XVIII.

Die große Wendung.

[449] Über München nach Zürich. – Mariafeld am Züricher See. – Unterredungen mit Frau Wille. – Aufbruch nach Stuttgart. – Eckert und Freiherr von Gall. – Ankunft des königlichen Abgesandten. – Mit Pfistermeister nach München. – Erste Begegnung mit König Ludwig – Reise nach Wien und Rückkehr nach München.


Ich war am Vergehen; jede Bemühung für mein Gedeihen war fehlgeschlagen; ich war entschlossen, für alle Zeiten mich in eine Zuflucht zurückzuziehen. In den Wochen, wo dies Alles reifte, ließ der junge König von Bayern mich überall da aufsuchen, wo ich nicht zu finden war.

Richard Wagner.


In München fand er die Stadt in voller Trauer. Hier war vierzehn Tage zuvor der allverehrte und beklagte König Maximilian II. gestorben. Nach kurzer Rast ging er über den Bodensee nach Zürich, wo er am Ostersonntag eintraf. Das Wetter war stürmisch und rauh trotz des nahen Frühlings Ohne weiteren Aufenthalt begab er sich hinaus nach Mariafeld, auf die Besitzlichkeit seiner alten Züricher Freunde. Dr. Wille selbst war nicht zu Hause, er hatte sich einer Reisegesellschaft zu einer Vergnügungsreise nach Konstantinopel angeschlossen. Gastlich empfing ihn dessen Gattin, indem sie ihm nur ihr Bedauern aussprach, daß sie kaum Zeit gehabt, die durch Winterkälte und Unbenutztheit unwohnlichen Gastzimmer durch Heizung und Lüftung für ihn behaglich zu machen. Außer ihr waren zwei ihrer studierenden Söhne auf Ferien daheim, um die Einsamkeit ihres Landsitzes zu beleben.

Wir können in der Schilderung der von dem Meister unter ihrem Dache verbrachten vier Wochen nur den Erinnerungen seiner Gastfreundin folgen, indem wir ihre Erzählung darüber im Wesentlichen teils mit ihren eigenen Worten, teils referierend wiedergeben. ›Sein Aufenthalt bei uns ist durch kein einziges Ereignis, das ich bedeutend nennen dürfte, erheitert worden. Ich hatte den werten Gast so logiert und so eingerichtet, wie er es als Wunsch [449] in seinem Briefe mitgeteilt: er wollte arbeiten, völlig ungeniert sein, und ich hatte ihm sogar eigene Bedienung gegeben. Mancher Besuch aus Zürich, den Neugier und Interesse hergeführt, wurde von mir abgewiesen; Wagner war nicht in der Stimmung, sich solchen Störungen anzubequemen. Er schrieb und empfing viele Briefe1; er bat mich, keine Rücksicht auf ihn zu nehmen, ihn nicht weiter zu beachten, ihn in seinem Zimmer allein essen zu lassen, wenn mich dies nicht zu sehr in der Haushaltung störe. Es war mir angenehm, dem Freunde nach Möglichkeit zu willfahren. Nach Zürich wollte er nicht: die Arbeit behagte ihm nicht; er ging aber viel allein spazieren. Ich sehe ihn noch auf der Terrasse unseres Gartens in seinem braunen Sammettalar mit dem schwarzen Barett als Kopfbedeckung, als wäre er ein Patrizier aus den Bildern Albrecht Dürers, hin- und herschreiten‹. – Reizbare Nerven und das mächtig webende Leben der Phantasie, meint Frau Wille, hätten ihm die Bedrängnisse jener Zeit zur Qual gemacht. Er sei in einer Gemütsverfassung gewesen, in welcher ein Sohn seine Mutter aufsucht, wenn er glücklich genug ist, diese noch zu besitzen. ›Der stärkste Mann braucht zuweilen ein Herz, das Unzufriedenheit und Klagen, ungerechten Zorn und schwer verhaltenen Ärger als vorübergehende Störung anhört. Er hatte immer Vertrauen zu mir gehabt; er wußte, daß ich herzlich gern helfen wollte, aber nur so wie es mir (!) recht und gut vorkam. Äußerungen der gepeinigten, getäuschten Hoffnung, des Ärgers, der stürmenden Phantasie, wie er sie in seiner jetzigen Verstimmung vorbrachte, sind wie das unruhige Walten der Elemente in der Natur; der Wind muß den Nebel auseinanderjagen, dann sind wir wieder im Sonnenschein. So war's denn auch Sonnenschein an manchem guten Tage, wo er sich aufgelegt fühlte, in meinem Familienzimmer sich niederzulassen. Wer ihn gekannt, weiß wie warm und liebenswürdig er sein konnte. Die Söhne neben der Mutter wurden freundlichst beachtet. Er erzählte von seiner Kindheit und ersten Jugend, als wolle er von dem Nachhall peinlicher Eindrücke weg unter heitern Bildern sich erholen. Hübsch konnte Wagner necken und erzählen. Es hatte ihm in Wien gefallen (!!), er nannte Wien die einzige musikalische Stadt Deutschlands. Seine Wohnung in Penzing hatte er geschmackvoll und ihm zusagend eingerichtet. Er erzählte von dem Dienerpaar, Mann und Frau, welche ihm die Haushaltung gut besorgt hatten2, von dem großen Hunde, dem prächtigen treuen Tier, das ihm hier fehle. Die gute Stimmung war aber bald wieder vorüber. Es kamen Briefe, die ihn verstimmten. Er zog sich in die Einsamkeit seines Zimmers zurück, und wenn er mich allein traf, strömte er sich aus in Worten, die im Hinblick auf die Zukunft selten heiter klangen.‹

