen zu trennen war. Sein Wachstum als Schöpfer vollzieht sich wie das einer Pflanze – eines edlen Gewächses, dessen innerstes Geheimnis geheim bleibt; aber das durch Sonne und Regen gefördert und durch ungünstige Witterung[114] gehemmt und geschädigt wird. Und wir kennen viele der Sonnen-und Regentage, die das Wachstum der Mozartschen Musik beeinflußt haben. Dies Wachstum zeigt sich in Mozarts Gesamtwerk, das nicht sprunghaft ist, sondern kontinuierlich und logisch; so kristallklar und einheitlich, wenn man alle seine Bedingungen kennt, daß es ein Leben für sich zu führen scheint, unabhängig von seinem Schöpfer. Insoferne könnte man sagen, daß der Mensch Mozart nur das irdische Gefäß seiner Kunst gewesen ist; ja daß der Mensch Mozart das Opfer des Musikers Mozart gewesen ist. Aber jeder große, von seiner Kunst besessene Künstler ist als Person das Opfer seiner Kunst.
Wie Mozart seinen Zeitgenossen oder vielen seiner Zeitgenossen erschien, das hat am krassesten Karoline Pichler ausgedrückt, die Tochter des Wiener Hofrats Franz Sales von Greiner, bei dem Mozart in seinen letzten Jahren Quartett spielen ließ. Sie ist tief von der »Unbildung« der großen Musiker im allgemeinen und von der Unbildung im besondern Mozarts, Schuberts und Haydns überzeugt und nimmt nur Weber und Cherubini aus. Sie vertritt den Standpunkt des 19. Jahrhunderts, wenn sie in ihren »Denkwürdigkeiten«, 1844 gedruckt, schreibt: »Mozart und Haydn, die ich wohl kannte, waren Menschen, in deren persönlichem Umgange sich durchaus keine andere hervorragende Geisteskraft und beinahe keinerlei Art von Geistesbildung, von wissenschaftlicher oder höherer Richtung zeigte. Alltägliche Sinnesart, platte Scherze und bei dem ersten ein leichtsinniges Leben, war alles, wodurch sie sich im Umgange kundgaben ...« Und es ist sehr gnädig, wenn sie hinzufügt: »Und welche Tiefen, welche Welten von Phantasie, Harmonie, Melodie und Gefühl lagen doch in dieser unscheinbaren Hülle verborgen!« Aber Mozart war viel mehr als ein Musikant. So wie er Menschen durchschaute, wenn er ihnen auch immer wieder »hereinfiel«, so hat er das Geistige seiner Zeit tief, intuitiv durchschaut, ohne je eine ästhetische Vorlesung gehört zu haben. Wenn er kein Auge hatte für Landschaft oder für Architektur, Skulpturen, Bilder, so hatte er als Dramatiker das feinste Organ für Dichtung – für Lyrik und Drama. Er muß viel gelesen haben – das ist die einzige Ähnlichkeit, die ihn mit Beethoven[115] verbindet. In seiner Bibliothek fand sich Reise- und Geschichtsliteratur und Philosophisches; Poetica, wie Metastasio, Salomon Geßner, die Komödien Molières, die er von Fridolin Weber zum Geschenk erhalten hatte, Wielands »Oberon«; die Lyrika von Gellert und Weiße. Ob er das alles auch wirklich gelesen hat, steht dahin – bei Metastasio und Gellert aber ist es erwiesen. Außerdem aber kannte er den »Télémaque« des Fénélon und den »Aminta« des Torquato Tasso, belustigte sich an den Geschichten aus Tausendundeiner Nacht, und vor allem kannte er einen großen Teil der uferlosen italienischen Librettiliteratur, die er seit seinem zwanzigsten Jahr mit höchst kritischem Blick verfolgte – am 7. Mai 1783 schreibt er: »ich habe leicht 100 – Ja wohl mehr bücheln« (libretti) »durchgesehen – allein ich habe fast kein einziges gefunden mit welchem ich zufrieden seyn könnte ...