Vorrede.

Schon seit vielen Jahren habe ich die Absicht gehabt, über Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke dem Publicum einige Nachrichten und Gedanken mitzutheilen, da der kleine von C.Ph. Eman. Bach und dem ehemahligen Preußischen Hof-Componisten Agricola herrührende Aufsatz, der sich im dritten Band der Mitzlerschen musikalischen Bibliothek befindet, den Verehrern jenes großen Mannes schwerlich Genüge leisten kann. Ich würde mein Vorhaben sicher auch bereits ausgeführt haben, wenn nicht die Ausarbeitung der allgemeinen Geschichte der Musik mich bisher zu sehr beschäftigt hätte. Da in der Geschichte dieser Kunst Bach mehr als irgend ein anderer Künstler Epoche gemacht hat, so beschloß ich die zu seinem Leben gesammelten Materialien für den letzten Band des genannten Werks aufzusparen. Die rühmliche Unternehmung der Hoffmeister- und Kühnelschen Musikhandlung in Leipzig, eine vollständige und kritisch-correcte Ausgabe der Seb. Bachischen Werke zu veranstalten, veranlaßte mich, meinen Entschluß zu verändern.

Dieses Unternehmen ist nicht nur der Kunst selbst in jedem Betrachte äußerst vortheilhaft, sondern muß auch mehr als irgend eines der Art zur Ehre des deutschen Nahmens gereichen. Die Werke, die uns Joh. Seb. Bach hinterlassen hat, sind ein unschätzbares National-Erbgut, dem kein anderes Volk etwas ähnliches entgegen setzen kann. Wer sie der Gefahr entreißt, durch fehlerhafte Abschriften entstellt zu werden, und so allmählig der[5] Vergessenheit und dem Untergange entgegen zu gehen, errichtet dem Künstler ein unvergängliches Denkmahl, und erwirbt sich ein Verdienst um das Vaterland; und jeder, dem die Ehre des deutschen Nahmens etwas gilt, ist verpflichtet, ein solches patriotisches Unternehmen zu unterstützen, und so viel an ihm ist, zu befördern. An diese Pflicht unser Publicum zu erinnern, diesen edlen Enthusiasmus in der Brust jedes deutschen Mannes zu wecken, achtete ich für meine Schuldigkeit, und dieß ist die Ursache, weßwegen diese Blätter früher erscheinen, als sonst geschehen seyn würde. Auch hoffe ich, daß es mir auf diesem Wege möglich seyn wird, zu einem größern Theil meiner deutschen Mitwelt zu sprechen; was ich in meiner Geschichte der Musik von Bach zu sagen habe, möchte vielleicht bloß von dem kleinen Kreise der Kunstgelehrten gelesen werden, und doch ist die Erhaltung des Andenkens an diesen großen Mann – man erlaube mir, es noch Ein Mahl zu wiederhohlen – nicht bloß Kunst-Angelegenheit – sie ist National-Angelegenheit.

Das wirksamste Mittel zur lebendigen Erhaltung musikalischer Kunstwerke bleibt freylich immer die öffentliche Aufführung derselben vor einem zahlreichen Publicum. Durch dieses Mittel sind von je her eine Menge großer Werke verbreitet worden, und werden es noch. Das Publicum hört sie vorher im Concert-Saal, in der Kirche oder im Schauspielhause mit Wohlgefallen, erinnert sich nachher des angenehmen Eindrucks und kauft sodann das herausgekommene Werk, ohne vielleicht Gebrauch davon machen zu können. Aber wo, durch wen soll das Publicum Bachs Werke hören, da es von je her so wenige gegeben hat, die sie gehörig vortragen konnten? Ganz anders würde es geworden seyn, wenn Bach selbst sie an mehrern Orten hätte hören lassen können. Aber dazu hatte er weder Zeit noch Luft. So oft dieß irgend einer seiner Schüler that, obgleich deren keiner sie in[6] der Vollkommenheit vortrug, wie der Meister, entstand doch stets Staunen und Verwunderung über die nie gehörte, so große und doch so faßliche Kunst. Wer es nur irgend vermochte, spielte sodann wenigstens eines oder einige von den Stücken, die gerade der Bachische Schüler am besten in der Hand hatte, die folglich auch am meisten gefielen. Diese Stücke wurden auch niemand schwer, weil man vorher gehört hatte, wie sie klingen mußten.