[450] ›An einem Tage, wo ich den werten Mann so verstimmt fand, daß ich nicht wußte, ob ich reden oder schweigen sollte – und er war doch zu mir gekommen und wartete, daß ich anfange und ihn etwas frage –, dachte ich, es sei doch tief traurig, daß die festen, sicheren Bande des Lebens, Familie, Geschwister, Jugendfreunde, auch die Frau, die er jahrelang gehabt, aus dem Dasein dieses wunderbaren Menschen eben jetzt gleichsam ausgelöscht schienen!‹ So berechtigt in mancher Hinsicht diese Reflexion, so verworren ist die gleich darauffolgende Beziehung auf die angeblich ›harten Worte‹, welche Wagner in der Vorrede zu ›Oper und Drama‹3 über das Unglück einer in der Jugend, unter armseligen Verhältnissen geschlossenen Ehe gesagt und seinerzeit im Beisein seiner Frau den Freunden vorgelesen habe. Wer die Stelle nachliest (und es gibt bekanntlich keine andere, mit ihr zu verwechselnde), kann sich leicht überzeugen, daß ihre ›Härte‹ sich allein gegen ihn selbst richtet und gegen Minna darin auch nicht der leiseste Vorwurf enthalten ist! Es besteht demnach nicht der mindeste Gegensatz zwischen dieser – mißdeuteten – Äußerung und der Sorge, welche Wagner tatsächlich selbst in jenen dunklen Mariafelder Tagen um sie trug. Von dieser Sorge nämlich hatte er Tags zuvor zu seiner Wirtin gesprochen und sie nahm an, daß sie und keine andere der Grund seiner tiefen Verstimmung sei. ›Ich hatte das Gefühl‹, so sagt sie, ›Wagner hat diese Frau in seiner Jugend doch geliebt, mag sie tausendmal ihm nicht ebenbürtig sein. Er denkt jetzt an ihr einsames Leben in Dresden; seine Pflicht, ihr das Nötige zukommen zu lassen, drückt ihn neben seinen anderen finanziellen Verwickelungen.‹ Anderen Tages – habe er einen Brief hervorgezogen und gesagt: ›Hiermit ist, was ich Ihnen gestern klagte, überwunden. In Paris ist man so anständig, von Konzerten, die im Freien gegeben werden, dem Komponisten eine Tantième zu entrichten.‹ Dann habe er, plötzlich auflodernd, fortgefahren: ›Zwischen meiner Frau und mir hätte alles gut gehen können; ich hatte sie nur heillos verwöhnt und ihr in allem recht gegeben. Sie fühlte nicht, daß ein Mann wie ich nicht mit gebundenen Flügeln leben kann! Was wußte sie von dem göttlichen Rechte der Leidenschaft, welches ich in dem Flammentode der aus der Götterhuld verstoßenen Walküre verkünde?‹ In einem späteren Brief an Frau Wille kommt Wagner, in gegebenem Anlaß, noch einmal auf den gleichen Gedanken zurück, – aber ohne den romantischen Zusatz, dessen Beziehung in der ihm gegebenen Form leider unklar bleibt, wie sich Wagner nicht auszudrücken pflegte4. Aber auch in einem der vorausgehenden Sätze (›er denkt jetzt an [451] ihr einsames Leben in Dresden‹) liegt ein fremder sentimentaler Zug, von dem Wagner jederzeit weit entfernt war. Wie konnte es ihm wohl unter den damaligen Verhältnissen in den Sinn kommen, Minna wegen ihrer angeblichen ›Einsamkeit‹ zu bemitleiden, da sie doch an dem Aufenthaltsorte ihrer Wahl im Kreise ihrer Verwandten und im Umgang mit rechtlichen, aufrichtig ergebenen Freunden5 nichts weniger als einsam, und jedenfalls gerade in diesem schweren Augenblick weit besser daran war als er?

›Mit jedem Tage‹, fährt Frau Wille in ihrer Erzählung fort, ›ward es mir deutlicher, irgend etwas Außerordentliches müsse eintreten, ein Glück müsse aus den Wolken niederfahren; auf dem gewöhnlichen Wege der Selbsthilfe und der Geduld könne dieser Kunstgewaltige nicht von dem Felsen loskommen, an welchen ihn feindliche Götter geschmiedet.‹ ›Ich hatte aus meines Mannes Bibliothek Gott weiß was Alles zusammengeholt und in Wagners Stube aufgestellt: Werke über Napoleon, über Friedrich den Großen, sogar Werke deutscher Mystiker, die Wagner bedeutend waren, während er Feuerbach und Strauß als trockene Gelehrte zurückwies. Was ich eben wußte, das gab ich ihm in seliger Unbefangenheit zum besten: erheitern konnte ich ihn aber nicht. Ich sehe ihn in dem Sessel sitzen, welcher dort an meinem Fenster steht, wie damals, und ungeduldig zuhören, als ich ihm eines Abends von der Herrlichkeit einer Zukunft sprach, die doch ganz gewiß vor ihm liege. Die Sonne war eben in Glorie untergegangen, Erde und Himmel leuchteten und strahlten. Wagner sagte: »was reden Sie mir von der Zukunft, wenn meine Partituren im Schrein verschlossen liegen? Wer soll das Kunstwerk aufführen, das ich, nur ich, unter Mitwirkung glücklicher Dämonen zur Erscheinung bringen kann, daß alle Welt wisse: so ist es, so hat der Meister sein Werk geschaut und gewollt?« In Erregung ging er in der Stube auf und ab. Plötzlich vor mir stille stehend, sagte er: »Ich bin anders organisiert, habe reizbare Nerven, – Schönheit, Glanz und Licht muß ich haben! Die Welt ist mir schuldig, was ich brauche! Ich kann nicht leben auf einer elenden Organistenstelle, wie Ihr Meister Bach! – Ist es denn eine unerhörte Forderung, wenn ich meine, das bischen Luxus, das ich leiden mag, komme mir zu? Ich, der ich der Welt und Tausenden Genuß bereite!« So redend hob er wie im Trotz das Haupt. Dann saß er wieder im Sessel am Fenster und sah vor sich hin. Was sagte ihm in diesem Augenblick die Herrlichkeit der Aussicht und der Frieden der Natur?‹ Und noch ein anderes Mal kommt [452] er in diesen Gesprächen auf ein ähnliches Thema: ›Ihre Resignationsweisheit, liebe Freundin, paßt nicht zu mir. Ich weiß ja, wohin Sie wollen, wenn Sie mir sagen, das Bürgerstübchen gefalle Ihnen, in welches ich meinen Hans Sachs hinein setze. Ich meine aber, ich habe ihm auch die andere Seite gegeben: er steht auf der Wiese in freier Luft am Johannistage, während Stadt und Volk ihm zujubeln, weil er der Meistersinger ist! Die Welt wird sich verwundern, wenn sie die Töne und Akkorde hört, die ich dem Meistersinger zu Ehren anschlage, der das Lied von der Wittenbergischen Nachtigall eurem Luther zu Ehren gesungen hat!‹ Wenn Wagner sich auf diese Weise losrang von der Macht des verstimmenden Augenblickes, so schwand in mir jedes armselige Mitleid. Ich hörte von Ferne Siegesfanfaren.