« Er suchte etwas Neues, dramaturgisch gänzlich und nicht nur halbwegs Brauchbares, und endigte schließlich bei den »Nozze«. Bedenkt man dies, so erkennt man erst richtig, was das Zusammentreffen mit Lorenzo da Ponte für ihn bedeutete. Er hat die Wichtigkeit dieser Begegnung selber prophetisch ausgesprochen, als er in einem Brief an den Vater (13. Oktober 1781) seine Opernästhetik zusammenfaßte: »... warum gefallen denn die Welschen kommischen opern überall? – mit allem dem Elend was das buch anbelangt! – so gar in Paris – wovon ich selbst ein zeuge war. – weil da ganz die Musick herscht – und man darüber alles vergißt. – um so mehr muß Ja eine opera gefallen wo der Plan des Stücks gut ausgearbeitet; die Wörter aber nur blos für die Musick geschrieben sind, und nicht hier und dort einem Elenden Reime zu gefallen (die doch, bey gott, zum werth einer theatralischen vorstellung, es mag seyn was es wolle, gar nichts beytragen, wohl aber eher schaden bringen) worte setzen – oder ganze strophen die des komponisten seine ganze idee verderben. – verse sind wohl für die Musick das unentbehrlichste – aber Reime – des reimens wegen das schädlichste; – die herrn, die so Pedantisch zu werke gehen, werden immer mit sammt der Musick zu grunde gehen. – Da ist es am besten wenn ein guter komponist der das theater versteht, und selbst etwas anzugeben im stande ist, und ein gescheider Poet, als ein wahrer Phönix,[116] zusammen kommen. – Dann darf einem vor dem beyfalle der unwissenden auch nicht bange seyn ...« Es ist genau das Gegenteil der Wagnerschen und auch ein wenig der Gluckschen Opernästhetik. Mozarts Brief beweist die ganze Unabhängigkeit seines Denkens und die Sicherheit seines ästhetischen Gefühls, denn er hatte die Vorrede – oder vielmehr die Widmung Calzabigi-Glucks in der Partitur der »Alceste« sicherlich gelesen und bedacht.
Die gleiche Unabhängigkeit zeigt er den neuen Zeitströmungen gegenüber, die das 19. Jahrhundert ankündigen: das Zeitalter der »Romantik«, dessen volle Blüte er ja sehr gut noch hätte erleben können. Alles was bloßer Übergang ist, geht ihn nichts an. Wenn man will, ist er ganz ein Kind des 18. Jahrhunderts, und dann wieder eins des 20. – oder besser der Kunst-Ewigkeit, sicherlich aber kein »Vorläufer«. Beethoven kann sehr viel anfangen mit Haydn, aber nur sehr wenig mit Mozart. Wie und wo soll man an Mozart anknüpfen? Man kann die harmonische Vollendung wohl auf einer neuen Ebene wieder anstreben und sogar vielleicht erreichen; aber man kann sie nicht überbieten. Mit Haydn konnte man dagegen vielfach in Wetteifer treten. Nun: Mozart lebte mitten in der Zeit des »Sturms und Drangs«, im Zeitalter der Empfindsamkeit; im Zeitalter Jean-Jacques Rousseaus. Rousseau wird von Mozart niemals erwähnt, obwohl er ein Singspiel nach Rousseaus »Dorfwahrsager« komponiert hat und obwohl sein Name in Paris oft genug an seinem, Mozarts, Ohr vorbeigegangen sein muß. Er hätte vermutlich auch nicht das geringste übrig gehabt für den Genfer »Philosophen« und Musikdilettanten, dessen »Zurück zur Natur« ihm wenig gesagt hätte. Mozart gehört auf die Seite Voltaires, trotz der bösen Worte, die er ihm als Nekrolog nachgeschickt hat. Welche Relation der Geister! Auch Voltaire ist ein Mann des 18. Jahrhunderts und der »Ewigkeit«; da ist die gleiche Nüchternheit und Erbarmungslosigkeit in der Beobachtung, die gleiche Ironie, die gleiche grimmige Satire, der gleiche tiefe Fatalismus. Zwischen »Candide« und der g-moll-Sinfonie besteht eine Relation. »Sturm und Drang« ist für einen Menschen und Künstler wie Mozart eine viel zu oberflächliche, eine viel zu jormlose[117] Bewegung. Und Empfindsamkeit war für ihn eine Zeiterscheinung, über die er sich ohne weiteres lustig gemacht hat. Man hat öfters gesagt, daß Mozart als Musiker ein Schüler Philipp Emanuel Bachs gewesen sei, des typischen Meisters der Empfindsamkeit. Wir werden im zweiten Teil unseres Buches zu untersuchen haben, ob und wie weit das wahr ist. Gluck hat Oden Klopstocks in Musik gesetzt und wollte Musik zu dessen vaterländisch-teutonischer »Hermanns Schlacht« komponieren. Mozart parodiert in einem der Bäsle-Briefe (10. Mai 1779) eine berühmte Ode Klopstocks (»Edone«), später noch von Zumsteeg und Schubert komponiert.

