IX.

Die C dur-Symphonie.

[155] Komposition der C dur-Symphonie. – Aufbau und Themen. – Reise nach Wien: ›Zampa‹ und Straußische Walzer. – Prag: Dionys Weber. – Mozart-Traditionen. – Tomaschek, Friedrich Kittl. – ›Die Hochzeit‹. – Rückkehr nach Leipzig. – Heinrich Laube. – ›Koszinsko‹-Text. – Aufführung der Symphonie im Gewandhaus. – Reise nach Würzburg.


Von großen Dichtern wissen wir, daß sogleich ihre Jugendwerke das ganze Hauptthema ihres produktiven Lebens mit großer Prägnanz aufzeigen; anders treffen wir es beim Musiker an. Wer möchte in ihren Jugendwerken sogleich den rechten Mozart, den wirklichen Beethoven erkennen, wie er dort den vollen Goethe, und in seinen Aufsehen erregenden Jugendwerken sofort den wahrhaftigen Schiller erkennt?

Richard Wagner.


In großer Schaffensfreudigkeit und eifrigem Fleiß war dem neunzehnjährigen Künstler ein volles, an Ergebnissen reiches Jahr verflossen. Der herannahende Sommer lud ihn zu einem Ausfluge in die weite Welt hinaus ein. Auf diesem sollte ihn seine vollendete Symphonie begleiten. Zu ihr müssen wir noch einmal zurückkehren, bevor wir uns die Einzelheiten dieser Sommerreise vergegenwärtigen.

Mit mehrfachen Unterbrechungen hatte er seit Beginn des Jahres 1832 diesem, in voller Begeisterung konzipierten ersteren größeren Werke seine Tätigkeit zugewandt. Die Hauptarbeit daran scheint in den Monat März zu fallen; bestimmte Daten darüber liegen nicht vor, da das Originalmanuskript leider spurlos verloren gegangen ist; eine neue Partitur davon mußte fünfzig Jahre später aus den wieder aufgefundenen Orchesterstimmen zusammengestellt werden. Und wie glücklich, daß dies gerade noch möglich war! Denn diese Symphonie hat in der künstlerischen Entwickelung des jungen Wagner in der Tat keine unwesentliche Geltung und Bedeutung. Seine Studienepoche findet darin ihren Abschluß. So stellt sie, wenn es gestattet ist, das Wort hier im reinen Handwerkssinne zu gebrauchen, im Unterschiede von späteren Meisterwerken, sein eigentliches ›Meisterstück‹ dar. Ähnlich äußert sich der Schöpfer [156] des Werkes selbst darüber, mit den Worten: ›Wenn der Musikjünger genügende Zeit in vermeintlicher melodischer Produktion gefaselt hat, beängstigt und beschämt es ihn wohl endlich, gewahr zu werden, daß er eben nur sei nen Lieblingsvorbildern bisher nachlallte: ihn verlangt es nach Selbständigkeit, und diese gewinnt er sich nur durch erlangte Meisterschaft in der Beherrschung der Form. Nun wird der vorzeitige Melodist Kontrapunktist; jetzt hat er es nicht mehr mit Melodien, sondern mit Themen und ihrer Verarbeitung zu tun; ihm wird es zur Lust, darin auszuschweifen, in Engführungen, Übereinanderstellungen zweier, dreier Themen bis zur Erschöpfung jeder erdenklichen Möglichkeit zu schwelgen.‹ Wie weit er es darin zu jener Zeit gebracht, ohne dabei doch die drastisch feste Formenfassung seiner großen symphonistischen Vorbilder, Mozarts und besonders Beethovens aus den Augen und dem Bewußtsein zu verlieren, dies eben tritt in der C dur-Symphonie hell zu Tage.

Neben diesen, mehr generellen, Eigenschaften seiner Jugendarbeit will der Meister als das eigentlich Persönliche und Individuelle in ihr fast nur den kecken lebendigen Grundzug gelten lassen, der sich durch das ganze Werk hindurch fühlbar macht: ›insofern darin etwas vom Richard Wagner zu erkennen wäre, dürfte dies höchstens die grenzenlose Zuversicht sein, mit der dieser schon damals sich um nichts kümmerte, und von der bald nachher aufkommenden, den Deutschen so unwiderstehlich gewordenen Duckmäuserei sich unberührt erhielt‹. ›Diese Zuversicht‹, fährt er fort, ›beruhte damals, außer auf meiner kontrapunktischen Sicherheit, auf einem großen Vorteile, den ich vor Beethoven voraus hatte: als ich mich nämlich etwa auf den Standpunkt von dessen zweiter Symphonie stellte, kannte ich doch schon die Eroica, die C moll- und die A dur-Symphonie, die um die Zeit der Abfassung jener zweiten dem Meister noch unbekannt waren, oder doch höchstens nur in großer Undeutlichkeit erst vorschweben konnten, – ein glücklicher Umstand, der meiner Symphonie sehr zu statten kam‹. Einen ungefähren Überblick über den Aufbau und die Durchführung des unveröffentlicht gebliebenen Werkes, nebst dessen hauptsächlichen Themen, findet der Leser in der vortrefflichen kleinen Schrift O. Eichbergs über diesen Gegenstand.1 An dem Hauptthema des ersten Satzes hebt Eichberg, außer der echt Beethovenischen Grundbeschaffenheit, die außerordentliche Prägnanz seines Ausdruckes hervor. Diese sei doch bedeutsamer, als der Meister selbst es in seiner Äußerung zugeben wolle: mit einem solchen Thema [157] ließe sich ›gut kontrapunktieren, aber wenig sagen‹. Vielmehr sichere gerade dieses Thema dem ganzen Satze seinen eminent symphonischen Charakter. Auf das zweite Hauptthema (in G dur) und einen daran sich schließenden imitatorischen Abschnitt folgt ein melodischer Passus, der nicht nur in seiner Art von der Umgebung abweichend, deutlich auf Wagners spätere Melodiebildung hinweist, sondern auch durch das erstmalige Vorkommen des in seinen dramatischen Werken so oft und charakteristisch auftretenden Doppelschlags interessant ist:


9. Die C dur-Symphonie

In den energischen Verlauf des sostenuto e maestoso beginnenden, als Allegro con brio endenden ersten Satzes hinein erklingt gegen dessen kraftvollen Ausgang ein schwärmerisch sehnsuchtgeschwellter Frageruf der Holzbläser:


9. Die C dur-Symphonie

Er bildet zugleich die thematische Verbindung dieses Satzes mit dem ihm folgenden Andante 3/4, worin dasselbe Motiv eine hervorragende Bedeutung gewinnt, und den es auch, in den Oboen und Klarinetten, eröffnet. Das wehmütig lächelnde, zart ergreifende Hauptmotiv des Andante aber


9. Die C dur-Symphonie

9. Die C dur-Symphonie

[158] war seinem Schöpfer selbst lieb genug geblieben, um mit seiner Zitierung, da er nach fünfzig Jahren es wieder vernahm, seinen ›Bericht über die Wiederaufführung eines Jugendwerkes‹ (Silvester 1882) zu beschließen: er läßt ihm dabei auch die Gerechtigkeit widerfahren, es nicht bloß ein ›Thema‹, sondern eine wirkliche ›Melodie‹ zu nennen.2 Der dritte Satz, Allegro assai C dur 3/4, ist der bewegteste und ›mit den üblichen Wiederholungen, zugleich umfangreichste (587 Takte); der Schlußsatz, in Rondo-Form, öffnet der kontrapunktischen Verarbeitung und Durchführung ein ausgiebiges Feld; der ‹stürmische kühne Schritt, von einem Ende des Werkes zum andern schreitend, den schon die älteren Besprechungen hervorheben, führt nach leidenschaftlicher Erhebung zum glanzvollen Abschluß des ganzen beredten Werkes.

Auffallend mißgünstig äußerte sich Marschner darüber, als er gelegentlich eines Besuches in der Familie Veranlassung erhielt, der Mutter sein Gutachten über das jugendliche Werk zum Ausdruck zu bringen. Noch in einem Privatbrief v. J. 1854 wiederholte er gelegentlich einer Meinungsäußerung über Wagner dieses absprechende Urteil, als sei die ihm vorgelegte Partitur nichts mehr und nichts weniger als ›eine seitenlange Abschrift der A dur-Symphonie von Beethoven gewesen‹! ›Ich kann eben‹, fügt er hinzu ›nicht anders reden als ich denke, und so habe ich schon 1829 (!) seiner Mutter gesagt, daß aus den mir vorgelegten Proben Komposition mehr auf Verstand als Erfindungsvermögen zu schließen und deshalb zu raten sei, ihn, wie sein Schwager Brockhaus wollte – tüchtig zur Schule anzuhalten und studieren zu lassen (!). Bald darauf (!!) hörte ich aber schon, er sei Musikdirektor in Magdeburg geworden‹.3 Auch die mehrerwähnte Angelegenheit des, der Firma Schott übergebenen Klavierarrangements der neunten Symphonie entschied sich um diese Zeit. Nachdem ihm dasselbe durch Schotts wegen zeitweiliger ›Überfüllung an Manuskripten‹ zurückgeschickt worden war, übersandte er es mit einem Brief vom 15. Juni 1832 noch mals an das genannte Haus, indem er nunmehr auf jede [159] Geldforderung verzichtete. ›Ich biete Ihnen (meinen zweihändigen Klavierauszug der Beethovenschen Symphonie No. 9) hiermit nochmals zu Ihrem beliebigen Gebrauch an, indem ich Ihnen denselben für jede Zeit und Benutzung übergebe. Ich verlange dafür kein Honorar, wollten Sie mir aber ein Gegengeschenk an Musikalien machen, so würden Sie mich Ihnen dankbarst verpflichten. Dürfte ich Sie demnach wohl ersuchen, mich durch Herrn Wilhelm Härtel: Beethovens


1) Missa solemnis (D dur) Partitur und Klavierauszug,

2) Beethovens Symphonie No. 9 Partitur,

3) idem, 2 Quartetten, Partitur und

4) die von Hummel arrangierten Symphonieen Beethovens,


beziehen zu lassen? Je eher, desto angenehmer würden Sie (mich) durch die Erfüllung dieser Bitte erfreuen‹.4 Leider meldet uns die Geschichte nichts näheres darüber, ob und inwieweit sein bescheidener Wunsch um ein ›Gegengeschenk‹ von dem Schottschen Hause erfüllt worden sei. Sicher ist nur, daß Wagners Klavierauszug, sorglich aufbewahrt, im Schottschen Besitz verblieb und aus diesem in späteren Jahren dem Meister auf seinen Wunsch wieder zugestellt worden ist, so daß er jetzt im Hausarchiv von Wahnfried als bedeutungsvolle Jugenderinnerung sich befindet.