›Zwar will ich nicht leugnen, daß ich manchmal voll Verlangen nach dem Zauberstabe aussah, der nicht fehlen durfte zum Erfolg.‹ Die einsamen Spaziergänge, das Briefschreiben, die Selbstbeförderung derselben auf die Post sollten wieder ihren Fortgang haben. Auch die wechselnden Stimmungen, welche Zerstreuungen abwiesen, und die Lust zur Arbeit gewaltig zurückdrängten, waren wieder da. Eines Tages hatte der verehrte Gast bei mir anfragen lassen, ob ich schon für ihn sichtbar sei? Die Post hatte ihm einen lang erwarteten Brief von Petersburg gebracht. Er hatte während seiner dortigen Konzertleistungen besondere Huld und Anerkennung bei der Großfürstin Helene gefunden. Die geistvolle Dame hatte den außerordentlichen Mann ausgezeichnet: auch die Herzogin von Leuchtenberg hatte mit dem Enthusiasmus ihrer Bewunderung die ganze hohe Gesellschaft zu gleicher Begeisterung und Teilnahme fortgerissen. ›Ich könnte wieder nach Petersburg und Moskau‹, sagte er, ›das Publikum war bezaubert; aber zum Konzertvirtuosen bin ich nicht geschaffen. Die Großfürstin hatte mich ermächtigt, unter allen Umständen mich auf ihre tätige Freundschaft zu stützen, – und nun dieser Brief, von einer Dame des Hofes in abweisender Form geschrieben!6 Ich meinte‹, fuhr er fort, ›es müsse der Großfürstin lieb sein, ihr im Enthusiasmus gegebenes Versprechen einzulösen. In Petersburg sehen sie mich nicht wieder!‹7

[453] »Briefe gingen und kamen. Die Widerwärtigkeiten seiner Verhältnisse hatten sich durch Kränkungen fühlbar gemacht, die ihn verfinsterten. Allmählich erst brach wieder Licht durch die verdüsterte Stimmung. Eine Zeit der Ruhe schien endlich gekommen zu sein. Er saß bei seiner Arbeit und niemand durfte ihn stören. Wenn er uns am Abend besuchte, war er liebenswürdig wie vor zwölf Jahren. Die Einförmigkeit der Tage und der Lebensweise in Mariafeld war ihm recht. Wir hatten so lange jeden Besuch abgewiesen, daß niemand mehr an uns zu denken schien. Zur Erheiterung wurde mancherlei von uns geplant. Plötzlich waren aber wieder fatale Briefe gekommen Wagner legte abermals seine Arbeit zusammen. Die alte Freundin war jetzt nötig; vieles wurde ihr mitgeteilt. Das Wetter war so, daß man auf die Höhen konnte; Wagner ging mit mir, so weit ich mochte. Er war leidend, sollte sich Bewegung machen. Er trank Vichy-Wasser und hatte schlaflose Nächte. Wenn er in seinem Zimmer ruhte, hatte er einen Band Schopenhauer in den Händen. ›Niemand ist tiefer als ich in den Geist dieses Philosophen eingedrungen‹, sagte er mir. ›Erinnern Sie sich, was Wille mir einmal als Gruß von Schopenhauer mitbrachte?8 »Sagen Sie Ihrem Freunde Wagner in meinem Namen Dank für die Zusendung seiner Nibelungen, allein er solle die Musik an den Nagel hängen, er hat mehr Genie zum Dichter! Ich, Schopenhauer, bleibe Rossini und Mozart treu!« Meinen Sie, ich hätte dieses dem Philosophen nachgetragen? Semper wollte nie etwas hören von Schopenhauers Philosophie, sie vernichte alles künstlerische Wirken. Meine Werke sprechen vom Gegenteil!9 Semper konnte das Kleinliche nicht gelten lassen, in stolzen würdigen Formen wollte er seine Größe als Baumeister zeigen. Ich habe dasselbe im Sinn mit meinen Werken, – hierin sind wir eins.‹ Plötzlich fuhr er auf und sagte: ›Das können Sie mir glauben, Freundin, es ist eine elende, erbärmliche, jeder Größe feindliche Welt, mit welcher unsereiner sich abfinden soll‹ – – An einem seltsam schönen klaren Morgen war er von einem seiner Frühspaziergänge zurückgekehrt. ›Er fand mich mit allerlei Handarbeit beschäftigt und fragte, was ich denn vorhabe. – »Frühlingsarbeiten«, – sagte ich – »bald muß das ganze Haus geputzt und gewaschen werden.« – »Frühlingsarbeiten«, erwiderte er, »ich meinte, das sei Veilchenpflücken.« Er fand meine Frühlingsarbeiten so wenig graziös, daß er mich »Fricka« nannte. Trotzdem hatte er Platz genommen und erzählte, daß er eine böse Nacht gehabt habe; nur der Sonnenschein und die reine Luft auf unseren Berghöhen habe ihn wieder aufgefrischt. Er habe die ganze Nacht mit König Lear zu tun gehabt, den seine Töchter ins Elend gejagt, nachdem er in königlicher Großmut sie mit seinem Hab und Gut beschenkt. In Sturm und Gewitter habe er sich die ganze Nacht auf der Heide herumgetrieben; er selbst sei der König Lear gewesen. Der Narr habe ihm Hohnliedchen gesungen, [454] der arme Bettler Edgar als der blöde Toms gewimmert, »es sei ihm kalt«. Lear mit seiner königlichen Seele habe seinen Fluch in Nacht und Sturm hinausgeschleudert und sich groß und elend gefühlt, aber nicht erniedrigt.‹ ›Was sagen Sie, Freundin, zu solchem Erlebnis, wo der Mensch sich identisch fühlt mit dem, was der Traum ihm vorzaubert?‹«

›Von dem, was Wagner besser wissen mußte als ich, von der Musik, hätte ich natürlich nie mit ihm geredet. Aber ich erzählte ihm, wie ich einmal in großem Schmerz, als ich gemeint, nun sei mir alles dunkel geworden, die Matthäus-Passion gehört, und wie befreit, wie über Leid und Schicksal erhoben ich mich gefühlt. »Sie arme Frau«, sagt Wagner, »warum habe ich Ihnen all diese Zeit keine Musik gemacht? Heute noch sollen Sie haben, was Sie freut«, und – er spielte mir die Szene aus »Tristan und Isolde«, wo Nacht und Tod gefeiert werden in unaussprechlicher Sehnsucht der Liebe. – »Schon die Alten«, sagte er, »haben dem Eros als dem Genius des Todes die gesenkte Fackel in die Hand gegeben!« – Von dieser Zeit an hat Wagner manchmal mir zum Genuß gespielt; der Flügel in unserem Saal war ihm angenehmer als das Piano in seinem Zimmer. An einem Vormittag drangen mächtige Akkorde aus den Saal in mein Wohnzimmer herein. Ich öffnete leise die Tür und hielt den Atem an, um zu hören, was aus des Meisters Kraft gleichsam wie aus dem ersten Guß mir kam. Um nichts in der Welt würde ich ihn gestört haben. Es war mir, als fühle ich ganz unmittelbar die Macht großer künstlerischer Herrschaft über einen widerstrebenden Stoff. Was war es, das mir Phantasie und Geist so mächtig erregte? Erst Finsternis – plötzlich stellte sich ein lichter Gedanke ein – rasch aufblitzend leuchtete Freude durch die Seele. Lautlos wie ich gekommen war, ging ich wieder. Mit Wagner sprach ich nicht von dem Eindruck, den das, was ich gehört, auf mich gemacht. – Einige Tage später bat er mich, daß ich ihn auf seiner Stube besuche. Er zeigte mir Manuskripte, die in ihren Mappen lagen, und widmete mir den ganzen Abend. Ich bewunderte die Arbeitskraft, die eleganten Abschriften von seiner Hand – und gar die kleinen mit ganz seinen Noten ausgeführten Skizzen – da lagen sie wie Blumen der Schönheit in der Knospe. Ich sah den Mann, der so reich, so mächtig schaffen konnte, mit einer Mischung von Ehrfurcht und Bewunderung an.‹