Klopstock:

»Dein süßes Bild, Edone, Schwebt stets vor meinem Blick; Allein ihn trüben Zähren, Daß du es selbst nicht bist. Ich seh' es, wenn der Abend Mir dämmert, wenn der Mond Mir glänzt, seh' ich's und weine, Daß du es selbst nicht bist. Bei jenes Tales Blumen, Die ich ihr lesen will, Bei jenen Myrthenzweigen, Die ich ihr flechten will, Beschwör' ich dich, Erscheinung, Auf, und verwandle dich! Verwandle dich, Erscheinung, Und werd Edone selbst!« Mozarts Übermut findet sogleich die Komik heraus, die in diesem sentimentalen Überschwang liegt – eine norddeutsche Sentimentalität, die dem Süddeutschen zuwider ist. (Was nicht hinderte, daß Klopstock in Wien begeisterte Nachahmung fand.) Und Ende 1782 hat Mozart den Auftrag, eine solche Klopstockiade oder Ossianiade in Musik zu setzen: die Ode auf Gibraltar von dem Exjesuiten Denis oder, wie er sich nannte, Sined dem Barden. Mozart ist nicht imstande, sie fertig zu[118] machen (28. Dez. 1782): »... ich arbeite an einer Sache die sehr schwer ist, das ist an einen Bardengesang vom Denis über gibraltar; – das ist aber ein geheimnüß, denn eine ungarische Damme will den Denis diese Ehre erweisen. – die ode ist erhaben, schön, alles was sie wollen – allein – zu übertrieben schwülstig für meine feine ohren – aber was wollen sie! – das mittelding – das wahre in allen sachen kennt und schätzt man izt nimmer – um Beyfall zu erhalten muß man sachen schreiben die so verständlich sind, daß es ein fiacre nachsingen könnte, oder so unverständlich – daß es ihnen, eben weil es kein vernünftiger Mensch verstehen kann, gerade eben deswegen gefällt ...« Und Mozart fügt hinzu, daß er gern eine kurze Einführung in die Musik schreiben möchte, mit musikalischen Beispielen, um seine ästhetischen Anschauungen klarzumachen: die goldne Mittelstraße zwischen Trivialität und Preziosität. Sie klingen wie die eines alten Mannes, wie die eines laudator temporis acti. Aber sie sind gedacht von einem Musiker der Ewigkeit.
