VIII.

Rienzi, der letzte der Tribunen.

[305] Das Drama ›Rienzi‹. – Eindrücke während der ersten musikalischen Ausführung: Méhuls ›Joseph‹. – Dorn über die Entstehung der Rienzi-Musik. – Dorns ›Schöffe von Paris‹. – Brief an August Lewald. – Vereinsamte Stellung in Riga; Mitleid mit einem jungen Verbrecher; der Neufundländer Robber. – Entlassung Wagners zugunsten Dorns.


Dieser Rienzi, mit seinem großen Gedanken im Kopf und im Herzen, machte mir alle Nerven vor sympathetischer Liebesregung erzittern.

Richard Wagner.


Wir sehen in der, jeden wahrhaften Menschen empörenden, furchtbaren Entsittlichung unserer heutigen sozialen Zustände das notwendige Ergebnis der Forderung einer unmöglichen Tugend, die schließlich durch eine barbarische Polizei geltend erhalten wird.

Richard Wagner.


Wer sich in betreff des heroischen Jugendwerkes, gegen dessen Beurteilung als ›Erstlingswerk‹ sich der junge Meister im Bewußtsein seiner bereits gewonnenen dramatischen und technisch-musikalischen Erfahrung mit solcher Bestimmtheit verwahrt hat, wer sich in betreff dieses Werkes nicht einer bewußten Selbsttäuschung hingeben will, muß vor allem zugestehen, daß er es nicht kennt und nicht kennen kann, in Ermangelung der beiden einzig ermöglichenden Hilfsmittel für eine solche Kenntnis: einer richtigen Aufführung oder auch nur einer vollständigen Partitur.1 Die Veröffentlichung der letzteren allein würde es zwar vor ferneren Verunstaltungen auf den Theatern nicht schützen. Hierzu müßte vielmehr erst die bestimmte Erkenntnis gewonnen werden, daß auch ›Rienzi‹ keineswegs als eigentliche ›große Oper‹, vielmehr als Drama (›Theaterstück‹) von seinem Schöpfer konzipiert worden ist. ›Er [306] hat daher in der Kunstgeschichte auch als solches zu gelten, zu welchem Standpunkte er erst dann gelangen wird, wenn alle Bühnen sich die Mühe geben werden, bei der Einstudierung die Musik des »Rienzi« als Mittel zur Verdeutlichung der Handlung des Dramas zu betrachten und sich nicht bloß mit Erlernung des musikalischen Teiles zu begnügen‹.2 Es zeugt von einer sehr wohlfeilen Art der Kunstbetrachtung, gerade dieses Werk lediglich von dem Gesichtspunkt der späteren Schöpfungen des Wagnerschen Genius zu beurteilen; wer es im rechten Sinne würdigen will, wird sich vielmehr durchaus in die damalige Position seines Autors versetzen müssen, in der er für das ihn erfüllende Ideal kein direktes Vorbild hatte, sondern aus voller innerer Begeisterung einem noch unbekannten Neuen zustrebte. Dieses sogleich in der Dichtung selber sich kundgebende Neue bezeigt sich vor allem in dem wesentlichen Unterschiede des, im Gange der Handlung oder im Wesen der Charaktere mit Notwendigkeit begründeten Dramatischen, und des, in der damaligen ›großen Oper‹ vorherrschenden, rein Theatralischen, was nur aus äußeren Gründen auf die Bühne gebracht wird, und sich nicht aus der Natur des dargestellten Vorganges rechtfertigen läßt. ›Das Ubersehen dieses Unterschiedes hat zu der Hervorbringung der unsinnigsten Vergleiche geführt, von denen derjenige, welcher das Drama »Rienzi« der Schule Meyerbeers entwachsen läßt, wohl als der Gipfelpunkt angesehen werden kann‹.3