In der letzten Woche des Monats April trat Frühlingswetter ein; auch der Hausherr, Dr. Wille, kehrte von seiner Orientreise zurück. ›Die Teilnahme, wie sie unter Männern ist‹, fährt die Erzählerin fort, ›zeigt sich nicht in Gefühlsäußerungen, sondern mehr in Anregung praktisch fördernder Entschlüsse. Wagner suchte jetzt Freunde in Zürich auf: es wurde sogar eine heitere Gesellschaft in unserem Hause verabredet. Eines Nachmittags wurde ein Spaziergang unternommen. Bei der Rückkehr wurde ein Paket Briefe in Wagners Hand gegeben. Er teilte mir stehenden Fußes mit, daß er am [455] nächstfolgenden Tage abreisen werde. Den Abend sahen wir ihn nicht. Am andern Morgen sagte er zu meinem Mann: er müsse zuerst zur Stärkung seiner Gesundheit eine Heilquelle aufsuchen. Dann wolle er die Theater von Stuttgart, Karlsruhe, Hannover kennen lernen und sehen, ob dort eine Aufführung seiner Werke möglich sei. Die Einrichtung zu seiner Abreise sei getroffen, einen Teil seiner Sachen lasse er gern bei uns zurück: »Ich werde wiederkommen und bei Ihnen anfragen, ob Sie mich als Nachbar auf die Dauer haben wollen«. Zu mir sich wendend, sagte er, es schwebe ihm vor als Aussicht für den Sommer, daß er in dem leerstehenden Nebenhause sich niederlassen möchte. »Bülow und seine Frau werde ich Ihnen mitbringen; dann sollen Sie Musik hören, wir wollen der lieben Frau Freude machen.« Wille war erstaunt, und sagte nicht Nein, nicht Ja. Ich war fast angstvoll befangen. Was war denn vorgefallen, daß er so plötzlich fort wollte? Ich fragte nicht. Was bedeutete sein Plan? Er konnte ja wissen, daß wir kein Laus zu vermieten haben. Als er am Abend mich allein traf, trat er zu mir und sprach mit feierlichem Ernst: »Freundin, Sie kennen den Umfang meiner Leiden nicht, nicht die Tiefe des Elends, das vor mir liegt.« Seine Worte erschreckten mich. Indem ich ihn ansah, kam plötzlich ich weiß nicht was über mich und erfüllte mich mit seltsamer Zuversicht. »Nein«, sagte ich, »nicht eine Tiefe des Elends liegt vor Ihnen! Es wird sich etwas ereignen. Was? das weiß ich nicht; aber es wird gut sein, anders als Sie meinen. Haben Sie doch Geduld, es wird zum Glücke führen!« – Am folgenden Morgen reiste Wagner weg von Mariafeld. Er hatte gut geschlafen und war in heiterer Stimmung. Als er zum Frühstück kam, erzählte er, daß er zu dem Dorfbarbier, der bei seiner Toilette den Kammerdiener machte und ihn rasierte, gesagt habe: »Ja, ja, mein Lieber, es hilft nichts, ich muß jetzt abreisen, Sie sind mir gar zu teuer.« Worauf der Mann gemeint, darum solle doch der Herr nicht abreisen, er wolle es gern billiger tun. Wagner war hierüber belustigt und meinte, ich müsse jetzt auch die Leistungen des herrlichen Musikus ohne ihn genießen, der Abends auf seiner Klarinette: »Rufst du, mein Vaterland« zu blasen pflegte. Wir sahen dem Dampfschiffe nach, das den Mann, der eine ihm eigene Welt in sich trug, von uns weg in die Ferne führte. Schon von Basel aus am selben Abend schrieb Wagner einen kurzen Gruß an Mariafeld: »Er werde wiederkommen; ich solle ihm die Wohnung und meine Freundschaft bewahren.« Ich schrieb nicht ohne Schmerz, aber mit Ehrlichkeit auf der Stelle an ihn nach Stuttgart, wohin er uns die Adresse gegeben, daß ich seinen Plänen nicht zustimme; Anderes liege vor für uns – Anderes für ihn.‹

Damit schließen die Nachrichten aus Mariafeld. Sie werden ergänzt durch einen Brief Wagners aus Stuttgart vom 2. Mai, worin er den Freunden, aus höchster Not und Bedrängnis, doch nur Entgegenkommendes, Beruhigendes [456] und Gutes mitteilt. ›Ihr Wunsch, mich nicht wieder in Mariafeld zu sehen, trifft mit meinem eigenen Gefühle hiervon zusammen. Lassen wir diese stürmische Fiebernacht, die selbst der lieblichste Sonnenschein von außen nicht erhellen wollte, beendigt sein, und decken wir einen Schleier über die wechselnden Gebilde, welche sie hervorbrachte. Auch mein nächstes Schicksal ist noch ungewiß; doch empfiehlt ein befragter Arzt mir Cannstadt ... Grüßen Sie Ihre Schwester innigst von mir! Verzeihen Sie mir mit ihr die unsäglichen Beunruhigungen, die ich Euch, teure Frauen, verursachte. An Wille schreibe ich noch, um ihn von meinem Entschluß, Mariafeld aufzugeben, freundschaftlich zu benachrichtigen.‹ Zu diesem Brief kam es nicht mehr. Das Verzweifelte seiner Lage, der Druck der Hilflosigkeit und Verlassenheit hatte seinen Höhepunkt erreicht. In einem späteren Briefe an Frau Wille – nach der großen Wendung seines Geschickes – bezeichnet er selbst diese Zeit als die ›Geburtswehen seines Glückes‹: ›so mag es wohl auch bei Müttern ein Prozeß auf Leben und Tod sein, bei welchem der Gedanke an das zu Gebärende unmittelbar ganz verschwindet, und die Schmerzen allein als Realität übrig bleiben.‹ Dennoch begriff er kaum, wie er das alles überstanden und endlich, ohne irgendeine ersichtliche Hoffnung vor Augen, doch in gefaßter Stimmung den letzten Abschied von Willes hätte nehmen können, wäre nicht in seinem tiefsten Grunde ein Bewußtsein gewesen: sich durch seine unerhörten Leiden ein Anrecht höherer Bedeutung erworben zu haben, das ihn so, selbst im tiefsten Elende, ›innerlich zu einem geweihten, seligen Menschen machte‹. ›Bedenken Sie‹, fährt er fort, ›bis zu welcher Tiefe ich erniedrigt war. Weiter konnte es doch nicht kommen? Diese tiefste Demütigung hat mich endlich erhoben; ich fühlte, daß, nun dies möglich war, ich dies ertragen und dennoch mild und freundlich bleiben konnte, es mit mir eine höhere Bewandtnis haben müsse. Blitzartig durchzuckte es mich, daß nun der Vorhang plötzlich sich heben und ein wundervolles Glück sich mir zeigen müßte ... Ob der Vorhang sich schon im Leben erhob, oder erst mit dem Tode, wahrlich, das galt mir gleich: daß er sich heben würde, das wußte ich.‹10