Mit der fertigen eigenen Symphonie machte er sich im Sommer 1832 auf eine Reise nach Wien, zu keinem anderen Zwecke, als um diese sonst so gepriesene Musikstadt flüchtig kennen zu lernen. ›Wie entzückte mich das heitere Treiben der Bewohner dieser Kaiserstadt‹, läßt er später in seiner Novelle den ›deutschen Musiker‹ sagen. ›Die etwas oberflächliche Sinnlichkeit der Wiener dünkte mich frische Lebenswärme; ihre leichtsinnige und nicht sehr unterscheidende Genußsucht galten mir für natürliche und offene Empfänglichkeit für alles Schöne‹. Freilich, der ›deutsche Musiker‹ der Novelle erklärt sich in demselben Zusammenhange für einen nicht ganz objektiven Beobachter. ›ich war in einem begeisterten Zustande und sah alles mit begeisterten Augen‹. Der neunzehnjährige deutsche Musiker der Wirklichkeit hatte keinen ähnlichen Anlaß zur Freudetrunkenheit, – wenn nicht Jugend und das Bewußtsein, der Autor einer ersten großen vollendeten Symphonie zu sein, dafür gelten sollen! Jener war noch nach Wien gepilgert, um Beethoven zu sehen; dieser kam zu solcher Begegnung um wenige Jahre zu spät. Jenem ward das Glück zu teil, da er auf einem der fünf täglichen Theaterzettel eine ›Fidelio‹-Vorstellung angezeigt fand, zugleich auf die außerordentlichste Darstellerin des Fidelio – Wilhelmine Schröder! – zu treffen; Wagner sagt von sich: ›was ich hörte und sah, erfreute mich wenig; wohin ich kam, hörte ich »Zampa« und Straußsche Potpourris über »Zampa«, – beides, und besonders damals, für mich [160] ein Greuel‹. Übrigens war es das Jahr der fürchterlichen Cholera, und eine Wiener Korrespondenz vom Sommer 1832 berichtet uns von dem Wüten dieses Ungeheuers, es sei noch schrecklicher als bei ihrem ersten Auftreten gewesen: sie habe ihre Opfer in wenigen Stunden getötet und nur selten sei es einem Arzte gelungen, ihr eines derselben zu entreißen. Trotzdem änderten diese Schrecknisse nur wenig an der äußeren Physiognomie der Wiener heiteren Geselligkeit. ›es ist unbegreiflich, fährt jene Korrespondenz fort »wie bei solcher gefahrvollen Lage unser Publikum so ganz sorglos und unbekümmert sein kann; man spricht wohl hier und da mit Bangigkeit davon; aber niemand ändert etwas an seiner Lebensweise und alle öffentlichen Vergnügungslokale sind gedrängt voll«. Auch der »Zampa«-Manie wird gedacht: »diese Oper hat bei uns fast den Erfolg der Stummen von Portici; jede Vorstellung ist überfüllt und man drängt sich um die Plätze«. Der Tenorist Wild, die Hauptstütze der Hofoper (neben dem Balletmeister!), gebe den Zampa auch so gut, als es nur ein Sänger imstande sei; im Gesange sei er vortrefflich‹ usw. usw.5 Andererseits traten unserem jungen ›deutschen Musiker‹ die beiden originellsten und liebenswürdigsten Erscheinungen der Wiener öffentlichen Kunst damals ebenfalls zum ersten Male entgegen: die Straußischen Walzer und die Raymundischen Zauberdramen. Sie bewiesen ihm, was die österreichische Metropole, außerhalb des Bereiches ihrer glänzenden subventionierten Kunstinstitute, auf dem Wege des rein spekulativen Verkehrs mit einem phantasievoll gemütlichen, lebenslustigen Publikum ganz von sich aus auch für die Kunst hervorzubringen vermöge. ›Wollt ihr nichts Höheres‹, ruft er noch dreißig Jahre später aus ›so laßt es bei diesem bewenden; es steht an und für sich bereits wahrlich nicht tief, und ein einziger Straußischer Walzer überragt, was Anmut, Feinheit und wirklichen musikalischen Gehalt betrifft, die meisten der oft mühselig eingeholten ausländischen Fabrikprodukte, wie der Stephansturm die bedenklichen hohlen Säulen zur Seite der Pariser Boulevards!‹

Alles in allem gestaltete sich ein längerer, bis in den Spätherbst dauernder Aufenthalt in Prag, auf der Rückreise von der leichtlebigen Kaiserstadt, für ihn fruchtbarer und anregender, als die in Wien verbrachten Tage. Zu den wertvollsten, hier angeknüpften Bekanntschaften gehörte die mit dem verdienten und hochangesehenen Direktor des Prager Konservatoriums, Dionys Weber. Dieser gestrenge, hochkonservative Meister erwies dem jungen Musiker, dessen ernster Eifer sein volles Wohlwollen gewann, die willkommene Ermunterung, daß er mehrere seiner Kompositionen, darunter auch die C dur-Symphonie, [161] von dem vortrefflichen Orchester der Zöglinge des Konservatoriums vortragen ließ. Von den Leistungen dieses Instrumentalkörpers geben uns die Urteile der Zeitgenossen einen hohen Begriff. Während man bei den Solovorträgen der Konzerte des Konservatoriums Talenten begegne, die erst in der Entwickelung begriffen seien, böten die Ensemblestücke, Ouvertüren und Symphonien, einen Genuß, wie ihn kaum ein Verein der größten Künstler darbieten könne, Mehr als fünfzig Jünglinge in dem glücklichen Alter, wo man sich der Kunst noch mit jenem ganz reinen Enthusiasmus widmet, dessen schönste Blüten teils spätere Jahre, teils andere Interessen des Lebens abstreifen, werden, mit ihren Lehrern an der Spitze eines jeden Instrumentes, von dem erfahrenen Taktstabe des Direktors Dionys Weber geleitet, der das jugendliche Feuer, wenn es einmal die Schranken durchbrechen will, zu bannen weiß und so ein Ensemble erzielt ›das Kenner und Laien zu höchstem Entzücken entflammt‹. So soll auch Spontini bei einem Besuch des Prager Konservatoriums seine höchste Zufriedenheit mit dessen Orchesterleistungen ausgesprochen haben. Somit konnte der Komponist, dem es noch sehr darum zu tun war, daß seine Werke sich ihm aus der farblosen Niederschrift heraus in hörbarem Klange verkörperten, wohl mit der Gunst der Umstände zufrieden sein, die ihm so ausreichende Mittel und Kräfte dazu in den Weg führte Vielleicht schon auf diese erste Prager Exekutierung seines noch unaufgeführten Werkes ließe sich die konzisere Fassung des Finales der Symphonie durch Verkürzung um vierzig Takte zurückleiten, welche Tappert bei der Durchsicht der alten Orchesterstimmen aufgefallen ist. Möge die bezeichnete Streichung immerhin erst bei späterem Anlaß tatsächlich vollzogen worden sein, so sind doch ohne Zweifel die Eindrücke dieser ersten Anhörung für den Tondichter bestimmend gewesen, dem es zu keiner Zeit und unter keinen Umständen auf eine müßige Fülle blendender, berauschender, kaleidoskopischer Mannigfaltigkeit, sondern stets einzig auf den fest umrissenen, plastischen Ausdruck der ihm vorschwebenden Idee ankam.6

Was er sonst im Verkehr mit dem älteren Tonmeister erfuhr, war ihm teils belehrend, teils dem begeisterten Beethovenkenner befremdend, wenn gleich ähnliche Anschauungen, wie er sie hier von dem Prager Direktor vernahm, auch in der gemütlichen Musikerwelt seiner Vaterstadt nur allzu gang und gäbe waren. Noch in der Schrift ›über das Dirigieren‹ (1869) bezieht sich Wagner in diesem Sinne auf das Urteil Dionys Webers, der die ›Eroica[162] als ein ›Unding‹ behandelt habe. ›Sehr richtig!‹ fügt er hinzu ›dieser Mann kannte nur das von mir charakterisierte Mozartsche Allegro; in dem strikten Tempo desselben ließ er auch die Allegros der, Eroica von den Zöglingen seines Konservatoriums spielen, und wer eine solche Aufführung angehört hatte, gab Dionys allerdings Recht‹. Auf der anderen Seite war es ihm von hervorragendem Werte, durch seinen böhmischen Minos die interessantesten Aufschlüsse über die echten Traditionen der Zeitmaße und des Vortrags Mozartischer Musik zu erhalten. Friedrich Dionys Weber gehörte zu der Zahl jener, unter den älteren Musikern dieser Epoche nicht seltenen, exklusiven Mozartverehrer, mit denen es schwer war über Beethoven sich zu verständigen, weil sie dem großen Schritte des Gewaltigen in ihrer eigenen Entwickelung nicht gefolgt waren. Desto ergiebiger war er in seinen Mitteilungen über Mozart, dessen Werke er zum Teil unter der eigenen Leitung des Meisters gehört hatte. Als Augen- und Ohrenzeuge der ersten Aufführung und der ihr vorangehenden, von Mozart selbst dirigierten Proben des ›Figaro‹ berichtete er dem jugendlichen Kunstgenossen, wie der Meister z. B. das Zeitmaß der Ouvertüre nie schnell genug habe erlangen können, und wie er, um den Schwung desselben stets aufrecht zu erhalten, wo es nur irgend in der Natur des Themas lag, die Bewegung neu auffrischte: als er die Musiker endlich durch sein erzwungenes Presto zu derjenigen verzweiflungsvollen Wut gebracht hatte, welche ihnen zu ihrer eigenen Überraschung das Gelingen ermöglichte, habe er ihnen dann ermutigend zugerufen: ›So wars schön! nun am Abend aber noch ein wenig schneller‹!7 In gleicher Weise gelang es Wagner, aus dem reichen Schatze der Erinnerungen des Prager Altmeisters sehr detaillierte Nachrichten und Belehrungen über den Vortrag Mozarts einzusammeln, die ihm für sein eigenes Urteil über die hier in Betracht kommenden Probleme von bleibendem Werte waren.8