Daß diese Auffassung des ›Rienzi‹ die einzig richtige sei, wird durch die eigenen Worte Wagners bestätigt, der bei aller Abneigung dagegen, irgend eines seiner – früheren oder späteren – Werke auf Kosten der ihn einzig beseelenden Idee zu erheben, gegen sein Jugendwerk viel gerechter war, als unsere großen Wagnerianischen und Un-Wagnerianischen Kunstrichter. ›Als ich‹, so lauten diese Worte, ›die Komposition meines »Rienzi« begann, band ich mich an Nichts, als an die einzige Absicht, meinem Sujet zu entsprechen. Ich stellte mir kein Vorbild, sondern überließ mich einzig dem verzehrenden Gefühle, daß ich nun so weit sei, von der Entwickelung meiner [307] künstlerischen Kräfte etwas Bedeutendes zu verlangen, und etwas nicht Unbedeutendes zu erwarten. Der Gedanke, mit Bewußtsein – wenn auch nur in einem einzigen Takte – trivial zu sein, war mir entsetzlich‹.

Kehren wir von dieser kurzen Erwägung zu den begleitenden Lebens- und Kunsteindrücken zurück, die in die Zeit der ersten musikalischen Ausführung des ›Rienzi‹ fallen, so ist unter diesen vorzüglich eines künstlerischen Vorganges zu gedenken, der zu den wenigen, ihm unvergeßlich gebliebenen gehört. In der ersten Hälfte des Juli 1838 studierte er seinem kleinen Rigaer Opernpersonale mit großer Liebe und Begeisterung Méhuls ›Joseph in Egypten‹ (Jakob und seine Söhne) ein.4 Die Vorarbeiten zu dieser Aufführung und die schließliche Aufführung selbst blieben ihm lange als ein wohltätiger Eindruck in Erinnerung. ›Das ganz eigentümliche, nagende Wehgefühl, das mich beim Dirigieren unserer gewöhnlichen Opern überfiel, wurde (bei solchen Anlässen) durch ein unsägliches, enthusiastisches Wohlgefühl unterbrochen: ganz gehoben und veredelt fühlte ich mich eine Zeit lang, als ich jener kleinen Operngesellschaft Méhuls herrlichen Joseph einstudierte. Daß solche Eindrücke welche blitzartig mir ungeahnte Möglichkeiten erhellten, immer wieder sich mir bieten konnten, das war es, was immer wieder mich an das Theater fesselte, so heftig andererseits der typische Geist unserer Opernvorstellungen mich mit Ekel erfüllte‹. Die Einzelheiten dieser Aufführung waren dem Meister noch, nach vierzig Jahren lebhaft gegenwärtig. Er entsann sich deutlich der vortrefflichen böhmischen Hornbläser, die ihm dafür aus einer Militärkapelle zur Verfügung gestanden; sie hätten eigentümliche, besonders große, gewundene Hörner gehabt, die sie um den Hals gelegt getragen hätten; mit diesen habe er sie auf der Bühne aufmarschieren lassen. Die erste Aufführung fand am Donnerstag den 14. (26.) Juli statt, drei Tage später die erste Wiederholung.5 Aus der gleichen Zeit stammt der Beginn der ›Rienzi‹-Komposition; der wohlerhaltene handschriftliche Entwurf der ersten Szene ist vom 26. Juli bis 7. August 1838 datiert.

Der letzte Monat vor Eröffnung der neuen Saison nahm das Personal schon wieder zu regelmäßigen Vorstellungen, worunter wöchentlich drei Opernaufführungen, in Anspruch.6 Am 31. August fand das erste Theaterjahr unter [308] Holteis Leitung mit einer Vorstellung des ›Postillon‹ (!) seinen Abschluß; am 2. September hatte Wagner schon wieder die erste Oper der neuen Saison zu dirigieren. Von Veränderungen im Personale ist nur das Engagement des Tenoristen Johann Hoffmann aus Petersburg erwähnenswert, dem auf seiner zufälligen Durchreise, auf dem Wege nach Deutschland, von Holtei zunächst ein mehrmonatlicher Gastspielkontrakt angeboten wurde. Er trat am 2. September, an Stelle des bisherigen Tenorsängers Köhler, als Fra Diavolo mit solchem Beifall auf, daß er sich gern zum Bleiben entschloß. Als Theaterdirektor in Frankfurt a. M. und am Josefstädter Theater in Wien hat er nachmals bis zu seinem Tode (1865) zu dem Meister in stets gleichmäßig freundlichen Beziehungen gestanden. Auch seine Frau erwies sich als ein brauchbares, bald zur Beliebtheit gelangendes Mitglied des Personales, und verdrängte als solches Amalie Planer aus mehreren bis dahin von dieser mit Glück behaupteten Bellinischen und Rossinischen Partien.