Will man die süddeutsche Natürlichkeit Mozarts durch einen Vergleich klarer machen, seine Unfähigkeit, im Sinn der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts »empfindsam« zu sein, so braucht man nur die Äußerungen andrer Zeitgenossen zu hören, zum Beispiel des Johann Friedrich Reichardt aus Königsberg in Preußen, auch eines Altersgenossen Mozarts, denn Reichardt war kaum vier Jahre älter. Er ist der Prototyp des intellektuellen Berliners, der sich der Kunst nur nähern kann von seiten des »Raisonnement«; eifriger Anhänger der scheinbar so raisonablen, rationalistischen Kunst Glucks; höchst kritisch gegen Haydn und Mozart, die er überlebte. Das üble Korrelat des Intellektualismus ist immer »Empfindsamkeit«. Reichardt fühlt sehr früh in sich eine schriftstellerische Ader und veröffentlicht, kaum vierundzwanzig Jahre alt, »Briefe eines aufmerksamen Reisenden« (1774): oberflächliche Raisonnements, kritische Keckheiten. In Berlin hört er eine Aufführung von Händels »Judas Makkabäus«; über den Chor »For Sion lamentation make With words that weep, and tears that speak«[119] schreibt er: »Ein jeder empfindliche Zuhörer muß dabei aus voller Brust mit seufzen, und noch jetzt hemmen Tränen meine Worte ...« Über dergleichen Überschwenglichkeit – gesetzt selbst, daß sie echt ist und keine Schauspielerei – hätte Mozart sich einfach lustig gemacht. Es war in der deutschen Dichtung damals die Zeit der »Original-Genies«, und auch in der deutschen Musik hätten manche sich gerne als »Original-Genies« gebärdet, wenn nur Musik ein leichter zu handhabendes Medium oder Handwerkszeug gewesen wäre als die Sprache. Mozart will niemals »originell« sein, so raffiniert er manchmal ist. Wir werden darüber noch mehr zu sagen haben, wenn wir ihn mit dem »Revolutionär« Haydn vergleichen. Obwohl ihm die Handwerksregeln an sich nichts bedeuten. Er spricht einmal, in einem Brief an den Vater (13. Okt. 1781), von der Unfähigkeit der Librettisten, von ihrem konventionellen Schlendrian abzuweichen: »Die Poeten kommen mir fast vor wie die trompeter mit ihren Handwerks Possen!« (Die Trompeter in Deutschland waren zu Mozarts Zeit noch immer in einer Zunft vereinigt und konservierten ihre uralten Zunftgebräuche.) »... – wenn wir komponisten immer so getreu unsern regeln (die damals, als man noch nichts Besseres wußte, ganz gut waren) folgen wollten, so würden wir eben so untaugliche Musick, als sie untaugliche bücheln, verfertigen.« Er ist tatsächlich, ungewollt, ein gewaltiger Neuerer, und er erschien als solcher auch seinen Zeitgenossen; aber er hatte niemals die Absicht, originell zu sein.
Jede Übertreibung, jeder Überschwang und alles Stümpertum, nicht bloß musikalisches Stümpertum, erregt Mozarts Spottlust. Am 14. August 1773 apostrophiert er die Schwester: »Ich hoffe, meine königin, Du wirst den höchsten grad der gesundheit genießen und doch dan und wan oder vielmehr zuweilen oder besser bisweillen oder noch besser qualche volte wie der welsche spricht, von Deinen wichtigen und dringenden gedancken (welche alzeit aus der schönsten und sichersten vernunft herkomen, den Du nebst Deiner Schönheit besizest, obwohlen in so zarten Jahren und bey einen frauenzimer fast nichts von obgesagten verlangt wird, Du, o königin, auf solche art besizest, das Du die Manspersonnen Ja so gar die[120] greise beschämest) mir etliche darvon aufopfern. lebe wohl.