An persönlichen Beziehungen gar mannigfacher Art konnte es ihm an dem Orte nicht fehlen, wo Rosalie mehrere Jahre als beliebte Schauspielerin gewirkt und jede künstlerische Anerkennung und gesellschaftliche Hochschätzung genossen hatte. Noch in demselben Sommer hatte sie nach längerer Zwischenzeit eine Anzahl von Gastrollen am Landestheater gegeben. Die gleichzeitige Anwesenheit des Tenoristen Wild aus Wien, der auch hier ›Zampa‹-Erfolge einerntete, veranlaßte eine Aufführung der ›Stummen von Portici‹, bei welcher [163] Rosalie die Titelrolle in der ihr eigenen Weise zu eindrucksvoller Darstellung brachte;9 außerdem war sie als Lucia im ›König Enzio‹, als Mirandolina in Goldonis ›Locandiera‹ und mehreren anderen Partien vor das Prager Publikum getreten. Wie sehr sie bei diesem auch jetzt noch ihre frühere Anziehungskraft ausübte, bewies u. a. ihre letzte Gastdarstellung im ›Käthchen von Heilbronn‹. Diese fiel auf den Abend des in allen Gesellschaftsklassen beliebten Volksfestes der heiligen Margareta (13. Juli: ›die erste Birn bricht Margaret‹), zu welchem sonst bei den Gastvorstellungen der größten Künstler das Parterre nur sehr mäßig besetzt zu sein pflegte, während bei Rosaliens Abschiedsauftreten das Haus recht stattlich gefüllt war.

Eine andere Lokalberühmtheit der Moldaustadt, die Richard Wagner während seines dortigen Verweilens kennen lernte, war der Komponist Wenzel Tomaschek, der sich in den Grenzen seines böhmischen Vaterlandes eines angesehenen Namens erfreute, und auf dessen Urteil man bei jedem musikalischen Ereignis begierig lauschte. ›Er hatte niemals Kunstreisen gemacht oder irgendwie für die Verbreitung seiner Kompositionen gewirkt‹, sagt Hanslick von ihm ›und doch saß er, je älter er wurde, desto fester – wie die Spinne im Netz – im Zentrum eines kleinen bewundernden Kreises, und es galt für Vermessenheit, wenn ein fremder Künstler Prag verließ, ohne sich Tomaschek vorgestellt zu haben‹. Wäre nun auch für Wagner, der ja in keiner Weise auf besondere Prager Erfolge ausging, diese letztere Notwendigkeit keine so zwingende gewesen, so ließ er sich doch die Gelegen heit nicht entgehen, den in seinen Grenzen einflußreichen Mann kennen zu lernen, und empfing auch von ihm eine wohlwollende Aufmunterung. Auch dieser Mann hatte für den schwärmerischen Beethovenjünger wenigstens eine interessante Seite: er hatte in seinen jüngeren Jahren den großen Tonmeister einmal persönlich in Wien in seiner eigenen Behausung gesehen, eben um die Zeit der ersten Wiederaufführungen des ›Fidelio‹ nach dessen anfänglicher ungünstiger Aufnahme, und erzählte gern von dieser Begegnung. Wie sich Wagner im Verkehr mit Dionys Weber über Mozart belehren ließ, dürften gewisse frappant authentische Züge in der nachmaligen Schilderung der äußeren Erscheinung des Meisters in der ›Pilgerfahrt zu Beethoven‹ in ihrer unmittelbaren Anschaulichkeit vielleicht auf die lebensvollen mündlichen Mitteilungen eines Augenzeugen zurückführen. So ungereimt es wäre, das ausgeprägte Bild der Persönlichkeit Beethovens, wie es Wagner in sich trug, für das Produkt irgend einer besonderen einzelnen [164] Anregung oder Mitteilung halten zu wollen, – das subjektive Gefühl eines inneren Zusammenhanges zwischen den Vorgängen der Novelle und den Eindrücken der Sommerreise von 1832 hat sich dem Verfasser oft aufgedrängt: es wäre nicht undenkbar, daß der erste Lebenskeim der späteren Erzählung bereits in dem Neunzehnjährigen sich geregt habe, als ein inneres Erlebnis, zu welchem gewisse drastische Züge der mündlichen Erzählung mit den Eindrücken seines eigenen, kurz vorausgegangenen Wiener Aufenthaltes in seiner Phantasie sich verschmolzen.

Auch machte er, während der Dauer des gleichen Verweilens in Prag, die Bekanntschaft Johann Friedrich Kittls, damals Konzeptpraktikanten am Fiskalamt seiner Vaterstadt, der soeben bei Tomaschek den einfachen und doppelten Kontrapunkt studierte und auf dem besten Wege war, Juristerei und Staatsdienst für immer mit der Musik zu vertauschen. Nur der Wunsch seines Vaters hielt ihn von diesem Schritt zurück. Kittl war als Komponist und Dirigent von entschiedener Begabung, im übrigen trotz seiner Jugend Inhaber eines stattlichen fetten Doppelkinns und das enfant gâté der Prager Aristokratie, insbesondere des schöneren Teiles derselben. Als leidenschaftlicher Jäger hatte er eine ›Jagdsymphonie‹ komponiert, welche als phantasievoll gerühmt wird, von Mendelssohn indes für unschädlich genug erachtet wurde, um sie unter seiner Leitung im Leipziger Gewandhaus aufzuführen und ihre Dedikation anzunehmen Wohl in Kittls Begleitung war es, in dem schönen Sommer 1832 in Böhmen, daß sich der neunzehnjährige junge Meister zu dem einzigen Jagdabenteuer seines Lebens verlocken ließ, dessen Eindruck bis in die ›Feen‹, ja bis in das Bühnenweihefestspiel hinein nachklingt. Wir erzählen es mit den Worten Hv. Wolzogens, der es wiederum aus Wagners eigenem Munde hat, Der lebenslustige, immer leidenschaftlich nach Betätigung drängende junge Mann hatte sich in fröhlicher Gesellschaft fortreißen lassen, einmal mit auf die Jagd zu gehen. Ein Treiben auf Hasen begann. Blindlings schoß der Ungeübte sein Gewehr ab; er wußte nicht, ob er getroffen; alles ging ihm unter in dem Taumel eines fremden, aufregenden ›Vergnügens‹. Als hernach die Gesellschaft im Freien beim lustigen Mahle saß, schleppte sich ein verwundetes Häslein mühsam an den lärmenden Kreis der Jagdgenossen heran: sein stummberedter klagender Tierblick fällt auf den jungen Jäger, der in demselben Augenblick mit herzzerschneidender Gewißheit sich überzeugt fühlt, daß dies zerstörte Leben das Opfer seiner sinnlosen Lust sei! Er konnte den Blick des leidenden Mitgeschöpfes nicht vergessen (›o seht, das Tier kann weinen, die Träne glänzt in seinem Aug!‹) – nie wieder hat er ein Gewehr berührt ›um ein Tier zu erlegen.‹10 Die mit Kittl geschlossene Freundschaft überdauerte die kurz bemessene Frist seines diesmaligen Verweilens zwischen den schönen [165] Moldaubergen; und die guten Beziehungen beider frischten sich bei Wagners späteren Besuchen in Prag immer wieder in altherzlicher Weise auf, bis er – elf Jahre später, als er selbst bereits das Joch der Dresdener Kapellmeisterschaft auf sich genommen – auch den ›lieben dicken Freund‹ Hans als neu erwählten Prager Konservatoriumsdirektor und Nachfolger des alten, ehrwürdig pedantischen Dionys Weber wiedersah und sich beide ›der glücklichen Tage des unaufhörlichen Scherzens und Lachens erinnerten, als sie noch fröhliche junge Leute ohne Ruf und Namen waren.‹

Aber noch in ganz anderer Beziehung war der Prager Aufenthalt für den jungen Meister von Bedeutung geworden. Er hatte sich während der Dauer desselben auch produktiv betätigt, indem er sich einen Operntext tragischen Inhaltes entwarf und ausführte: ›Die Hochzeit‹. Woher ihm der mittelalterliche Stoff gekommen, so düster in so heiteren Tagen, wußte er sich selbst später nicht anzugeben.11 Ein wahnsinnig Liebender ersteigt das Fenster zum Schlafgemach der Verlobten seines Freundes, worin diese des Bräutigams harrt. Die Braut ringt mit dem Rasenden und stürzt ihn in den Hof hinab, wo er zerschmettert seinen Geist aufgibt. Bei der Totenfeier sinkt sie entseelt über die Leiche hin. Bezeichnend sind in diesem frühesten dramatischmusikalischen Erstlingswerk die vorkommenden altdeutschen, zum Teil altnordischen, oder Ossianischen, Eigennamen: Morald (?), Hadmar, Harald, Admund, Cadolt; auch Arindal begegnet uns bereits hier, unter den Frauen Ada und Cora (Lora?). Sämtliche Namen fallen uns durch vokalische Fülle und vorwiegend weiche und flüssige Konsonanten (d, l, m, n, r) auf; die in dieser Beziehung hervortretendsten: Arindal und Ada, kehren nachmals als Hauptpersonen in den ›Feen‹ wieder. Mit dieser Dichtung trat er aus dem Bereich der reinen Instrumentalmusik zum ersten Male auf sein eigenstes künstlerisches Gebiet über; was von ihr erhalten ist, zeigt in Diktion und Versbildung schon damals die, bis in den ›Rienzi‹ hinein sich geltend machende, Abneigung gegen bloße ›schöne Verse und zierliche Reime‹. Der spätere Sprachschöpfer tut sich darin ebenfalls noch nicht kund; zu kühnen Neuerungen lag in dem Stoffe keine zwingende Nötigung vor. Dagegen treffen wir gleich in den gänzlich frei gebauten Eingangsversen eine unwillkürliche charakteristische Verbindung von Endreim und Stabreim:


Vereint ertönet jetzt aus unsrem Munde

des Friedens freundlich froher Gesang!