Soll der wahre Genuß großer musikalischer Kunstwerke allgemeiner werden, so müssen wir vor allen Dingen bessere Musiklehrer haben. Im Mangel guter Lehrer liegt eigentlich die Quelle alles musikalischen Uebels. Um sich bey Ehren zu erhalten, muß der ungeschickte, selbst nicht unterrichtete Lehrer seinen Schülern nothwendig eine schlechte Meynung von guten Kunstwerken beybringen, weil er sonst in Gefahr gerathen könnte, von dem Schüler aufgefordert zu werden, sie ihm vorzuspielen. Der Schüler wird also genöthigt, Zeit, Mühe und Geld an unnütze Klimpereyen zu verschwenden, und kommt vielleicht nach einem halben Dutzend von Jahren in eigentlich musikalischer Bildung keinen Schritt weiter, als er beym ersten Anfange war. Bey einem bessern Unterricht hätte er nicht die Hälfte von Zeit, Mühe und Geld bedurft, um auf einen Weg gebracht zu werden, auf welchem er bis ans Ende seines Lebens mit Sicherheit zu immer größerer Vollkommenheit hätte fortschreiten können. Wie viel sich gegen dieses Uebel dadurch ausrichten läßt, daß wenigstens in allen Musikhandlungen die Bachischen Werke zur Schau ausgestellt werden, und daß die Kenner und Verehrter echter musikalischer Kunst sich vereinigen, laut die Vortrefflichkeit dieser Werke zu predigen, und das Studium derselben zu empfehlen, das müssen wir von der Zeit erwarten.[7]

Ausgemacht bleibt es, wenn die Kunst Kunst bleiben, und nicht immer mehr zu bloß zeitvertreibender Tändeley zurück sinken soll, so müssen überhaupt klassische Kunstwerke mehr benutzt werden, als sie seit einiger Zeit benutzt worden sind. Bach, als der erste Klassiker, der je gewesen ist, und vielleicht je seyn wird, kann hierin unstreitig die besten Dienste leisten. Wer seine Werke erst einige Zeit studirt hat, wird bloßen Klingklang von wahrer Musik unterscheiden, und jede Manier, die er in der Folge etwa wählen mag, als guter, unterrichteter Künstler bearbeiten. Auch vor Einseitigkeit, wohin nichts so leicht als der herrschende Zeitgeschmack führt, werden wir durch das Studium solcher Klassiker bewahrt, die den Umfang der Kunst so erschöpft haben, wie Bach. Kurz, es würde für die Kunst nicht weniger nachtheilig seyn, wenn wir unsere Klassiker auf die Seite werfen wollten, als es für den guten Geschmack in der Gelehrsamkeit nachtheilig werden würde, wenn das Studium der Griechen und Römer aus unsern Schulen verbannt werden sollte. Der Geist der Zeit, der mehr aufs Kleine und auf den augenblicklichen Genuß gerichtet ist, als auf das Große, das erst mit einiger Mühe und sogar Anstrengung errungen werden muß, hat wirklich wenigstens den Vorschlag zur Verbannung der Griechen und Römer aus unsern Schulen hier und da schon veranlaßt; es ist nicht zu zweifeln, daß ihm auch unsere musikalischen Klassiker ungelegen sind; denn recht beym Lichte besehen, muß er sich wirklich in seiner großen Armuth vor ihnen herzlich schämen, und am allermeisten vor unserm fast überreichen Bach.