Wolfgang Mozart« Er hat diesen hochgestelzten Unsinn in Wien geschrieben, wo er damals den Sommer verbrachte, und muß dort auf dem Theater eins der bombastischen und geschwollenen Stücke gesehen haben, die damals das Repertoire füllen halfen – ja ich fürchte sehr, daß es Geblers »König Thamos« war, für den er damals die Musik lieferte. Wenn sie sich Geschmacklosigkeiten zuschulden kommen ließen, hatte er keinen Respekt auch vor Gönnern. Für viele Leute war und ist Mozart der echte musikalische Vertreter des »Rokoko«, der anakreontischen Anmut, des Ancien Régime, vermutlich weil er als Kind einen Zopf und einen Galanteriedegen getragen hat. Das trifft jedoch weder auf Mozarts Wesen zu noch auf seine äußere Erscheinung; man braucht nur die vier relativ treuesten Porträts anzusehen: das auf dem Salzburger Familienbild, das Bologneser Porträt, die Ölskizze Langes, das Bleistiftprofil der Doris Stock. Mozarts Anmut und Grazie ist nicht anakreontisch, ist nicht bloß Achtzehntes Jahrhundert. Der Dichter Wieland hat in der literarischen Bildung des Hauses Mozart eine große Rolle gespielt; man kannte seine »Abderiten« und seinen »Oberon«, und wir kennen bereits das briefliche Porträt des Dichters, das Mozart dem Vater heimschickte, weil er wußte, wie sehr es ihn interessieren würde. Nun, manches Wielandische, etwa »Musarion«, ist ein kleines Meisterwerk der Anmut und des spielerischen Humors; aber diese »Philosophie freier Geister«, dies Spiel mit griechischer Heiterkeit, dies lüsterne, halbe Aufdecken weiblicher Reize hat nicht das mindeste zu tun mit Mozarts Derbheit, dämonischem Ernst, königlicher Gewalt, königlicher Vollendung. Man vergleiche Wielands Auffassung der Liebe: »Ich liebe dich mit diesem sanften Triebe, Der, Zephyrn gleich, das Herz in leichte Wellen setzt, Nie Stürm' erregt, nie peinigt, stets ergetzt: Wie ich die Grazien, wie ich die Musen liebe, So lieb' ich dich.«[121] – und es gibt keine andere Auffassung bei ihm – mit Mozarts Begriff von Konstanze, Zerline, Pamina – um von Gestalten wie Donna Anna oder Donna Elvira, um von Mozartschen Liebeserklärungen wie Don Giovannis Trunkenheitsarie oder Taminos Bildnisarie zu schweigen. Mozart ist niemals nur lieblich und niemals niedlich; er ist kein Watteau und noch weniger ein Greuze oder Boucher. Er gehört dem 18. Jahrhundert noch insoferne an, als Kunst damals noch ein integrierender Teil des Lebens war – noch nicht in Frage gestellt durch Romantik oder zivilisierte Barbarei. Aber er ist daneben zeitlos.
In einem Brief Mozarts an den Vater (29. Nov. 1780) aus München, aus der Zeit der Gestaltung und Vorbereitung des »Idomeneo«, findet sich eine merkwürdige Stelle der Kritik an Shakespeares »Hamlet«. Im »Idomeneo« wird die Lösung des auf die Spitze getriebenen Konflikts – soweit in einer Opera seria von Konflikt die Rede sein kann – durch das feierliche Ertönen einer mächtigen göttlichen Stimme aus der Tiefe herbeigeführt. Dieser Effekt darf nicht zu lange dauern, fühlt Mozart. »Sagen Sie mir, finden Sie nicht, daß die Rede von der unterirdischen Stimme zu lang ist? Überlegen Sie es recht. – Stellen Sie sich das Theater vor, die Stimme muß schreckbar seyn – sie muß eindringen – man muß glauben, es sei wirklich so – wie kann sie das bewirken, wenn die Rede zu lange ist, durch welche Länge die Zuhörer immer mehr von dessen Nichtigkeit überzeugt werden? – Wäre im Hamlet die Rede des Geistes nicht so lange, sie würde noch von besserer Wirkung seyn ...« Mozart hat »Hamlet« gesehen, vielleicht auch »Macbeth«, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß er in den letzten Wochen seines Lebens mit dem Gedanken gespielt hat, eine Bearbeitung von Shakespeares »Sturm« zu komponieren. Salzburg war Ende der siebziger Jahre eine Stadt des Schauspiels. Während Mozarts großer Reise war in Salzburg die, nach Leopold, zwar »mittelmäßige« Truppe des Impresarios Nössel gewesen, aus der jedoch das nachmals in München zu großer Berühmtheit gelangte Schauspielerpaar Franz Xaver und Karoline (Reiner) Heigel hervorragte. 