Neben allen amtlichen Zerstreuungen legte äußere Mittellosigkeit und der harte Zwang, sie durch neue Arbeit zu besiegen, dem jungen Meister noch weitere Opfer an Zeit und Kräften auf. Auf ein solches Opfer weist ein noch erhaltenes Schriftstück hin: eine ausführliche, vom 11. September datierte Aufforderung an die Musiker seines Orchesters, im bevorstehenden Winter unter seiner Leitung einen Cyklus von sechs Orchesterkonzerten zu veranstalten.7 Diese Konzerte kamen wirklich zustande, für die unergiebigen musikalischen Verhältnisse Rigas immerhin bemerkenswert und nur durch besondere Willenskraft des Dirigenten erklärlich; spätere Versuche zu ähnlichen Unternehmungen sind durch H. Dorn u. a. mehrfach gemacht worden, aber regelmäßig mißglückt. Unter solchen äußeren Ansprüchen und Beunruhigungen rückte die Arbeit am ›Rienzi‹ nur in Unterbrechungen vor. Im Anschluß an die Erwähnung der ›sehr angenehmen Stunden, die er in Wagners Häuslichkeit verlebt‹, versucht es Dorn in seinen Erinnerungen der Nachwelt ein anschauliches Bild dieser abendlichen Zusammenkünfte und der allmählichen Entstehung des Werkes zu geben. ›Mit großem Interesse‹, erzählte er ›sah ich die ersten Entwürfe zu »Rienzi« entstehen, und hörte nach und nach die anwachsenden Szenen am Pianoforte. Den Adriano hatte Wagner für seine Schwägerin Frl. Planer bestimmt (!?), welche in diesen Zusammenkünften überhaupt alles Frauenstimmliche übernehmen mußte. Die anwesenden Männer, zu denen meistens auch der Violoncellist des Theaterorchesters, der humoristische Karl von Lutzau, gehörte, fangen was sie irgend aus dem Brouillon erwischen konnten – und vor dem Hause in der St. Petersburger Vorstadt blieben die[309] Bartruffen entsetzt stehen, wenn sie spät abends den Höllenspektakel da oben vernahmen. Denn daß bei solchem Konzert die Saiten des Flügels wie Spreu vor dem Winde auseinanderflogen, so daß der Komponist zuletzt nur noch ein dreschflegelähnliches Holzgerassel vernehmen ließ, wozu die auf dem Resonanzboden ringsumherliegenden Metallschlangen ein anmutendes Janitscharenmusikgeräusch exekutierten – was uns aber angesichts der Partitur gar nicht genierte, – das alles verstand sich bei einem so handfesten Klavierspieler, wie Wagner, von selbst‹. Soweit Dorns Bericht, – das Lächerliche seiner Behauptung, die Rolle des Adriano könne je für Amalie Planer (oder irgend welche Sängerin des Rigaer Theaters!) ›bestimmt‹ gewesen sein, scheint er selbst wohl dunkel empfunden zu haben; wenigstens sucht er ihr, da er sie an anderem Orte wörtlich so wiederholt, in dem folgenden Satz eine Art von Stütze unterzuschieben: ›da sie eine treffliche Interpretin Bellinischer Altpartien war, so schien es ganz natürlich, daß er diese Rolle in derselben Weise anlegte(!), wodurch freilich die Oper einen Mischlingsstil erhielt‹ usw. Doch schimmert uns aus der gebrechlichen Logik dieser Motivierung keine Spur eines wirklich Wagnerischen Gedankens entgegen, keine Spur der, um die künftige Aufführung seines Werkes gänzlich unbesorgten Freiheit des jungen Feuergeistes, sondern einzig die mit Wenn und Aber rechnende, von Fall zu Fall durch geschickte Verwertung gegebener Anknüpfungen sich forthelfende Denkart des Erzählers.8 Diesem mußte freilich die exzentrische Rücksichtslosigkeit Wagners bei seinem überschwänglichen Entwurf, sein anscheinender Verzicht auf einen ›praktischen Erfolg‹, auch dann noch unfaßlich bleiben, als dieser ›Erfolg‹ selbst eine längst durch die Kunstgeschichte besiegelte, unbezweifelbare Tatsache geworden war (nämlich 1869)! Gleichviel, aus seiner Schilderung bleibt etwas übrig, was uns mit untilgbaren Strichen als Situationsbild sich einprägt: der vierundzwanzigjährige junge Meister in seinem vorstädtischen Hause am Bergmannschen Flügel, vor sich die frisch beschriebenen Blätter seiner Komposition, um ihn, die Köpfe in der Partitur, seine wenigen, bunt zusammengewürfelten Rigaer Freunde und Bekannten, die er, so lange sie in seinem Bannkreis sind, zu elektrisieren, ihnen den Glauben an sich und sein Vorhaben abzuzwingen weiß, dazu (nach Löbmanns Ergänzung des Bildes) Minna, dem Erregten während des Spiels den Schweiß von der Stirn trocknend, inmitten der enthusiastischen Freiheitsklänge das Klirren springender Saiten, die versagenden Töne des Klaviers – das sind doch Züge für das geistige Auge und Ohr, durch deren Festhaltung und Aufzeichnung der leider so mißgünstige Zeichner sich – ohne ein Bewußtsein davon – ein unzweifelhaftes Verdienst und den Anspruch auf die Dankbarkeit späterer Zeiten erworben hat!