Denn Hadmar und Morald, nach langem Kampf,

nach blut'gem Streit,

sind ausgesöhnt, vereint zu dieser Stunde,

da wir, ein frohes Fest zu begehn,

die Hände freudig uns reichen usw.


[166] In mancher Beziehung innerlich bereichert, kehrte er gegen Ende November in seine Vaterstadt zurück, und ging hier alsbald an die Komposition seiner Dichtung. ›Leipzig, den 5. Dezember 1832‹ lautet das Datum am Schlusse des, acht Folioseiten umfassenden, ganz eng geschriebenen, mit mancherlei Korrekturen versehen Entwurfes der ersten Szene. Sie bestand aus einer Introduktion mit folgendem Chor und Septett. Die Introduktion, mit der TempobezeichnungMaestoso, ist nach den Angaben W. Tapperts12 sehr energisch im Rhythmus, im Melodischen hingegen hier und da noch sehr unwagnerisch, wofür er die Stelle als Beispiel anführt:


9. Die C dur-Symphonie

An die Einleitung schließt sich unmittelbar ein kraftvoller Männerchor, in schwungvoller Frische das Fest des Friedensschlusses zwischen den altverfehdeten Häusern Hadmars und Moralds feiernd:


9. Die C dur-Symphonie

9. Die C dur-Symphonie

Ein dreistimmiger Frauenchor schließt seine Begrüßung an:


Willkommen ihr, von Moralds fernem Lande,

auf Hadmars froher Burg!


[167] Auf den rauschenden Festesjubel folgt bei dessen erster Pause ein Dialog zwischen Cadolt (Baß), dem Sohne des früheren Gegners Morald, und Admund (Tenor). Wir erkennen in dem düsteren Cadolt jenen ›wahnsinnig Liebenden‹, ohne deutlich wahrzunehmen, ob ihn die Leidenschaft bereits ergriffen oder nur erst ihren Schatten auf seine Seele vorausgeworfen habe. Das Orchester nimmt an der ausdrucksvollen Gestaltung des Gespräches anscheinend lebhaften Anteil:


9. Die C dur-Symphonie

Das Rezitativ mündet in ein Allegro maestoso; mit Pauken und Trompeten leitet das Orchester zu dem Begrüßungschor über, der, im wesentlichen vierstimmig, sich zur Sechsstimmigkeit erweitert, wenn Männer und Jungfrauen in dreistimmigen Wechselgesängen dem ›seligen Paare‹ zujubeln:


Seht, o seht, dort nahet schon,

in Jugendfülle und hehrer Pracht,

neuvermählt das junge Paar,

in Lieb' und ewiger Treu' vereint!


Die Männer:

Preis dir, der Schönsten aller Schönen!


Die Frauen:

Preis dir, dem Edelsten der Edlen!


usw.


[168] Aber unmittelbar vor dem Eintritt des hellen C dur-Allegro des Chores erklingt mahnend aufs neue jene merkwürdige sich aufbäumende Baßfigur aus Cadolts Erwiderung an den forschenden Freund:


9. Die C dur-Symphonie

Sie unterbricht auch plötzlich das pomphafte Nachspiel des vollen Orchesters, verkündend, daß, Leid auf Freude' folgen wird:


9. Die C dur-Symphonie

Ein frühestes ›Leitmotiv‹ scheint sich darin anzukündigen. Es führt über zu dem Rezitativ: ›Sie sind vermählt‹. Aus der Burgkapelle ist das hochzeitliche Paar, Arindal und Ada, mit festlichem Geleite geschritten; Cadolts düsterer Blick ist magnetisch auf die angetraute Braut des früheren Gegners geheftet und fesselt so den ihrigen, der, über die bunte Menge schweifend, unter plötzlichem Erschauern an der Gestalt des Unbekannten haften bleibt:


Ada (erblicht Cadolt).

Mein Gatte, sprich! wer ist der fremde Mann?


Arindal.

Cadolt ist's, Moralds Sohn, vor kurzem noch

mein Feind, doch jetzt für immerdar mein Freund!


Die Situation ist gegeben, aus welcher die folgende Handlung entspringt; die verschiedenen Stimmungen der handelnden Personen vereinigen sich am Schluß der Szene zu einem bedeutend angelegten Septett (Ada, Lora, Arindal, Harald, Admund, Cadolt, Hadmar), über welches Weinlig sehr erfreut war. Nicht dieselbe Zufriedenheit fand das Buch der Oper bei Rosalien, der es Wagner vorlegte. Ihr Mißfallen an dem Sujet war für ihn Grund genug, seine Dichtung spurlos zu vernichten und die weitere Ausführung seines Werkes aufzugeben.

Der Entwurf und die in Partitur völlig hergestellte Ausführung der ersten Szene hingegen verblieb zunächst in seinem Besitz. Auf welchem Wege das erstere Schriftstück später, nebst einer namhaften Anzahl anderer Papiere aus Wagners erster Periode (bis 1842 und darüber hinaus, meist Konzepte [169] zu Briefen und Aufsätzen), wie sie der Natur der Sache nach wohl nur aus dem Nachlaß seiner ersten Gattin herrühren konnten, einige Jahre nach dem Tode des Meisters – mit Übergehung einer naheliegenden Auslieferung an seine lebenden Angehörigen – als Handelsobjekt zu öffentlichem Ausgebot gelangt ist, gehört zu den mancherlei unaufgeklärten Vorgängen, die sich mit Wagners Handschriften zugetragen haben und, bei der fortdauernden allgemeinen Blüte des modernen ›Autographen‹-Schachers, noch beständig zutragen. Mit demselben Fragmente der ›Hochzeit‹ hatte aber der Meister selbst noch bei seinen Lebzeiten eine gar merkwürdige Erfahrung hinsichtlich des Rechtsschutzes geistigen Eigentums zu machen. Da auch die vollständig ausgeführte Partitur seines Erstlingswerkes nicht mehr in seinen Händen verblieben war, interessierte es ihn, nach fast einem halben Jahrhundert (1879) von der Existenz der wohlerhaltenen vollständigen Handschrift desselben, im Umfang von 36 Folioseiten, zu vernehmen, welche – wiederum mit Umgehung einer vorherigen Anfrage oder Anzeige bei dem Autor – öffentlich zum Verkauf ausgeboten wurde. In dem Wunsche, die längst vergessene Jugendarbeit sich neu zu vergegenwärtigen und seiner Familie ihren Besitz zu erhalten, erklärte er sich zum Ankauf seiner eigenen Handschrift bereit und verlangte eine Preisbestimmung; – der Besitzer, ein Würzburger Musikalienhändler, forderte dafür die Summe von fünftausend Mark! Wenig geneigt, sich zum wehrlosen Opfer gewissenloser Ausbeutung herzugeben oder mit unseren Autographensammlern von Fach in ihren kostspieligen Liebhabereien zu konkurrieren, und doch nicht willens seinen Wunsch ohne weiteres aufzugeben, ließ der also Beschiedene nach mehrfachen Verhandlungen ein gerichtliches Verfahren gegen den spekulativen Hortbesitzer einleiten. Ein Eigentumsrecht an dem Inhalt des Manuskriptes, welches das Publikationsrecht mit eingeschlossen hätte, konnte ja letzterer nach den bestehenden Gesetzen nicht haben, und für das bloße, mit Schriftzügen bedeckte Papier durfte der verlangte Preis wohl als unbillige Forderung gelten, die einem Erpressungsversuch nicht gar unähnlich sah.13 Anders entschied, in zwei Instanzen, die irdische Gerechtigkeit deutscher Gerichte. Der Erfolg des Prozesses war – eine Abweisung der Klage und die Verurteilung des Klägers zur Tragung der Prozeßkosten in der Höhe von sechshundert Mark, – als [170] Sühne für den übermütigen Wunsch und Versuch, zu seinem Jugendwerk in eine erneute Beziehung treten zu wollen! – –

In die Zeit seiner Rückkehr von Prag nach Leipzig fällt Wagners erste Bekanntschaft mit Heinrich Laube. Über diese frühesten Beziehungen Beider hat Laube zu wiederholten Malen berichtet. Er war sechs Jahre älter als Wagner, und sonnte sich soeben im frischen Glanz eines kürzlich errungenen Schriftstellerruhms. Aus Sprottau in Schlesien gebürtig, hatte er bereits auf dem Gymnasium die Wochenblätter seiner Heimat mit seinen Gedichten unsicher gemacht. Während seiner zweijährigen Studien zu Halle war er der verpönten Burschenschaft mit Auszeichnung angehörig gewesen, sodann in Breslau in literarische Beziehungen getreten, die dem jungen Theologen eine nähere Bekanntschaft mit dem Theater vermittelten. Der allbewegende Umschwung der Julirevolution lenkte auch seine Interessen auf die politischen Weltverhältnisse: gerade wie Wagner ›mit einem Schlage Revolutionär‹ geworden war, wurde Laube mit Leib und Seele ein ›leidenschaftlicher Partisan des Liberalismus‹, – dieser schien ihm die ›angewendete Theologie‹ und die ›neue Bergpredigt‹ zu sein. Zu Beginn des Jahres 1832, während Wagner Ouvertüren komponierte und sich für Polen begeisterte, hatte Laube seinen Roman ›das neue Jahrhundert‹ veröffentlicht; seine himmelstürmenden Freiheitsideen, mit studentischer Keckheit vorgetragen, mit renommistischen Kraftphrasen den Untergang der alten Zeit und Sitte, vor allem der alten, langweiligen Ehe predigend, die ›der Tod des göttlichen Liebesrausches und Lebensgenusses‹ sei, fanden bei der jüngeren Generation einen wohlvorbereiteten Boden. Die ihm durch den Erfolg seines Werkes zugeführten Mittel wollte er zu einer Reise nach Paris benutzen, um dort den Saint-Simonismus zu studieren. Im Beginn dieser Reise blieb er gleich auf der ersten Station, in Leipzig, hangen. Während er hier in einem düsteren Stübchen der Nikolaigasse die Hippolyts und Konstantins seines ›jungen Europa‹ ihre Briefe schreiben ließ, erhielt er von dem Buchhändler Leopold Voß, dem Besitzer der ›Zeitung für die elegante Welt‹ den Antrag, mit Beginn des bevorstehenden neuen Jahres die Redaktion dieses weitverbreiteten Journals zu übernehmen.