1779/80 gastierte die Boehmsche Truppe; im September 1780 traf die Gesellschaft Emanuel Schikaneders[122] ein, und das war der Beginn einer Bekanntschaft, die später in Wien erneuert werden und zu der Gemeinschaftsarbeit an der »Zauberflöte« führen sollte. Von Mitte September bis Anfang November haben Mozart, sein Vater und seine Schwester keine der Schikanederschen Darbietungen versäumt – viermal die Woche –; sie brauchten nur über den Hannibal-Platz zu gehen, um zum Eingang des Theaters zu gelangen. Das Repertoire ist erhalten; es waren meist nichtswürdige Stücke, ein paar Singspiele, Monodramen und manchmal Ballette; aber am 26. September hat Mozart die »Emilia Galotti« Lessings, den »Julius von Tarent« des Anton Leisewitz, am 11. Oktober den »Barbier von Sevilla« nach Beaumarchais und am 13. Oktober »Hamlet, Prinz von Dänemark« in der Bearbeitung von F.W.L. Schroeder gesehen. Unter den Balletten ist nicht ohne Wichtigkeit das vom 8. Oktober, »Die belebten Statuen«, da es den Stoff des »Don Giovanni« behandelt. Der Stil dieser Aufführungen war so wenig »classisch« wie möglich, Schikaneder liebte schon damals den groben Effekt, das bunte Kostüm, die Komparserie, das Handgreifliche und Grelle – und mit Feinheit und Geschmack wäre die Salzburger Stadt- und Landbevölkerung auch nicht zu gewinnen gewesen. Aber Mozart folgt mit brennender Anteilnahme und hat eins der Stücke, für das er eine (verlorne) Einlage komponierte, in München sogar nachgelesen, eine deutsche Bearbeitung von Carlo Gozzis »Le due notti affannose«.
»Die Comödie ... ist charmante«, schreibt er (13. Dez. 1780), und es ist in der Tat ein Stück von – für seine Zeit – starker und echter Leidenschaft, selbst in der elenden deutschen Version. Wir wissen, daß Mozart in seiner ersten Wiener Zeit ein leidenschaftlicher Theatergänger war, wenn er sich auch über die erhaltenen Eindrücke nie oder selten ausspricht. Wir wissen nicht, was er alles gesehn hat; aber es ist deutlich, daß sein literarisches Interesse sich aufs Drama konzentrierte – er war ein geborner Theatermensch. So ist es auch im tiefern Sinn gleichgültig, was er im einzelnen an Dramen gekannt hat – ein Genius wie der seinige zieht Anregung und Erfahrung auch aus mittelmäßigen und schlechten Erzeugnissen – und im damaligen Wien war die Qualität der aufgeführten Werke in dem[123] Maße weniger wichtig, als es ausgezeichnete Schauspieler gab. Es ist auch nicht so wichtig, daß Mozarts Schauspielkenntnis nur lückenhaft sein konnte – er war kein so »gebildeter« Mann wie später Schumann oder Wagner, die Shakespeare und Schiller und Goethe kannten. Auf einem andern Gebiet war seine Kenntnis lückenlos und umfassend – auf dem der Oper in allen ihren Gattungen, angefangen von der Opera seria und Opera buffa bis zum deutschen Singspiel, der französischen Opéra comique, der Festa teatrale, der Serenata teatrale, der Pantomime und dem Ballett. Nur die Verbindung von gesprochenem Drama und malender Instrumentalmusik, das Monodrama oder Duodrama, war ihm bis zum Mannheimer Besuch fremd geblieben, und er ist von der Wirkung anfangs ganz »surpreniert«. Von seinen sechsunddreißig Jahren hat er fünfundzwanzig mit »theatralischer« Musik zu tun gehabt. Man müßte sagen, daß sein Lebenswerk in Oper jeder Art kulminiert, daß er ein Opernmensch katexochen gewesen ist, wenn man nicht ebenso richtig sagen müßte, daß es seinen höchsten Gipfel in der Instrumentalmusik erreicht habe. Und damit wären wir zurückgekehrt zu unserem Ausgangspunkt: der Erkenntnis seiner einzigartigen Universalität.