[310] Eine glückliche Kombination lokaler Bedingungen für einen ›Opernerfolg‹, wie sie der nach höheren Zielen Ringende, dem Rigaer Theaterwesen bereits Entfremdete, für seine Person, seine Zwecke und Absichten verschmähte, verstand allerdings der damalige Rigasche Kirchenmusikdirektor als vollbewußter Praktiker besser zu schätzen und zu verwerten. Mit Holtei in bestem Einvernehmen, beim Publikum der Stadt durch mehrjährige Eingewohntheit beliebt, der fördernden Gesinnung seines jüngeren Freundes am Direktionspult gewiß, hatte er der Theaterleitung in demselben Herbst die harmlose Partitur eines komischen Zweiakters ›Der Schöffe von Paris‹ (Text von W. A. Wohlbrück) zur Aufführung eingereicht. Im Oktober fanden die Proben, am 1. November 1838 die erste Vorstellung dieses Dornschen Produktes statt. Daß sich Wagner während der Vorbereitungen dazu die größte Mühe gegeben habe, die Arbeit seines Kollegen szenisch und musikalisch so eindrucksvoll als irgend möglich zur Geltung zu bringen, durfte ihm Letzterer als vollwichtige Gegenleistung für seine einstmalige Einführung des Achtzehnjährigen in die Leipziger Öffentlichkeit anrechnen, deren Geschichte er kurz zuvor anläßlich jener Besprechung von Wagners Schwarzhäupter-Konzert, in Schumanns Zeitschrift ausführlich mit allen Einzelheiten der Vergessenheit entrissen hatte. Vielleicht gar mit der diplomatischen Nebenabsicht, durch diesen sonderbaren Ruhmesartikel, dem wir im Vorausgehenden einige Beispiele entnahmen, den jungen Meiste, sich eigens zu verbinden,9 – ohne sich doch zu sagen, daß sein wenig taktvolles und tieferen Verständnisses entbehrendes Herumtasten an dessen Leistungen für den ernstgesinnten Künstler eher etwas Verletzendes haben mußte! ›Er studierte höchst sauber ein, was ich bei meiner eigenen Oper am besten beurteilen konnte; und wenn er am Pulte stand, riß sein feuriges Temperament auch die ältesten Orchestermitglieder unbedingt fort‹, berichtet Dorn noch in später Folgezeit über diese Proben, denen er als Autor persönlich beiwohnte, um alsdann bei der Aufführung den Dirigentenstab selbst in die Hand zu nehmen.10 Die erste Vorstellung hatte für die Zuschauer zugleich das Interesse einer Benefizvorstellung für die, bereits erwähnte, Gemahlin des Tenoristen und nachmaligen Rigaer Direktors J. Hoffmann (die sich dabei als Glöcknerstochter Trinette durch lebhaft neckisches Spiel vielen Beifall gewann) und zeichnete sich durch verschiedene neugemalte Dekorationen aus, darunter ein Turmgemach auf der Höhe der alten Notre-Dame mit dem Ausblick auf das nächtliche Paris. Die leicht unterhaltende Musik fand Anklang, doch klagte man über Längen und ermüdende Wiederholungen, besonders in den eigentlich [311] komischen Gesangstücken.11 Durch geeignete Kürzungen gelang es, die Oper für die Dauer der Saison lebensfähig zu erhalten, so daß sie am 1. Februar zum siebenten Male gegeben werden konnte. Darüber hinaus lebte sie dann noch eine Weile in ihren Dekorationsteilen fort, welche dem Birchpfeifferschen romantischen Schauspiel ›Der Glöckner von Paris‹ als schätzbares Vermächtnis zufielen;12 eine spätere Reprise während Dorns eigener mehrjähriger Direktionsführung hat es nicht über eine sehr geringe Zahl von Wiederholungen hinaus gebracht.