Auf einem Ball im Hôtel de Pologne hatte er – bald nach seiner Ankunft in Leipzig – seine lebhafte Tänzerin gefragt, ob sie nicht auch der Ansicht sei, daß unser jetziges Ehegesetz umgeändert werden müsse? ›Glücklicherweise‹, erzählt er selbst, ›war ich mit dieser frechen Frage an ein aufgewecktes Mädchen geraten. Sie antwortete: »muß es gleich sein?« und lachte. Es war die Schwester Richard Wagners‹. Vermutlich ist Ottilie gemeint. Rosalien hatte er im Theater als poesievolle Darstellerin kennen und schätzen gelernt; nicht lange danach traf auch Richard ein. ›Ich kam in das Haus seiner Familie‹, fährt Laube fort, ›und die sorgenvolle Mutter fragte mich stets: »Glauben Sie, daß aus dem Richard etwas wird?« Sie war eine kleine verständige [171] Frau, nicht ohne humoristische Wendungen im Gespräche. Sie hatte in ihrer zweiten Ehe, mit einem Maler, Verständnis für künstlerische Zustände eingesogen, und zwei ihrer Töchter waren Schauspielerinnen. Aber eben deshalb erschien ihr doch eine bloß musikalische Laufbahn ihres Richard als wirtschaftliche Laufbahn recht bedenklich. Richard selbst war so ausgelassen, und, wenn der nötige Erwerb mit bloßer Musik in Rede kam, so phantastisch. Er hatte den guten musikalischen Unterricht, welcher seit Bach in Leipzig zu Hause war, gründlich genossen, und strotzte von Zuversicht‹. Soweit – mit einigen unwesentlichen Kürzungen – Laubes Erzählung, sie scheint in ihren Einzelheiten ziemlich wahrheitsgetreu, bis auf den gleich daran geschlossenen weiteren Umstand, daß Wagner einen Operntext von ihm vertangt hätte! Vielmehr lesen wir in der ›Mitteilung an meine Freunde‹ aufs unzweideutigste das Gegenteil, nämlich, daß Wagner den ihm angebotenen Text zu einer Oper ›Kosziusko‹ abgelehnt habe.14

Es gibt in gewissen delikaten Fällen eine höfliche Art der Ablehnung, die für eine halbe Annahme gehalten werden kann; schwieriger und nicht ganz ohne eigenes Zutun möglich ist es, sie zu einer Aufforderung oder einem Verlangen umzudeuten. In einem Punkte, wie diesem, war für Wagner, schon im ersten Beginn seiner künstlerischen Entwickelung, die konsequent von ihm durchgeführte Abneigung gegen fremde Texte entscheidend, die ihm nicht Wort für Wort und Szene für Szene aus eigener Seele gequollen waren; und insbesondere mochte er doch seinem neuen Freunde alles andere eher zutrauen, als gerade die Kenntnis dessen, was ihm selber erst noch allmählich im tiefsten Innern reiste: das Bewußtsein der Erfordernisse eines richtigen, in dem ihm vorschwebenden Sinne dramatisch wirksamen ›Opernstoffes‹ und seiner Behandlung. Jedenfalls merkte der Textdichter bald genug, was die Glocke geschlagen habe, und ließ von seiner angefangenen Arbeit ab: ›ich begann meinen »Kosziusko, blieb aber im ersten Akte, im Reichstag von Krakau, stecken; und Richard selbst schien kein besonderes Gefallen daran zu finden.« Dem beiderseitigen guten Verhältnis schien diese Zurückhaltung zunächst keinen Eintrag zu tun. Daß aber das von Laube projektierte Sujet gerade ein »Kosziusko« war, daß er bei dem neuen Freunde gerade mit dem polnischen Freiheitskämpfer Eindruck zu machen verhoffte, war gewiß kein Zufall: die Polenbegeisterung spielt nicht allein in Wagners Studentenzeit, sondern auch bei den Helden des »jungen Europa« ihre wichtige Rolle Beide jungen Männer hatten bei dem damaligen Stande ihrer Entwickelung gar manchen Berührungspunkt: beide waren jugendlich heißblütig, beide voll Tatendrang und Unternehmungslust; beide geborene Weltverbesserer, vor keinen Konsequenzen zurückscheuend; beiden war die Welt der politischen und ästhetischen Öffentlichkeit noch ein weit offenstehendes, [172] erst noch zu beschreitendes Feld, und Wagners damalige Neigung zum, Verkehr mit politischen Literaten‹ fand in dem neuen Umgang eine willkommene Nahrung und Befriedigung. Als Standquartier und Versammlungsort der ›eleganten‹ und ›modernen‹ Belletristik Leipzigs diente damals vorzüglich, besonders um die Messenzeit, Kintschys Konditorladen: hier versammelte sich die schöngeistige und politisierende ›jung-europäische‹ Welt, um Grog, Kaffee oder Chokolade zu trinken, Eis oder Gebackenes zu genießen oder auch Journale zu lesen; hier verkehrte, außer Laube, der nicht unbegabte, unglückliche Dichter der ›Polenlieder‹, Ernst Ortlepp, seit kurzem von Naumburg her übergesiedelt und ›gleich diesem, literarischen und poetischen Studien obliegend; Gustav Schlesier, Wagners Schulgenosse von der Dresdener Kreuzschule her und mit ihm zur Leipziger Nikolaischule übergegangen, dessen wir bereits (S. 104) gedachten, und mit dem er hier, Schellings transszendentalen Idealismus‹ diskutierte; und an manches solche Leipziger Beisammensein einer sorglosen Jugendzeit mochte Wagner in der Folge in der entbehrungsvollen kalten Pariser Fremde denken, wenn er die Worte niederschrieb: ›Deutscher zu sein ist herrlich, wenn man zu Haus ist, wo man Gemüt, Jean Paul und bayrisches Bier hat, wo man sich über die Hegelsche Philosophie oder die Straußischen Walzer streiten kann‹ usw. – Und in der Tat war es eine nicht wiederkehrende sorglos ungebundene Jugendzeit, in der sich der werdende Künstler von seiner Umgebung gefördert, gehoben und getragen fühlte, je weniger noch die zutage getretene künstlerische Eigenart den Widerspruch dieser – näheren und ferneren – Umgebung heraufbeschwor.