Fußnoten

1 »La Venerazione, la Stima ed il Rispetto, che porto verso la di lei degnissima Persona, mi spinse di incommodarla colla presente e di mandargli un debole Pezzo di mia Musica, rimettendola alla di lei maestrale Giudicatura. Scrissi l'anno scorso il Carnevale una opera buffa (La finta giardiniera) à Monaco in Baviera. Pochi giorni avanti la mia partenza di là desiderava S: A: Elettorale di sentire qualche mia Musica in contrapunto: ero adunque obligato di scriver questo Mottetto in fretta per dar Tempo à copiar il Spartito per sua Altezza, ed à cavare le Parti per poter produrlo la prossima Domenica sotto la Messa grande in tempo del Offertorio. Carissimo e Stimatissimo Signor Padre Maestro! Lei è ardentemente pregato di dirmi francamente, e senza riserva, il di lei parere. Viviamo in questo mondo per imparare sempre industriosamente, e per mezzo dei raggionamenti di illumminarsi l'un l'altro, e d'affatigarsi di portar via sempre avanti le scienze e le belle arti. Oh quante e quante volte desidero d'esser piu vicino per poter parlar e raggionar con Vostra Paternità molto Reverenda! Vivo in un Paese dove la Musica fa pocchissima Fortuna, benche oltra di quelli, chi ci hanno abandonati, ne abbiamo ancora bravissimi Professori e particolarmente compositori di gran Fondo, sapere e gusto. Per il Teatro stiamo male, per mancanza dei Recitanti. Non abbiamo Musici, e non gli averemo si facilmente, già che vogliono esser ben pagati: e la generosità non è il nostro diffetto. Io mi diverto intanto à scrivere per la Camera e per la chiesa: e ne son quivi altri due bravissimi Contrapuntisti, cioè il Sgr: Haydn e Adlgasser. Il mio Padre è Maestro della chiesa Metropolitana, che mi da l'occasione di scrivere per la chiesa, quanto che ne voglio. Per altro essendo il mio Padre già 36 anni in servizio di questa Corte, e sapendo, che questo Arcivescovo non può e non vuol vedere gente avanzata in Età, non lo se ne prende à Core, si è messo alla Letteratura per altro già suo studio favorito. La nostra Musica di chiesa è assai differente di quella d'Italia, e sempre più, che una Messa con tutto Il Kyrie, Gloria, Credo, la Sonata all'Epistola, l'offertorio o sia Mottetto, Sanctus ed agnus Dei ed anche la più solenne, quando dice La Messa il Principe stesso, non ha da durare che al più longo 3 quarti d'ora. Ci vuole un studio particolare per questa sorte di Compositione. E che deve però essere una Messa con tutti stromenti – Trombe di guerra Tympani etc. Ah! che siamo si lontani Carissimo Signor Padre Maestro, quante cose che avrei à dirgli! – – Reverisco devotamente tutti i Signori Filarmonici: mi raccomando via sempre nelle grazie di lei e non cesso d'affligermi nel vedermi lontano dalla Persona del mondo che maggiormente amo, venero e stimo ...«
2 Mozart nennt seine Landsleute: Fexen, das heißt gespreizte Narren.
3 F. Bertoni, den man in S. engagieren wollte, wandte sich nach Frankreich.
4 Misliweczek lag, mit einer galanten Krankheit, ein Jahr vorher im Münchner Herzog-Spital.
5 V.S. – volti subito; d.h. ich will das Blatt wenden, sooft es verlangt wird.
Quelle:
Einstein, Alfred: Mozart. Sein Charakter, sein Werk. Zürich, Stuttgart 31953, S. 124.
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