Am Freitag, den 29. April, war er in Stuttgart eingetroffen und hatte daselbst im ersten Stock des ›Hotel Marquardt‹, in der Richtung zum Hoftheater, Wohnung genommen.11 Persönliche Beziehungen hatte er in dem ihm [457] gänzlich fremden Stuttgart nur zu dem Hofkapellmeister Karl Eckert, – durch dessen Einfluß er etwa hoffen mochte, hier endlich seinen ›Tristan‹ zur Aufführung zu bringen? Eckert war in Wien eine kurze Zeit lang zur Direktion berufen und in dieser Stellung – neben Heinrich Esser – der erste ›Lohengrin‹-Bahnbrecher in der Kaiserstadt gewesen. ›Die Familie Eckert ist mir angenehm‹, heißt es in dem erwähnten beruhigenden Briefe an Willes, ›und nicht unwichtige Beziehungen dürften sich an ein zu Baron Gall, Intendanten des hiesigen Hoftheaters, angetretenes Verhältnis knüpfen.‹ Nichtsdestoweniger setzt er den hiermit eröffneten beruhigenden Aussichten sogleich den geziemenden Dämpfer auf, indem er die Worte hinzufügt: ›Wir wissen, daß die christliche Tugend der Hoffnung mir meistens zum Verderben gereicht, wenn ich mich ihr hingebe. Eine Opernvorstellung, der ich gestern seit lange zum ersten Male wieder beiwohnte, hat mich tödlich verstimmt.‹ Offenbar hatte er sich dabei deutlicher, als ihm lieb war, von der für seine Absichten unzureichenden Beschaffenheit der vorhandenen Kräfte überzeugt. Aber kehren wir zu der Reihenfolge der Begebenheiten zurück. Sogleich nach seiner Ankunft hatte er, um für seine ferneren Absichten nicht völlig allein zu sein, den jungen Weißheimer telegraphisch zu sich berufen.12 Bereits tags darauf, am ›Samstag, den 30. April‹, stellte sich dieser pünklichst ein. ›Welch trauriges Wiedersehen – den großen Genius ratlos und in Verzweiflung zu finden! Wie erschrak ich bei seinen Worten: »Ich bin am Ende – ich kann nicht weiter – ich muß irgendwo von der Welt verschwinden!« Auf meine bestürzte Frage gab er mir Auskunft und mit Schrecken wurde mir der fluchtartige Charakter seiner Reise klar.‹ So erzählt Weißheimer, dessen Bericht wir auch im weiteren mit den nötigen Verkürzungen folgen. Es handelte sich nur noch um die Wahl eines stillen und abgelegenen Aufenthaltsortes, an dem er so lange ›verschwinden‹ wollte, bis weiter Rat würde. ›In solcher Lage durfte er nicht allein gelassen werden, hätte sich auch allein gar nicht durchbringen können, da er absolut mittellos war. Ich war daher fest entschlossen, mit ihm zu gehen. Schnell einigten wir uns über die Wahl irgendeines abgelegenen Ortes in der – Rauhen Alb, wo ein mehrmonatlicher Aufenthalt geplant war, um ungestört die »Meistersinger« zu vollenden, während ich durch Herstellung des Klavierauszuges bei dem Mainzer Verleger Schott neue Zahlungen flüssig machen sollte. Die Abreise wurde auf übermorgen oder spätestens Dienstag festgesetzt.‹ Den Samstagabend brachten wir in der Wohnung Kapellmeister Eckerts zu, der Wagner nicht minder ergeben war als seine schöne, liebenswürdige Ehehälfte, die, wie mir Wagner mitteilte, [458] erst mit einem Wiener Bankier verheiratet gewesen, dann aber mit Eckert nach Stuttgart gekommen sei, als dieser von dort übersiedelte. ›Frau Eckert war eine echte Wienerin, etwas korpulent, aber voller Leben und, wie gesagt, äußerst liebenswürdiger Natur; während ihr Gemahl etwas hager erschien und sein Gesundheitszustand schon einige Bedenken aufkommen ließ. Immerhin hatte er noch ein feuriges Auge und beherrschte seine Hofkapelle mit erstaunlicher Sicherheit und – Ruhe. Als beide Herren während der Unterhaltung auf den für morgen im Hoftheater angesetzten, »Don Juan« und den Auftritt des steinernen Gastes vor dem Schluß zu sprechen kamen, erzählte Wagner, daß er in Dresden die bekannten sechs Schritte des Gouverneurs unter dem Bühnenpodium durch eben so viele Stöße nach oben wuchtig habe erdröhnen lassen; um das Zusammentreffen der Stöße mit den Schritten zu erleichtern, habe er dabei ein wuchtiges alla breve dirigiert, wie er auch in älteren Partituren zu Anfang der Ouvertüre (also derselben Musik!) ein Allabreve-Zeichen gesehen zu haben sich erinnere. Mozart möchte sich also wohl das Tempo etwas schneller gedacht haben, als es gewöhnlich genommen werde. Eckert, dem die Sache ebenfalls einleuchtete, nahm sich vor, in der morgenden Aufführung einen derartigen Versuch anzustellen, wollte aber doch vorsichtshalber das Orchester davon in Kenntnis setzen.‹13