Vergegenwärtigen wir uns hier mit wenigen Zügen die Typen dieses ›jungen Europa‹ inmitten des alten Leipzig, in dessen ›belletristische Hofratslust‹ Laube die eigentümliche Frische des Breslauer Studenten zu verbreiten anfing. Er besaß, nach den Schilderungen der Zeitgenossen, die Kunst, im Kreise seines nächsten persönlichen Wirkens enthusiastische Freunde zu gewinnen. ›Wer je mit ihm eine Zigarre geraucht oder an der Table d'hôte des Hôtel de Bavière seinen maßgebenden Aussprüchen gelauscht hatte, ging für ihn durchs Feuer; es war der Zauber der Anlehnung an eine sichere Beherrschung des Lebens‹.15 Er hatte zur Burschenschaft gehört, fand aber in seiner äußeren Erscheinung weniger am entblößten Halse mit zurückgeschlagenen Hemdkragen, als an der polnischen Kurtka mit hängenden Schnüren und Troddeln Gefallen; gewisse geniale Mützen und Überwürfe haben lange in Leipzig seinen Namen getragen. Nachdem er einige Artikel, einige noch unreife Bücher geschrieben, bekam er nun ein eigenes Journal in seine Hand, in dessen Spalten er seine Sprüche unbedingter Unfehlbarkeit wie Manifeste erließ. ›In jeder Woche (?) brachte die Zeitung für die elegante Welt einen im wesentlichen unreifen, im [173] Stil galoppierenden, manchmal im Karriere durchgehenden Artikel, der aber bei alledem ein Thema des Tages mit Frische und Natürlichkeit behandelte‹.16 Über Schlesiers behäbige Erscheinung, dem ein vorschnell gekommenes Bäuchlein trotz seiner Jugend das Ansehen eines ›Abbé der alten Schule‹ verlieh, meldet uns Gutzkow aus persönlicher Bekanntschaft, er sei das Prototyp eines sächsischen Gelehrten, durch und durch Magister gewesen, habe aber mit Pedanterie Anflüge von Eleganz vereinigt. ›Im Schlafrock ganz nur Stubengelehrter und pedantisch, wie nur Gottsched pedantisch gewesen sein kann, war Schlesier Abends, vielleicht am Teetisch einer jungen Witwe, die sich sein Freund später als Gattin gewann,17 Petit-maître. Sein Wissen war unbezweifelbar, doch keinesfalls so umfassend, daß damit die Sicherheit seiner Urteilsabgabe hätte entschuldigt werden können. Ein aus Dresden Gekommener, war er jedenfalls in Kunstanschauungen und unter guten Theatereindrücken aufgewachsen‹.18 Derselbe Gewährsmann bezeichnet ihn fernerhin als einen scharfsinnigen Kopf, dessen sarkastischer Spott auf ihn (Gutzkow) von Einfluß gewesen, ihn ›niedergeschmettert‹ und in eine andere Richtung gewiesen habe. Wenn Laube einmal, wie im Sommer und Herbst 1833, eine Vergnügungsreise unternahm, pflegte er Schlesier als Stellvertreter in der Redaktion zu hinterlassen. Zur Charakteristik Ortlepps, der übrigens nur indirekt und episodisch in Wagners Leben eingreift, diene außer seinem Polenenthusiasmus und sonstigen jungeuropäischen Tendenzen noch der Hinweis auf eine andere ausgeprägte Eigenschaft, die ihn zu Wagner in eine lebhaftere geistige Beziehung setzen konnte. Dies war seine unbegrenzte Verehrung für Beethoven, wie sie u. a. in seiner begeisterten Schrift: ›Beethoven, eine phantastische Charakteristik‹ (Leipzig, Hartknoch) zutage tritt. Geboren um 1800 in einem kleinen Orte bei Naumburg, siedelte er um die Zeit von Laubes erster Leipziger Niederlassung ebenfalls dahin über, mußte die Stadt jedoch, bald nach Laubes Ausweisung, wegen seiner politischen Gedichte ebenfalls verlassen. Er ging mit Schlesier nach Stuttgart, wo damals A. Lewald als Herausgeber der ›Europa‹ im Mittelpunkt eines regen literarischen Verkehrs stand, geriet aber dort in so dürftige Verhältnisse, daß er wieder in seine Heimat zurückkehren mußte. ›Körperliche und geistige Leiden brachen endlich seine moralische Kraft; er ergab sich dem Trunke und sank immer tiefer ins Elend; am 14. Juni 1864 wurde er im [174] Mühlgraben (kleine Saale) beim Dorfe Almrich tot aufgefunden‹.19 Aber auch mit der literarischen Berühmtheit Schlesiers nahm es ein auffallend frühes Ende Gutzkow, den wir fortfahren in dieser Beziehung als Autorität zu zitieren, nennt von ihm ein Buch über ›Oberdeutsche Staaten und Stämme‹ und eine größere Arbeit über ›Wilhelm von Humboldt‹; seitdem, fügt er hinzu ›ist der Mann in einem Grade verschollen, daß ich kaum weiß, ob der kühne Anläufer zu einem neuen Varnhagen von Ense oder gar zum zweiten Friedrich Gentz zur Zeit (1875) noch unter den Lebenden verweilt‹. Und so leitet sich – mit dieser Gruppe junger Literaten, die sich für die ebenbürtigen Nachfolger der klassischen Epoche ansahen – jene ununterbrochene Folge von Schattenzügen der literarischen Mode ein, die, so wirklich und leibhaftig ihre Führer zeitweilig, in den Tagen ihres jedesmaligen, vorübergehenden Glanzes, sich vorkamen, an der Laufbahn Wagners gemessen, doch nur als vergängliche Eintagserscheinungen gelten können. Der Nimbus des jungen Europa wurzelte nicht in den unsichtbaren Tiefen der deutschen Natur; er war zu ausschließlich auf den Kontrast zu einer kurz vorhergegangenen verzopften Periode aufgebaut, um über den leicht errungenen Sieg hinaus von Dauer zu sein. Die Glorie seiner Vertreter war in wenigen Jahrzehnten verpufft und nur ihr zeitweiliger Alliierter und gelegentlicher Teilnehmer an ihren Exzessen sollte ihre künstlich moussierende Jugend mit ewigen Werken überleben.

Für damals stand er aber noch inmitten ihres Kreises. ›Ich habe‹, sagt er selbst in später Rückerinnerung ›dem jugendlichen Erblühen der Pflanze des »jungen Deutschland« zugesehen. Ihre Pfleger begannen mit dem Krieg gegen literarische »Orthodoxie«, womit der Glaube an unsere großen Dichter und Weisen des vorausgegangenen Jahrhunderts gemeint war, und bekämpften die ihnen nachfolgende, sogenannte »Romantik«.‹20 Zu dieser ›Orthodoxie‹ gehörte für Laube jedenfalls nicht allein der Glaube an Goethe und Schiller, sondern auch an Mozart, zu dessen ›schwächsten Produkten‹ er die ›naive, schmatzhafte Zauberflöte‹ zählt; zu der von ihm bekämpften ›Romantik‹ nicht allein Tieck und Novalis, sondern auch Weber, der – nach Laubes Ansicht – die Oper ›auf lange Zeit rückwärts bewegt‹ (!) habe ›Karl Maria von Weber‹, so lautete dieses Verdikt vom Dreifuß des jungen Deutschland herab ›ein braver und ehrlicher Mann, der sogar ein sehr gescheiter Mann gewesen sein soll, ist der bare Ausdruck all unseres Philistertums geworden (!), mit seinen einzelnen lyrischen Reizen und all seinem übrigen gemachten poesielosen Wesen.‹ ›Unsere Musik ist neben unserer Poesie noch sehr zurück; man kann unsere bedeutenden Komponisten nicht mit unseren bedeutenden Dichtern vergleichen, [175] und Friedrich Schiller hatte zu viel Genialität, mit welcher er unseren schwatzhaften Nationalfehler verherrlichte, als daß ich Weber den »Schiller der Musik« nennen dürfte.‹ Äußerungen dieser schroff absprechenden und oberflächlichen Art, als Kraftsprüche mit apodiktischer Sicherheit vorgetragen, konnten den jungen Musiker, der in den hier so geringschätzig behandelten Meistern seine höchsten Vorbilder verehrte, zu dem lebhaftesten Widerspruch herausfordern, und Laube gedenkt noch in späteren Erinnerungen seiner damaligen Diskussionen mit ihm und der aus ›Wagners Reden‹ entnommenen chimärischen Vorstellung: er möchte, über die herrschende französische Oper hinaus, eine ›deutsch-dramatische Oper‹ erfinden. ›Ich laboriere,‹ so ließ sich dann wohl der erfahrene Freund dagegen vernehmen ›an einer traurigen Idee, welche mir die deutschen Komponisten ihr Leben lang nicht verzeihen: ich glaube nämlich, daß die Deutschen noch gar keine Oper gehabt haben und daß sie keine Oper schreiben können. Mozart das Ein und Alles unserer Opernmusik, war ein halbitalienischer Komponist; die schönen Namen Beethovens und Spohrs gehören ganz wo anders hin als in den Preis der deutschen Oper. Don Giovanni ist innen und außen ein Kind des Südens; es ist wirklich auffallend, daß die deutschen Komponisten aus dieser Oper nicht gelernt haben, für den Gesang zu schreiben. Denn das ist es eben, was unsere Landsleute nicht verstehen; sie komponieren, sie instrumentieren mit großer Kunst und Gelehrsamkeit, es ist oft eine geschickte Verwirrnis in den Dingen, daß man nicht ein Wort versteht; aber die ewig einfache Schönheit kommt nirgends zum Vorschein, und zum musikalischen Handeln, zum eigentlichen Drama ist nirgends Raum. Es wird alles beschrieben und beinstrumentiert: der Sonnenaufgang und das Murmeln des Baches. Alle Dinge haben einen Mittelpunkt, einen gewissen Kern, wo ihr ganzes Wesen mit einem Griffe zu packen ist, das ist die Poesie der Dinge – jene Leute, die drum und dran herunter schreiben, sind nicht geweiht und haben sie nimmermehr gesehen.‹ Man versteht, daß in diesen Äußerungen Laubes über ein Kunstgebiet, das ihm doch nicht unmittelbar vertraut war, über seine groben, handgreiflichen Irrtümer hinaus, eine von ihm selbst nicht in ihrem wahren Wesen ermessene, Wahrheit enthalten ist; man begreift auch, daß eben diese, von dem jungen Künstler in heißer Empfindung vorausgeahnte Wahrheit zu einem Berührungspunkt zwischen ihm und dem seltsamen literarischen Freunde werden, ja sogar ihn zu mancherlei Konzessionen hinreißen konnte, die sein eigenes Urteil in künstlerischen Dingen, wie wir des weiteren wahrnehmen werden, nicht unbeeinflußt ließen.

Einstweilen verfolgen wir die Schicksale seines bis dahin größten Werkes, der Symphonie in C dur, in der Leipziger Öffentlichkeit. Alsbald nach seiner Rückkehr aus Wien und Prag hatte er die Partitur dem Direktorium der Gewandhauskonzerte behufs baldiger Aufführung eingereicht. Seine eigene Erzählung gibt über diese erste Aufführung den anschaulichsten Bericht: ›In [176] der christlichen Vor-Jetztzeit Leipzigs, deren wohl nur sehr wenige meiner geburtsstädtischen Mitbürger sich noch erinnern werden, war das sogenannte Gewandhauskonzert selbst für Anfänger meiner »Richtung« akzessibel, da in letzter Instanz über die Zulassung neuer Kompositionen ein würdiger alter Herr, der Hofrat Rochlitz, als Vorstand entschied, der die Sachen genau nahm und ordentlich sich ansah. Ihm war meine Symphonie vorgelegt worden, und ich hatte ihm nun meinen Besuch zu machen; da ich mich ihm persönlich vorstellte, schob der stattliche Mann seine Brille auf und rief: »Was ist das? Sie sind ja ein ganz junger Mensch; ich hatte mir einen viel älteren, weil erfahreneren Komponisten erwartet«. – Das lautete denn gut: die Symphonie ward angenommen, doch wünschte man, daß sie womöglich zuvor von der »Euterpe«, gewissermaßen zur Probe, aufgeführt würde. Nichts war leichter als dies zu bewerkstelligen: ich stand gut mit diesem untergeordneten Orchestervereine, welcher bereits im »alten Schützenhause« vor dem Peterstore eine ziemlich fugierte Konzertouvertüre von mir freiwillig aufgeführt hatte. Wir hatten uns jetzt, um Weihnachten 1832, nach der »Schneiderherberge« am Thomastore übergesiedelt, – ein Umstand, den ich zu beliebiger Verwertung unseren Witzlingen überweise. Ich entsinne mich, daß wir dort durch die mangelhafte Beleuchtung sehr inkommodiert waren; doch sah man wohl genug, um nach einer Probe, in welcher ein ganzes Konzertprogramm außerdem noch mit bestritten worden war, meine Symphonie wirklich herunterzuspielen, wenn mir selbst dies auch wenig Freude machte, da sie mir gar nicht gut klingen zu wollen schien.21 Allein, wozu ist der Glaube da? Heinrich Laube, der sich damals mit Aufsehen schriftstellernd in Leipzig aufhielt und sich gar nichts daraus machte, wie etwas klang, hatte mich in Protektion genommen; er lobte meine Symphonie in der »Zeitung für die elegante Welt« mit großer Wärme, und acht Tage darauf erlebte meine gute Mutter die Versetzung meines Werkes aus der »Schneiderherberge« in das Gewandhaus, wo es, unter so ziemlich ähnlichen Umständen wie dort, seine Aufführung erlitt. Man war damals gut für mich in Leipzig: etwas Verwunderung und genügendes Wohlwollen entließen mich für Weiteres‹.