Möchte ich nur im Stande seyn, die erhabene Kunst dieses Ersten aller deutschen und ausländischen Künstler recht nach Würden zu beschreiben! Nächst der Ehre, selbst ein so großer, über alles hervorragender Künstler zu seyn, wie er es war, gibt es vielleicht[8] keine größere, als eine so ganz vollendete Kunst gehörig würdigen und mit Verstand davon reden zu können. Wer das Letztere vermag, muß mit dem Künstler selbst nicht ganz unähnlichen Geistes und Sinnes seyn, hat also gewissermaßen die schmeichelhafte Vermuthung für sich, daß er vielleicht auch das Erstere vermocht haben würde, wenn ähnliche äußere Veranlassungen ihn auf die dazu erforderliche Bahn geführt hätten. Aber ich bin nicht so unbescheiden zu glauben, daß ich je eine solche Ehre erringen könnte. Ich bin vielmehr innigst überzeugt, daß keine Sprache in der Welt reich genug ist, um alles damit auszudrücken, was von dem hohen Werth und von dem erstaunlichen Umfang einer solchen Kunst gesagt werden könnte und müßte. Je genauer man damit bekannt wird; desto höher steigt unsere Bewunderung für sie. All unser Rühmen, Preisen und Bewundern derselben wird stets bloß gutgemeyntes Lallen und Stammeln seyn und bleiben. Wer Gelegenheit gehabt hat, Kunstwerke mehrerer Jahrhunderte mit einander zu vergleichen, wird diese Erklärung nicht übertrieben finden; er wird vielmehr selbst der Meynung geworden seyn, daß man von Bachischen Werken, wenn man sie völlig kennt, nicht anders als mit Entzücken, und von einigen sogar nur mit einer Art von heiliger Anbetung reden könne. Seine Handhabung des innern Kunstmechanismus können wir allenfalls begreifen und erklären; aber wie er es gemacht hat, diesem ebenfalls nur von ihm erreichten so hohen Grad der mechanischen Kunst zugleich den lebendigen Geist einzuhauchen, der uns auch im geringsten seiner Werke so deutlich anspricht, wird wohl stets nur gefühlt und angestaunt werden können.

Auf Vergleichungen Joh. Seb. Bachs mit einzelnen Componisten habe ich mich nicht einlassen wollen. Wer ihn mit Händel verglichen sehen will, findet eine von einem vollkommen Sachkundigen Manne verfaßte, sehr gerechte und billige Schätzung ihrer beyderseitigen[9] musikalischen Verdienste im ersten Stück des 81sten Bandes der allgem. deutsch. Bibl. S. 295-303.

Meine Nachrichten, in so weit sie von dem vorerwähnten kleinen Aufsatz in Mitzlers Bibliothek abgeben, verdanke ich den beyden ältesten Söhnen Joh. Seb. Bachs. Beyde kannte ich nicht nur persönlich, sondern habe auch lange Jahre hindurch mit ihnen, am meisten aber mit C.Ph. Emanuel in beständigem Briefwechsel gestanden. Die Welt weiß, daß beyde selbst große Künstler waren; aber sie weiß vielleicht nicht, daß sie von der Kunst ihres Vaters bis an ihr Ende nie anders als mit Begeisterung und Ehrfurcht sprachen. Da ich von früher Jugend an dieselbe Verehrung für die Kunst ihres Vaters hatte, so war sie im Gespräch so wohl als in Briefen sehr häufig der Gegenstand unserer Unterhaltung. Diese Unterhaltungen haben mich nach und nach mit allem, was Joh. Seb. Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke betrifft, so bekannt gemacht, daß ich nun hoffen darf, dem Publicum nicht nur etwas Ausführliches, sondern auch zugleich etwas Nützliches davon sagen zu können.

Ich habe dabey durchaus keinen andern Zweck, als das Publicum auf ein Unternehmen aufmerksam zu machen, wobey es lediglich darauf abgesehen ist, deutscher Kunst ein würdiges Denkmal zu stiften, den wahren Künstler eine Gallerie der lehrreichsten Muster zu errichten, und den Freunden der musikalischen Muse eine unerschöpfliche Quelle des erhabensten Genusses zu eröffnen.[10]

Quelle:
Forkel, Johann Nikolaus: Über Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke. Leipzig 1802 (Nachdruck Frankfurt am Main 1950).
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