Von einer am folgenden Tage (Sonntag, 1. Mai) stattfindenden Konzert-Matinee in der ›Karlsschule‹ erfahren wir aus gleichzeitigen Nachrichten, daß Wagner ihr beigewohnt habe. ›Der seltene Gast, der sich seit ein paar Tagen hier aufhält, kam in Begleitung Eckerts, dem kleinen Morgenkonzerte beizuwohnen. War es wirklich der Fall oder kam es uns nur so vor, sämtliche vortragende Künstler schienen uns durch die Anwesenheit des Kunstheros merkwürdig angespornt; denn es wurde musiziert, daß es eine Freude war.‹14 ›Nach der Matinée‹, erzählt Weißheimer, ›kehrten wir in das Hotel zurück, um das Mittagsmahl einzunehmen. Unseren Gedecken gegenüber hatte bereits der Baritonist Neumann Platz genommen, der heute Abend den, Don Juan singen wollte und schon mehrere vergebliche Anstrengungen ge macht hatte, mit Wagner persönlich bekannt zu werden. Hierzu nicht aufgelegt, raunte mir Wagner zu, mit ihm am anderen Ende der Tafel Platz zu nehmen.‹ Bei der abendlichen ›Don Juan‹-Aufführung will Weißheimer in der vierten oder fünften Sperrsitzreihe neben Wagner gesessen haben und berichtet darüber Ausführliches. Schon daß Eckert es wagte, nach der Mozartschen Angabe [459] den Anfang der Ouvertüre alla breve zu dirigieren, habe Wagners sofortige Zustimmung gefunden, sowie er während der ganzen wohlgelungenen Vorstellung der Orchesterleistung das uneingeschränkteste Lob erteilte. Auch die Leistungen des Sängerpersonals, mit Angelo Neumann als Gast in der Titelrolle, befriedigten ihn, so daß der Eindruck des Mozartschen Meisterwerkes auf ihn immer mächtiger und packender wurde und manche Träne der Ergriffenheit in seinem Auge erglänzen ließ,15 was ihn nicht abhielt, über die auffallend langen, in ungeheuren weißen Trikots steckenden Beine dieses Sängers sich ungemein zu belustigen. ›Dabei äußerte er seine Wahrnehmungen und Empfindungen öfters lauter, als es den Umsitzenden angenehm sein konnte, die ihn natürlich nicht erkannten; und als während der Briefarie die Ausdrücke des Entzückens immer vernehmlicher wurden, z.B. bei der aufsteigenden Skala vom tiefen c in der Violastimme, wo er mir sehr hörbar zurief: »Hören Sie nur diese Bratschen«, da brach der Unmut in lautem Zischen von der ganzen Nachbarschaft gegen uns los, und erstickte jeden weiteren Gefühlsausdruck. Von nun an aber wußte ich, daß alles Gerede, als blicke Wagner mit Geringschätzung auf Mozart, eitel Lüge war, denn ich hatte es selbst mit erlebt, wie er in höchster Bewunderung und Ergriffenheit zu dem Himmlischen aufgeblickt. Nach der Aufführung kehrten wir in Begleitung Eckerts und des späteren Kapellmeisters Abert zum Hotel zurück, wo Wagner der Dirigentenleistung Eckerts das rückhaltsloseste Lob spendete. Mit Abert schien er nicht auf besonders gutem Fuß zu stehen, denn er hänselte ihn etwas über dessen Verhalten gelegentlich der Pariser »Tannhäuser«-Affäre.16 Ob dem etwas Wahres zugrunde lag, ließ sich nicht feststellen; denn Abert widersprach den Anspielungen, die wohl auf gehässige Einflüsterungen seiner Widersacher zurückzuführen wären.‹ Bei einer Gesprächswendung auf die französische Oper habe Wagner die ›Stumme von Portici‹ als Muster angeführt, in deren fünf Akten ein unauslöschliches Feuer brenne,17 wogegen er an Gounods ›Faust‹ dessen süßliche Weichlichkeit mit der drastischen Wendung rügte: ›Wenn Meyerbeer diese Oper komponiert hätte, so wäre ihm sicherlich mehr eingefallen.‹

Auf Dienstag, den 3. Mai, war die gemeinschaftliche Abreise in die ›Rauhe Alb‹ festgesetzt, daher war der Montag den Vorbereitungen zur Abreise und einigen Besuchen gewidmet. Darunter befand sich – gewiß nicht [460] zum Vergnügen des Meisters! – auch ein mit Weißheimer gemeinschaftlich ausgeführter Besuch bei dem Hofschauspieler Grunert, welcher in wenigen Monaten die Leitung des Leipziger Theaters übernehmen sollte. Der junge Musiker hatte nämlich für die im Herbst d. J. bevorstehende ›Körner‹-Feier18 eine Oper ›Theodor Körner‹ komponiert, die er bei dieser Gelegenheit in Leipzig zur Aufführung gebracht wünschte und wofür er sich Wagners Empfehlung erbeten hatte. Zum Hotel zurückgekehrt, wurde er dann von dem Meister ausgesandt, zum andern Morgen früh den Wagen zu bestellen, der sie zwei oder drei Stationen von Stuttgart entfernt an den Zug bringen sollte,19 um von dort aus mit der Eisenbahn weiterzufahren; da es nicht ratsam erschien, die Reise vom Stuttgarter Bahnhof direkt anzutreten. Dann wurde mit dem Packen von Wagners großem Koffer begonnen. Von hier ab lassen wir wiederum Weißheimer die Erzählung in der ersten Person fortführen, um so mehr als wir ihm für jede von ihm berichtete Einzelheit die volle Verantwortlichkeit überlassen müssen.20 Wagners Gemütsstimmung sei während der Arbeit des Kofferpackens ›wieder weit unter Null gesunken‹ –: da habe der Kellner gegen Abend eine Visitenkarte hereingebracht, welche die Aufschrift trug: ›v. Pfistermeister, Secrétaire aulique de S. M. le roi de Bavière.‹, Da Wagner derartig entmutigt war, und sich von nichts, was es auch sei, noch etwas Gutes versprach, stand er erst unschlüssig da, ob er Herrn v. Pfistermeister empfangen wolle,21 und nur als dieser betonen ließ, er käme im allerhöchsten Auftrag des Königs Ludwig II. und bäte dringend um Gehör, ließ er ihn eintreten. Um bei dieser Unterredung nicht zu stören, trat ich während derselben auf den Korridor. Sie dauerte lang und immer länger – ein gutes Zeichen! Als der genannte Herr sich endlich empfahl, und ich mit klopfendem Herzen wieder eintreten konnte, zeigte mir der von seiner plötzlichen Glückswende ganz überwältigte Wagner einen kostbaren Brillantring des Königs, und dessen in wunderbarem Glanz leuchtende (?!), Photographie auf dem Tisch, und mit den Worten: ›Daß mir das passiert – und gerade jetzt passiert!‹ fiel er mir, vor Freude außer sich, laut weinend um den Hals. Danach waren seine ersten Worte: ›Nur gleich den Wagen wieder abbestellen – statt in die Rauhe Alb geht es morgen zum König von Bayern, zu diesem‹ – damit auf die kostbar eingerahmte Photographie auf [461] dem Tische weisend. Wie begreiflich, befand er sich in der denkbar größten Gemütsbewegung, deren leidenschaftliche Ergüsse in einer wahren Tränenflut endigten. Er woll te nicht ausgehen und bat mich, bei Eckerts abzusagen, wo wir den letzten Abend zubringen sollten. Man kann sich denken, mit welchem Staunen diese die unerhörte Freudenkunde entgegennahmen. Da Wagners Reise nach München auf zwei Uhr des nächsten Tages mit Pfistermeister vereinbart war, so bestürmten sie mich, mit Wagner gegen Mittag zum Frühstück zu kommen. Ich überbrachte ihm noch am Abend diese Einladung und wünschte ihm von Herzen gute Nacht, worauf er lächelnd sagte: ›Ja, schlafen will ich, schlafen in einem Zug bis morgen früh und – diesmal werd' ich's wohl können!‹