Dieser eigenen lebensvollen Erzählung des Meisters haben wir nur, als Nachlese, einige mehr das Äußere des Vorganges betreffende Daten ergänzend[177] hinzuzufügen. Das Gewandhauskonzert, welches die Symphonie als erste Nummer brachte, gehörte zu den regelmäßigen Abonnementskonzerten unter August Pohlenz, und fand am 10. Januar 1833, unter gleichzeitiger Mitwirkung zweier anmutig jugendlichen Debütantinnen, der fünfzehnjährigen Livia Gerhard,22 und der erst dreizehnjährigen Klara Wieck, mit folgendem Programme statt:


1) Symphonie von Richard Wagner (neu).

2) Szene und Arie aus ›Sargino‹ von Paer, gesungen von Dem. Gerhard.

3) Pianoforte-Konzert von Pixis, vorgetragen von Dem. Klara Wieck.

4) Ouvertüre zu ›König Stephan‹ von Beethoven.

5) Terzett aus ›La vilanella rapita‹ von Mozart, gesungen von Dem. Grabau, Hrn. Otto und Hrn. Bode.

6) Finale aus ›I Capuleti e Montechi‹ von Bellini.


Wenn jedoch die Darstellung Wagners der öffentlichen Besprechung seines Werkes durch Laube eine Einwirkung auf dessen Annahme seitens der Gewandhausdirektion als freundschaftliches Verdienst zuzusprechen scheint: so möge solcher Deutung gegenüber daran erinnert werden, daß jene – warm anerkennende – Erwähnung in dem Laubeschen Blatte erst ein volles Vierteljahr nach der Aufführung, bei Gelegenheit eines Rückblickes auf die Abonnementskonzerte vorkommt und mithin einen derartig fördernden Einfluß in keinem Fall ausgeübt haben kann. Sie findet sich tatsächlich erst in der Nr. 82 der ›Zeitung für die elegante Welt‹ vom 27. April 1833 und lautet, wie folgt: ›Ich habe im Laufe des Winters ebenda (in den Gewandhauskonzerten) eine Symphonie, im Beethovenschen Genre empfangen und gearbeitet, von einem jungen Komponisten, Richard Wagner, gehört, die mir das beste Vorurteil für die Arbeiten des auftretenden Musikers erregt. Es ist eine kecke, dreiste Energie der Gedanken, die sich in der Symphonie die Hände reichen, es ist ein stürmischer kühner Schritt, der von einem Ende zum andern schreitet, und doch eine so jungfräuliche Naivität in der Empfängnis der Grundmotive, daß [178] ich große Hoffnungen auf das musikalische Talent des Verfassers gesetzt habe‹. Unter den uns bekannt gewordenen öffentlichen Erwähnungen dieser Aufführung haben zwei andere die Ehre der Priorität: die eine in Herlossohns ›Komet‹ vom 1. März, von Ernst Ortlepp, die andere in der ›Allgemeinen Musikalischen Zeitung‹, vom 13. Februar 1833, mutmaßlich vom Redakteur dieser Zeitschrift, G. W. Fink.23 Die letztere schließt mit den Worten: ›Der junge Künstler ist vor einigen Wochen nach Würzburgzu einem seiner Brüder gereist, der dort als Gesanglehrer wirkt‹. Die erstere weist dagegen an ihrem Schlusse auf die Aussicht hin, Wagner bald mit einer Oper auftreten zu sehen. An beide Aussprüche haben wir anzuknüpfen.

Was zunächst die von Wagner erwartete ›Oper‹ betrifft, so handelt es sich offenbar noch um den Laubeschen ›Kozciusko‹, dessen zuvor erzähltes Schicksal in den kaum acht Wochen seit Wagners Rückkehr nach Leipzig sich vollzog [179] und offenbar in den Augen des Berichterstatters, der durch Laube davon vernommen, um diese Zeit noch nicht ausgespielt hat. Wir können es auch als ziemlich gewiß betrachten, daß Wagner mit Laube als Textdichter einen glänzenden äußeren Erfolg ihres gemeinschaftlichen Werkes erlebt haben würde. Hätte er sich zu irgend einer Zeit durch eine Rücksicht auf den äußeren Vorteil bestimmen lassen, so wäre die Mitarbeit des durch seine literarischen und journalistischen Verbindungen nicht einflußlosen Freundes von ihm nicht ausgeschlagen worden. Statt dessen führte ihn der innere Drang fernab vom eingefahrenen Geleise auf unbetretene eigene Bahnen; und eben die innere Notwendigkeit, welche ihn hier aus künstlerischer Überzeugung eine günstige Konstellation unbeachtet vorübergehen ließ, erwies sich in ihren Wirkungen für ihn verhängnisvoll. Denn sein bald darauf wirklich geschaffenes ›nach Dicht‹ und ›Weise ihm eigenes‹ Werk – gelangte nicht zur Aufführung. So leicht es ihm geworden war, im Konzertsaal sich die Gunst des Publikums zu gewinnen, so andauernd blieb es ihm verwehrt, trotz eigener Tätigkeit am Theater, eines seiner folgenden dramatisch-musikalischen Werke sich und dem Publikum zu szenischer Anschauung zu bringen, was doch so zahlreichen anderen Produkten gleichzeitiger Autoren ohne sonderliche Schwierigkeit gelang! Und von wie entscheidender Wichtigkeit wäre es für den äußeren Erfolg seiner künstlerischen Laufbahn gewesen, wenn er Stufe für Stufe seiner Entwickelung vor den Augen und Ohren des Publikums hätte zurücklegen können und seinen Beziehungen zur Öffentlichkeit nicht von hier ab auf lange Jahre hinaus ein Riegel vorgeschoben gewesen wäre!

Mit der Reise nach Würzburg hatte es an sich ursprünglich keine andere Bewandtnis, als daß der junge Künstler – durch keine Pflichten irgend welcher Art an seine Vaterstadt gebunden – das ›Bleibe nicht am Boden haften‹ sich nicht vergebens gesagt sein ließ. Zunächst handelte es sich um einen Besuch seines Bruders Albert, den er seit mehreren Jahren nicht gesehen. Außerdem hatte ihn der dortige Musikverein, wahrscheinlich auf Alberts Anregung, dazu aufgefordert, eine seiner Ouvertüren bei einer der Musikaufführungen des Würzburger Vereins unter eigener Leitung zu Gehör zu bringen. In einem Antwortschreiben vom 12. Januar 1833 (zwei Tage nach der Aufführung der Symphonie) akzeptiert Wagner dankend die an ihn ergangene Einladung. Wenige Tage später war er unterwegs nach Würzburg, noch ohne eine feste Absicht in betreff der Dauer seines dortigen Verweilens.

Fußnoten

1 Richard Wagners Symphonie in C dur, analysiert von Oskar Eichberg. 28 Seiten 8 mit 25 Notenbeispielen (Berlin 1887, Verlag der Konzertdirektion Hermann Wolf). Die Umsicht und Kenntnis des Verfassers dieser kleinen Schrift bietet dem Leser in dem engen Rahmen weniger Blätter so viel, als sich billiger Weise nur irgend in den Grenzen einer Programmschrift für Konzertzwecke erwarten läßt, und bildet daher eine Art gedrängter Monographie darüber. Vgl. übrigens auch: Eugen Segnitz, ›R. Wagner u. Leipzig‹ S. 43/60.


2 Ges. Schr. X, S. 405: ›Damit Sie aber einen Begriff davon erhalten, wieweit ich es vor fünfzig Jahren doch bereits auch im Elegischen gebracht hatte, gebe ich Ihnen hiermit das Thema – nein! wollen wir sagen – die Melodie des zweiten Satzes zum Besten‹ usw.


3 Vgl. Neue Musikal. Rundschau 1897, Oktoberheft, S. 5.


4 Wörtlich abgedruckt findet sich dieser Brief zum ersten Mal in einem Programmbuch des Berliner Wagner-Vereins v. 11. März 1901 (vgl. auch ›Die Musik‹ 1903, II. Qu., S. 130).


5 Die erste Aufführung der Heroldschen Oper im Wiener Hofopernhause hatte am 3. Mai des gleichen Jahres (1832) stattgefunden, sie war also noch völlig neu. Eine Parodie von Nestroy ›Zampa, der Tagedieb oder die Braut von Gips‹ (mit Musik von Adolf Müller sen.) fand gleichzeitig in einem Vorstadttheater denselben Beifall, wie in der Hofoper das Original.


6 Der Schlußsatz der Symphonie umfaßte nach Tapperts Zählung in den Originalstimmen ursprünglich 492 Takte, von denen durch den erwähnten Abstrich 452 übrig blieben, die in der Folge durch eine weitere Streichung (wann?) auf 397 reduziert worden sind. ›Es scheint demnach das Finale, diesem äußeren Umstande nach zu schließen, dem Komponisten am wenigsten zugesagt, oder doch, nach seiner Meinung, Überflüssiges enthalten zu haben‹ (Eichberg, S. 25).


