X.

[62] Es ist schon mehrere Mahle der großen Sorgfalt gedacht worden, mit welcher Bach sein ganzes Leben hindurch an seinen Werken zu verbessern suchte. Ich habe Gelegenheit gehabt, viele Abschriften seiner Hauptwerke aus verschiedenen Jahren mit einander zu vergleichen, und ich muß gestehen, daß ich mich oft über die Mittel gewundert und gefreut habe, deren er sich bediente, um nach und nach das Fehlerhafte gut, das Gute besser und das Bessere zum Allerbesten zu machen. Nichts kann für einen Kenner, so wie für jeden eifrigen Kunstbeflissenen, lehrreicher seyn, als solche Vergleichungen. Es wäre daher sehr zu wünschen, daß der Ausgabe der sämmtlichen Bachischen Werke am Ende ein Heft beygefügt werden könnte, bloß um darin die wichtigsten und lehrreichsten Varianten[62] aus seinen besten Werken zu sammeln, und zur Vergleichung neben einander zu siegen. Warum sollte so etwas bey den Werken des Componisten, des Dichters in Tönen nicht eben so gut geschehen können, als bey den Werken des Dichters in Worten?

In seinen frühern Arbeiten war Bach wie andere Anfänger sehr oft in dem Fall, einerley Gedanken mehrere Mahle, nur mit andern Worten zu wiederhohlen, das heißt: dieselbe Modulation wurde vielleicht in einer tiefern, vielleicht in eben derselben Octave, oder auch mit einer andern melodischen Figur wiederhohlt. Eine solche Armuth konnte er in reifern Jahren nicht ertragen; was er also von dieser Art fand, wurde ohne Bedenken verworfen, das Stück mochte auch schon in so vielen Händen seyn, oder so vielen gefallen haben, als es wollte. Zwey der merkwürdigsten Beyspiele hiervon sind die beyden Präludien aus C dur und Cis dur im ersten Theil des wohltemp. Claviers. Beyde sind dadurch zwar um die Hälfte kürzer, aber auch zugleich von allem unnützen Ueberfluß befreyt worden.

In andern Stücken sagte Bach oft zu wenig. Sein Gedanke war also nicht vollständig ausgedrückt, und bedurfte noch einiger Zusätze. Hiervon ist mir als das merkwürdigste Beyspiel unter allen das Präludium in D moll aus dem 2ten Theil des wohlt. Claviers vorgekommen. Ich besitze vielerley verschiedene Abschriften dieses Stücks. In der ältesten fehlt die erste Versetzung des Thema in den Baß, so wie noch manche andere Stelle, die zur vollständigen Darstellung des Gedankens erforderlich war. In der zweyten ist die Versetzung das Thema in den Baß, so oft es in verwandten Tonarten vorkommt, eingeschaltet. In der dritten sind auch andere Sätze vollständiger ausgedrückt und in bessern Zusammenhang gebracht worden. Endlich waren noch einige Wendungen oder Figuren der Melodie übrig, die dem Geist und Styl des Ganzen nicht anzugehören schienen. Diese sind in der vierten Abschrift so gebessert, daß nun dieses Präludium zu einem der schönsten und tadellosesten im ganzen wohlt. Clavier geworden ist. Mancher hatte sein Wohlgefallen schon an der ersten Einrichtung desselben, und hielt die nachherige Umschaffung für weniger schön. Bach ließ sich aber dadurch nicht irre machen; er besserte so lange daran, bis es ihm gefiel.

Im Anfang des verflossenen Jahrhunderts war es Mode, auf Instrumenten einzelne Töne so mit Laufwerk zu überhäufen, wie man seit einiger Zeit wieder anfängt, es[63] im Gesange zu thun. Bach bewies der Mode seine Achtung dadurch, daß er ebenfalls einige Stücke in dieser Art componirte. Eines derselben ist das Präludium in E moll aus dem ersten Theil des wohltemp. Claviers. Er kehrte aber bald zur Natur und zum reinen Geschmack zurück, und änderte es so um, wie es nun gestochen ist.

Jedes Jahrzehend hat einige Formen von melodischen Wendungen, die demselben eigen sind, die aber gewöhnlich schon mit dem Ablauf desselben veralten. Ein Componist, der seine Werke auf die Nachwelt zu bringen gedenkt, muß sich vor ihnen hüten. Bach scheiterte in seinen frühern Jahren ebenfalls an dieser Klippe. Seine ersten Orgelcomponisten, und seine zweystimmigen Inventionen nach ihrer ersten Gestalt sind voll von Floskeln seines Zeitgeschmacks. Die Orgelsachen sind geblieben, wie sie einmahl waren; aber die Inventionen haben große Verbesserungen erhalten. Das Publicum wird bald Gelegenheit haben, sie in ihrer ältern und neuern Gestalt mit einander zu vergleichen, da die Verlagshandlung den rühmlichen Entschluß gefaßt hat, die erste Ausgabe derselben zu unterdrücken, und den Interessenten eine verbesserte dafür zu liefern.

Die bisher angegebenen Verbesserungsmittel erstrecken sich jedoch nur auf äußere Form, und auf das zu viel und zu wenig in der Darstellung eines Gedankens im Großen. Aber Bach bediente sich noch weit häufiger feinerer Mittel zur Vervollkommnung seiner Werke, die man kaum beschreiben kann. Einheit des Styls und Charakters wird oft in einzelnen Stellen durch Umänderung einer einzigen Note erhalten, gegen welche in ihrer vorigen Lage auch der strengste musikalische Grammatiker nichts erinnern konnte, die aber dennoch den Kenner immer noch etwas anderes wünschen ließ. Auch gemeine Sätze werden oft durch Veränderung, Wegnehmen oder Hinzusetzen einer einzigen Note in die edelsten umgeschaffen. Hier kann nur das geübteste Gefühl und der feinste, gebildetste Geschmack entscheiden. Dieses seine Gefühl und diesen gebildeten Geschmack besaß Bach in der höchsten Vollkommenheit. Er hatte beydes nach und nach so geübt, daß ihm zuletzt gar kein Gedanke mehr kommen konnte, der nicht sogleich nach allen seinen Eigenschaften und Beziehungen dem Ganzen so angehörte, wie er sollte und mußte. Seine spätern Werke sind daher sämmtlich wie in einem Guß gegossen, so weich, sanft und eben strömt der ungeheure Reichthum der verschiedensten in einander verschmolzenen Gedanken darin[64] fort. Dieß ist die hohe Stufe von Kunst-Vollendung, die in der innigsten Vereinigung der Melodie und Harmonie noch Niemand als Joh. Seb. Bach erreicht hat.

Quelle:
Forkel, Johann Nikolaus: Über Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke. Leipzig 1802 (Nachdruck Frankfurt am Main 1950), S. 62-65.
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