Hiermit schließen nun auch die Berichte des zweiten Augenzeugen jener entscheidungsvollen Tage, deren Einzelheiten gegenüber wir uns allerdings fast Zug für Zug ebenso skeptisch verhalten möchten, wie bei so manchen früheren Angaben des gleichen Autors. Wir haben ihnen einstweilen an diesem Ort eine Stelle gegönnt. Unmöglich hingegen kann es uns zugemutet werden, auch den zum Teil wohl recht fragwürdigen anekdotischen Ausmalungen des Näheren nachzugehen, mit welchen eben derselbe Erzähler auch noch die letzten Vorgänge bis zu Wagners Abreise von Stuttgart umspinnt. Glücklicherweise existiert zu ihrer Kontrolle, sowie überhaupt der gesamten in diesem Kapitel vereinigten Angaben aus dieser unruhigen Zeit, in welcher der Meister unausgesetzt bemüht war, die Abwickelung seiner Wiener Angelegenheiten aus der Ferne im rechten Sinne zu dirigieren – ein reiches ungedrucktes Material,22 von dem aus fast jedes einzelne Moment dieser Ereignisse sich dereinst mit Genauigkeit bestimmen lassen wird.

Der Abgesandte König Ludwigs, der Kabinettssekretär Hofrat v. Pfistermeister, hatte eine ganze Odyssee von Irrfahrten überstanden, bevor es ihm gelang, den von ihm gesuchten Meister zu finden. Sie umfaßt fast volle vierzehn Tage. Die Berufung Wagners nach München war einer der ersten Regierungsakte des königlichen Jünglings, der wenige Monate zuvor (noch als Kronprinz) nach einer Anhörung des ›Lohengrin‹ die Worte ausgerufen: ›Wenn ich einst den Purpur trage, so will ich der Welt zeigen, wie hoch ich das Genie Wagners zu stellen wissen werde!‹ Es war der Wunsch und Auftrag des Königs, daß sein Abgesandter Wagner bewege, sobald als möglich, wenn es irgend anginge, sofort nach München zu kommen. Aus Unkenntnis seines Aufenthaltes hatte sich dieser, um sich seines Auftrages zu entledigen, zunächst nach Wien gewendet. Er besuchte hier Friedrich Uhl und erfuhr von diesem, daß sich Wagner nach Zürich begeben.23 ›Während ich den Leidensbecher [462] bis auf die unterste Hefe leerte‹, sagt Wagner selbst, ›suchte mich der Abgesandte bereits in meiner herrenlosen Wohnung in Penzing auf; er mußte dem liebenden König einen Bleistift, eine Feder von mir mitbringen.‹ Von München aus trat er sodann seine weiteren Irrfahrten nach Mariafeld am Züricher See, endlich nach Stuttgart an, wo er den Gesuchten gerade noch in der letzten Stunde vor seiner Abreise antraf. Und wirklich war es im letzten und dringendsten Augenblick, daß die entscheidende große Wendung in dem Leben des Meisters eintrat. ›Mein Abgesandter‹, so erzählt wiederum Wagner selbst, ›war gerade bei mir, als soeben Briefe aus Wien eintrafen, welche die infolge eines heillosen Schrittes meiner bevollmächtigten Freunde eingetretenen allerwiderwärtigsten Vorgänge berichteten, so daß ich schnell mich entschied, sofort nach Wien abzureisen.24 Wien also, und nicht München, war das nächste Ziel dieser Reise, auf welcher Herr v. Pfistermeister ihm am folgenden Mittag die Begleitung gab. Nun fügte es sich aber, daß bei seiner Ankunft in München der rechte Zug nach Wien bereits abgegangen war. Er mußte also in München (Bayrischer Hof) übernachten, und ward auch anderen Morgens durch Unwohlsein an der Weiterreise für diesen Tag (Mittwoch, 4. Mai) verhindert. Doch raffte er sich soweit auf, am Nachmittag den jungen König zu besuchen. Sogleich war alles klar und bestimmt, und noch an demselben Abend benachrichtigt er zunächst die Mariafelder Freunde über die große Wendung seines Schicksals. ›Sie wissen, daß mich der junge König von Bayern suchen ließ:25 heute wurde ich zu ihm geführt. Er ist leider so schön und geistvoll, seelenvoll und herrlich, daß ich fürchte, sein Leben müsse wie ein flüchtiger Göttertraum in dieser gemeinen Welt zerrinnen. Er liebt mich mit der Innigkeit und Glut der ersten Liebe: er kennt und weiß alles von mir, und versteht mich wie meine Seele. Er will, ich soll immerdar bei ihm bleiben, arbeiten, ausruhen, meine Werke aufführen; er will mir alles geben, was ich dazu brauche; ich soll die Nibelungen fertig machen, und er will sie aufführen, wie ich will. Ich soll mein unumschränkter Herr sein, nicht Kapellmeister, nichts als ich und sein Freund. Was sagen Sie dazu? Ist es nicht unerhört? Kann das Anderes als ein Traum sein? Denken Sie sich, wie ergriffen ich bin! Mein Glück ist so groß, daß ich ganz zerschmettert davon bin.‹

[463] Erst nach einigen Tagen setzte er die unterbrochene Reise nach Wien fort. Was zuvor nur die verzweifelte Energie mit persönlicher Aufopferung hätte erreichen können, war nun zu ordnen ein leichtes Geschäft. Mit seiner Dienerschaft und seinem treuen Hunde kehrte er dann, getragen von der Liebe seines königlichen Freundes, zurück in seine neue und, wie er hoffte, letzte Heimat. ›Es ist dies das Glück, welches einzig voll und ganz all den Leiden entspricht, die ich bis in das äußerste Elend hin erdulden mußte. Ich fühle, daß, wäre es nie eingetroffen, ich doch seiner wert gewesen wäre: und dies gibt mir die Sicherheit seiner Dauer‹.

Fußnoten

[464] 1 Einer der ersten an Franz Schott in Mainz, aus Mariafeld bei Zürich, 29. März 1864.


2 Mehrere seiner Briefe von Mariafeld aus sind mit kurzen Aufträgen an den in Wien zurückgebliebenen treuen Diener, Franz Mrazek, gerichtet.


3 Gemeint ist vielmehr das Vorwort zu den ›drei Operndichtungen‹ (die ›Mitteilung an meine Freunde‹) in den Gesammelten Schriften, Band IV, und zwar die Stelle auf S. 317!