7 Vgl. ›Über das Dirigieren‹, Ges. Schr. VIII, S. 356/57.


8 Z.B. beruft er sich später hinsichtlich des sog. Brief- oder Schreibeduettes zwischen Susanna und der Gräfin nicht allein auf sein natürliches Gefühl, sondern auch auf die aus der angegebenen Quelle ihm zugekommene Tradition, wenn er sich dasselbe, ganz seiner Bezeichnung gemäß, nur als Allegretto denke, während, die meisten deutschen Sängerinnen, durch das verführerische Cantabile dazu vermocht, sich allmählich gewöhnt haben, dies Stück mehr oder weniger in der Weise eines zärtlichen Liebesduettes vorzutragen.


9 Vgl. S. 125. Außer in der Rolle des neapolitanischen Fischermädchens trat sie während ihres Prager Gastspieles noch in einer anderen stummen Rolle, in Th. Hells damals beliebtem Melodrama ›Yelva‹ (nach dem Französischen, mit Musik von Reißiger) auf, wobei sie nach den gleichzeitigen Berichten ›every limb a tongue‹ war und fast mit jeder ihrer stummen Reden einen enthusiastischen Beifallssturm entfesselte (Korrespondenz der ›Abendzeitung‹, vgl. auch die Prager ›Bohemia‹ von 1832 u. a.).


10 H. v. Wolzogen, Richard Wagner und die Tierwelt, S. 13/14.


11 Wir folgen mit dieser negativen Angabe der Erzählung in den ›Ges. Schriften‹ Bd. I, S. 12; jedenfalls sind sämtliche bisher darüber angestellten positiven Vermutungen auf gänzlich falscher Fährte. So z. B. auch diejenige Dr. Franz Munckers (›Richard Wagners Operntext: Die Hochzeit‹ in der Zeitschrift ›Musik‹ 1903, IV. Quartal, S. 1824 ff.), der eine Anlehnung an Immermanns Trauerspiel ›Cardenio und Celinde‹ (!) voraussetzt, in welchem angeblich die Grundlinien der Handlung sich wiederfänden.


12 Musik. Wochenbl. 1887, Nr. 27.


13 In dieser Beziehung hatte Wagner im Jahre 1871 in Straßburg eine Erfahrung gemacht, die er nicht zu erneuern gesonnen war. Ein dortiger Händler bot ihm ein Paket seiner eigenen Briefe für 300 Mark zum Kaufe an; der Inhalt wurde nicht gezeigt, es hieß nur: es seien so und so viele Briefe und auch einer von Frau Richard Wagner dabei. In der Annahme, es könne sich um intime Mitteilungen handeln und deren unschicklicher Veräußerung oder Veröffentlichung vorgebeugt werden, ließ er sich dazu bewegen, den geforderten Preis zu zahlen, und fand in dem geheimnisvollen Paket – einige unbedeutende geschäftliche Korrespondenzen, an deren Wiedergewinnung ihm auch nicht das mindeste liegen konnte. Aber der Handel war geschlossen und nicht wieder rückgängig zu machen!


14 Wagner, Ges. Schr. IV, S. 312.


15 Gutzkow, Rückblicke auf mein Leben, S. 13.


16 Ebendaselbst S. 11. ›Es muß indes für den heutigen Leser bemerkt werden, daß die elegante Welt‹ nicht etwa eine Wochenschrift war; sie erschien täglich und brachte einmal wöchentlich, am Donnerstag, eine nach heutigen Begriffen ziemlich magere Beilage, das ›Literaturblatt‹. Mitarbeiter des letzteren waren, neben Laube, Gustav Schlesier und Ludolf Wienbarg, die jedoch nur ausnahmsweise, in besonderen Fällen, mit ihren Namen zeichneten. (Vgl. die Ankündigung im Jahre 1834, Nr. 107 vom 5. Juni, S. 428.)


17 Laubes nachmalige Gattin, Iduna Budäus, die geistvoll liebenswürdige Witwe des Professors Hänel in Leipzig ist gemeint.


18 Gutzkow, Rückblicke auf mein Leben, S. 13.


19 Seine zahlreichen literarischen Arbeiten, hauptsächlich aus den Jahren 1828/56 (Gesammelte Werke, 3 Bde., 1845) finden sich ziemlich vollzählig in Brümmers ›Deutschem Dichterlexikon‹ verzeichnet.


20 Wagner, Gesammelte Schriften, Band X, S. 80.


21 Es heißt darüber in einer Leipziger Korrespondenz der ›Allgemeinen Musikalischen Zeitung‹ (Red. G. W. Fink) vom 13. Februar 1833: ›Unsere Euterpe, eine Orchestergesellschaft aus Dilettanten und jungen Mitgliedern des großen Orchesters bestehend, ist in diesem Jahr unter fortgesetzter Leitung des Musikdirektors Ch. G. Müller außerordentlich tätig, Altes und Neues, meist sehr gelungen, zu Gehör bringend. Außer mehreren Symphonien von Haydn, Mozart und Beethoven hörten wir eine neue, sehr gut gearbeitete Symphonie von einem auch öffentlich schon bekannten Mitgliede des Vereins, Hrn. F. L. Schubert, dann von Richard Wagner‹ usw.


22 Es ist die geniale Sängerin Livia Gerhard gemeint, die leider nachmals, durch ihre Befreundung mit Mendelssohn, zu Wagner in einen so schroffen Gegensatz geriet, daß nicht einmal sein Name in ihrem Hause genannt werden durfte! ›Geboren 1818 in Gera, erhielt sie von Pohlenz Gesangunterricht und berat 1833, also schon in ihrem fünfzehnten Jahre, die Leipziger Bühne mit glänzendem Erfolge. Was gleichzeitig am Leipziger Theater Rosalie Wagner, die Schwester Richard Wagners, als Schauspielerin, nämlich eine echt poetische, seelenvolle Künstlerin, das war die Gerhard als Sängerin, deren Spiel im Verein mit dem zarten Timbre ihrer glockenhellen Sopranstimme den tiefsten, angenehmsten Eindruck machte. 1835 ging sie ans Königsstädter Theater nach Berlin, nahm jedoch schon im folgenden Jahre‹ also gleichzeitig mit Rosalie ›Abschied von der Bühne, um dem Leipziger Dr. jur. und Privatdozenten Woldemar Frege die Hand am Altare zu reichen‹ (Dr. E. Kneschke, Geschichte der Gewandhaus-Konzerte, S. 58).


23 Beide Rezensionen aus älterer Zeit, die frühesten ausführlichen Besprechungen eines Wagnerischen Tonwerkes, haben für uns Heutige ein unzweifelhaftes geschichtliches Interesse. ›Die neue Symphonie unseres noch ganz jugendlichen Richard Wagners (er zählt kaum 20 Jahre) wurde in allen Sätzen, mit Ausnahme des zweiten‹ (also des bedeutendsten von allen) ›von der sehr zahlreichen Versammlung mit lautem Beifalle und nach Verdienst begrüßt‹, läßt sich der Berichterstatter der ›Allg. Mus. Zeitung‹ vernehmen. ›Wir wüßten kaum, was man von einem ersten Versuche in einer jetzt so hoch gestiegenen Tondichtungsgattung mehr verlangen könnte, wenn man nicht geradezu alle Billigkeit beiseite setzen will. Der Arbeit gebührt das Lob eines großen Fleißes, und der Gehalt der Erfindung ist nichts weniger als gering; die Zusammenstellungen zeugen von eigentümlicher Auffassung, und die ganze Intention beurkundet ein so rechtliches Streben, daß wir auf diesen jungen Mann mit freudigen Hoffnungen sehen. Ist auch der Eifer, sich selbst treu zu bleiben, noch ebenso angestrengt, als die Benutzung der Orchester-Effekte noch nicht erfahren genug; ist auch wohl die beharrliche Durchführung eines und des anderen Gedankens noch zu lang, zu viel gewendet, so sind dies doch einzig nur solche Punkte, die sich durch redlich fortgesetzte Arbeit von selbst geben. Das aber, was Herr Wagner hat, gibt sich nicht, wenn es nicht schon von selbst in der Seele lebt. Der junge Künstler ist‹ usw. (es folgt die oben angeführte Personalnotiz über seine Abreise nach Würzburg). Und die Ortleppsche Besprechung im ›Kometen‹ lautet: ›Das Konzert begann mit einer neuen Symphonie von einem sehr jungen Manne, Richard Wagner. Ein erster Versuch kann nicht leicht ein Meisterwerk sein, um so weniger, wenn er fast als reine Nachahmung dasteht; indes kann sich dessenungeachtet darin ein sehr bedeutendes Talent aussprechen. Das gilt auch von Wagners Symphonie Wagner hat Beethoven, ja sogar eine bestimmte Symphonie desselben, die A dur-Symphonie, vor Augen gehabt, und das architektonische Gebäude der seinigen danach eingerichtet. Weit entfernt, an dem Anfänger dies zu tadeln, loben wir, daß er sich ein so hohes Vorbild erwählte, um so mehr, je glücklicher er es in vieler Hinsicht zu erreichen verstand... Als besonders gelungen erschien uns das (wenn auch ziemlich genau nach dem der A dur-Symphonie gearbeitete) Andante; nicht billigen können wir die Trompetenfuge des letzten Satzes. Hat sich Wagner zur Selbständigkeit erhoben, und wird, statt des Verstandes, erst sein Gemüt die Mechanik der Tonkunst handhaben, so sind wir überzeugt, daß er Großes leisten wird. Seine Symphonie fand lauten Beifall. Wie wir hören, wird er bald mit einer Oper auftreten.‹

Quelle:
Glasenapp, Carl Friedrich: Das Leben Richard Wagners in 6 Büchern. Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1905, S. 155-180.
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