Um die Zeit dieser leichtgewonnenen Lokaltriumphe seines älteren Rigaer Kunstgenossen schuf Wagner in voller Begeisterung an seinem ›Rienzi‹ weiter, zugleich mit all seinem Sinnen und Denken bestrebt, seinem Werk an entscheidender Stelle die ihm gebührende Aufnahme zu bereiten. Noch immer war es Paris, woran er festhielt, und durch welches einzig er auch eine entscheidende Anerkennung im Vaterlande zu erzielen verhoffen konnte. Wir besitzen einen vom 12. November 1838 datierten Brief an August Lewald, worin er sich nach längerer Unterbrechung ihres Verkehrs mit der ihm eigenen unwiderstehlichen, aller räumlichen Entfernung spottenden genialen Unmittelbarkeit an seinen damaligen Stuttgarter Protektor wendet. ›Mich hat‹, schreibt er, über seine letzten Lebensschicksale berichtend, ›trotz meiner glühendsten Sehnsucht nach dem Süden mein albernes Schicksal noch höher nach Norden getrieben. Widerwärtigkeiten aller Art haben mich eine Zeitlang meiner französischen Expedition ganz vergessen gemacht, und eine neue Antwort von Scribe erhielt [312] ich auch nicht. Ich bin nun aber einmal mit meinen Hoffnungen und Plänen nicht tot zu machen‹ usw. Ihm liege, fährt er fort, jetzt Scribe und Paris zu weit; er bedürfe eines Mittelsmannes, der die Sache unmittelbarer betreiben könne. ›Was treibt mich nun aber, gerade Sie zu plagen, für den Richard Wagners gerade noch genug in der Welt existieren?‹ Er knüpft an die ihm bereits einmal durch Lewald bewiesene Liebenswürdigkeit an, sowie an den weiteren Umstand, daß er seinen alten Dresdener und Leipziger Schulfreund Schlesier zu dem Herausgeber der ›Europa‹ als dessen Mitarbeiter in kollegialischen Beziehungen wußte: er spricht die Hoffnung aus, dieser werde ihn für sein Interesse erwärmen.13 Zur Förderung dieses Interesses möchte sich demnach Lewald, vermöge seines journalistischen Rufes, mit Scribe in Verbindung setzen und ihn zu einer Erklärung in Sachen des ihm übersandten Opernentwurfes veranlassen. Zu solchem Zwecke fügt er für seinen Stuttgarter Gönner noch eine besondere Abschrift des Entwurfes der ›hohen Braut‹ als Einlage bei. ›Gefällt Ihnen, oder Scribe, das Sujet nicht – mein Gott! so bin ich gleich mit einem anderen da. So arbeite ich schon gegenwärtig an einer großen Oper »Rienzi«, die ich ganz fertig und von der ich bereits den ersten Akt komponiert habe. Dieser »Rienzi« ist ohne Zweifel noch viel grandioser als jenes Sujet; ich habe ihn in deutscher Sprache zu komponieren vor, um einmal damit einen Versuch zu machen, ob es eine Möglichkeit sei, ihn binnen 50 Jahren (so mir Gott das Leben schenkt) auf die Berliner große Oper zu bringen. Vielleicht gefällt er Scribe und augenblicklich kann Rienzi französisch singen; oder es wäre dies ein Mittel, die Berliner zur Annahme zu stacheln, wenn man ihnen sagte, die Pariser Bühne sei bereit ihn anzunehmen, man wolle ihnen aber einmal den Vorzug gönnen‹. ›An Stoff und stets unverdrossenem Willen soll's bei mir nicht fehlen, denn ich fühle es deutlich in mir, daß ich schon Gott weiß was alles produziert hätte, wenn mir nur einmal die Türe geöffnet wäre. Der Himmel ist mein Zeuge, daß ich das nicht mit Anmaßung gesagt haben will, aber so viel ist gewiß: wenn ich binnen 15 Jahren nicht endlich emanzipiert bin, so – werde ich so arrogant, Opern für Frankfurt an der Oder oder Tilsit zu schreiben!‹ ›Nun, wertester Herr‹, schließt die warme briefliche Ansprache, [313] ›versuchen Sie einmal mit mir diese Emanzipation eines Opernkomponisten. Zeigen Sie, was ein Deutscher für einen Deutschen tun kann, den er nicht einmal kennt und für den er nur im Interesse für eine ganze Komponistenrasse handelt! Sie werden dann natürlich in den Pantheon, das die Deutschen für ihre verdienstvollen Männer ohne Zweifel nächstens bauen werden, eine ganz besondere Extrastatue erhalten, und Gott wird in der Verwunderung darüber, daß ein deutscher Literat einem armen deutschen Komponisten zu Pariser Ehren verholfen, gar nicht gleich wissen, was für einen Segen er Ihnen schenken soll‹...