4 ›Fünfzehn Briefe von Richard Wagner‹ S. 130: ›Es ist mir zum strafenden Schicksal geworden, mein eigenes Weib durch übergroße Nachgiebigkeit in der Weise verwöhnt und verzogen zu haben, daß sie endlich in sich selbst allen Halt zu einigem Gerecht werden gegen mich verlor. Die Folge davon hat sich gezeigt.‹ Hierin lag die Konsequenz mit inbegriffen, daß er sie in der Folge unmöglich zu sich nach München, in die dortigen komplizierten Verhältnisse berufen konnte, wogegen er, wie die obige Erzählung beweist, selbst in den Tagen der tiefsten Not seiner Pflichten gegen sie und ihrer Bedürfnisse nicht vergessen, ja zuerst an diese und sodann erst an die seinigen gedacht hat.


5 Den Familien Tichatschek, Pusinelli, Kriete, Heine, Kummer etc. etc.


6 Vgl. Wagners briefliche Äußerung an Frau Wille vom 14. März, wonach er, auf dieses Versprechen bauend, wenn erst die ›Meistersinger‹ vollendet wären und er sich dazu entschließen könne, sogar eine definitive Übersiedelung nach Petersburg als möglich in Aussicht nimmt. Vermutlich hatte er gerade hierüber noch in den letzten Penzinger Tagen nach Petersburg geschrieben, und darauf jetzt die obige Antwort erhalten?


7 Zwei Jahre später, als ihm dies nicht mehr von dem mindesten Nutzen sein konnte, wandte sich die St. Petersburger Philharmonische Gesellschaft, weil es ihren Bedürfnissen so paßte, nochmals mit einer Einladung an ihn. Ohne Groll und Verstimmung, vielmehr nur mit warmer, dankbarer Erinnerung an die ihm aus diesem Kreise widerfahrenen ›Beweise von Teilnahme und Freundschaft‹, lehnt da der Meister die verspätete Einladung in einem Schreiben vom 8. Nov. 1866 mit dem Hinweis darauf ab, daß ihre Annahme ihn ›zu sehr von dem Wege abführen würde, den er sich mühsam zur Erhaltung der nötigen Ruhe und Muße gebahnt habe.‹


8 Über Willes Besuche bei Schopenhauer S. 106 d. Bdes


9 Vgl. S. 105 d. Bdes.


10 An Frau Wille (Fünfzehn Briefe, 123/124).


11 In demselben Gasthof hatte der zufällig gerade damals in Stuttgart gastierende, Sänger Angelo Neumann seinen Sitz. Er soll sich andern Tages bei dem Hofkapellmeister Eckert über seinen sonderbaren Zimmernachbar beschwert haben, welcher, unaufhörlich mit geräuschvoller Nervosität bis spät in die Nacht sein Zimmer auf- und abgeschritten sei und ihm weder zum Studium noch zum Schlafen Ruhe gelassen habe. Worauf ihm Frau Kathi Eckert die Mitteilung gemacht: ›er möge um des Himmels willen ruhig sein und nicht etwa (wie er gesonnen war) beim Wirt Beschwerde führen; der von ihm so unliebsam empfundene Zimmernachbar sei kein anderer als – Richard Wagner.‹ Was alles ging damals nicht in der Seele des Meisters vor, das ihn nicht zur Ruhe kommen ließ!


12 Das Aufgabedatum des Telegramms ist: Stuttgart, 29. April, 12 Uhr 15 Min. Nachmittags; der Wortlaut: ›Bin einige Tage hier, Hotel Marquardt, und bitte um Ihren Besuch. Besten Gruß. Richard Wagner.‹


13 Weißheimer S. 260–62.


14 Stuttgarter Korrespondenz der Leipziger ›Signale‹ vom 5. Mai, S. 374. Nach Weißheimer habe der Bassist Wallenreiter sein einfaches Lied (›Widmung‹ von Schumann) schleppend gesungen und Wagner ihm dafür nachträglich eine Strafpredigt über das Vergreifen eines Tempos gehalten, das ja auf der Hand liege. ›Zerknirscht hörte dies Wallenreiter an, dem offenbar mehr an der breiten Entfaltung seiner Stimmmittel gelegen war, als an richtiger Wiedergabe der Intentionen Schumanns.‹


15 Immerhin ist diese Aufführung eben dieselbe, von welcher der Meister am folgenden Morgen an Frau Wille berichtet, sie habe ihn ›tödlich verstimmt‹; so daß demnach Weißheimer, der ja nur selten ein sehr seines Gefühl für die wirkliche Seelenverfassung des Meisters bekundet, auch in diesem Falle die begreifliche nervöse Lebhaftigkeit seiner Äußerungen allzu äußerlich als Wohlgefallen an dem Ganzen aufgefaßt hat.


16 Vgl. S. 312 des vorliegenden Bandes.


17 Vgl. dazu Ges. Schr. IX, 56 und den gesamten Aufsatz ›Erinnerungen an Auber‹, welchen Weißheimer nach seinen Äußerungen nie gelesen zu haben scheint, wie auch an anderen Orten seine auffallende Unkenntnis der Schriften Wagners bemerkbar wird.


18 Die 50jährige Wiederkehr von Körners Todestag am 26. August 1863.


19 Weißheimer nennt die Station Untertürkheim.


20 Wir geben dieselbe völlig mit seinen Worten wieder, wenn wir dieselben auch, der Vollständigkeit wegen, aus zwei verschiedenen Berichten zusammenstellen.


21 Ein Beispiel der Belästigung durch neugierig zudringliche Fremde, die von seinem Aufenthalt in Stuttgart erfahren, teilt Weißheimer an anderer Stelle mit: ›Ein reicher Engländer machte zu diesem Behuf (nämlich den Meister zu sehen und zu sprechen) während meiner Anwesenheit einen Versuch, indem er seine Karte präsentieren ließ Wagner lehnte jedoch den Besuch kurz ab, mit den Worten: »Der gibt mir doch nichts!«‹


22 Briefe an Standhartner, Cornelius, Tausig u.a.


23 ›Als Herr von Psistermeister‹, so erzählt Friedrich Uhl, ›in Wien ankam, fand er Wagner nicht mehr. Derselbe war zwei Tage (? mindestens 2 Wochen!) früher nach Zürich abgereist. Herr v. Pfistermeister, den ich seit längerer Zeit zu kennen die Ehre hatte, besuchte mich, teilte mir seine Mission mit und schilderte seine Verlegenheit, da ihm Niemand Auskunft über Wagners Aufenthaltsort geben könne. Mit Wagner seit 1848 befreundet, konnte ich damit dienen. Wagner hatte sich nach Zürich begeben und ich sagte Herrn v. Pfistermeister, daß er im Hause des Herrn Wesendonck erfahren werde, wo Wagner wohne.‹


24 Brieflich an Frau Wille, 26. Mai 1864.


25 Der Abgesandte des Königs war zuvor in Mariafeld gewesen und hatte den dortigen Gastfreunden vertraulich von seinem Auftrage Mitteilung gemacht.

Quelle:
Glasenapp, Carl Friedrich: Das Leben Richard Wagners in 6 Büchern. Band 3, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1905, S. 449-465.
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