Nicht in der praktischen Wirkung, in irgend welchem tatsächlichen Erfolge, liegt die Bedeutung des vorstehenden Briefes für den Zusammenhang unserer Erzählung; nur in dem Einblick, den er uns in das rastlose Wogen der Einbildungskraft, des Gemütes des jungen Genius gewährt, aus dessen Tiefe die Projekte und Kombinationen, Anknüpfungen und Aussichten quellen, die bei allem Momentanen, Explosiven, Improvisierten, das sie an sich tragen, doch immer mit dem innersten Gang seiner Lebenswendungen in notwendiger, konsequenter Verbindung stehen. Sein Verlangen nach einem Pariser Erfolg hatte um diese Zeit noch nichts von einem eigentlich praktischen Plan oder Unternehmen an sich; sondern mehr von einer wohlig schmeichelnden Vorstellung seiner Phantasie, mit deren Hilfe er sich über manche Bitterkeit und das trostlose Ungenügen der umgebenden Wirklichkeit hinwegsetzte: kein bereits gewonnenes eigenes Bewußtsein von der tiefen Verdorbenheit des Bodens, auf den er sich hinsehnte, störte ihn in der Ausmalung dieses Bildes. Und doch, wenn es sich zunächst nur um ein Phantasiebild, eine entfernte Möglichkeit handelte, – mit welcher Macht sehen wir ihn in diesen an Lewald gerichteten Zeilen bestrebt, es ›sehnsüchtiger Gewalt‹ ins Leben zu ziehen! Noch heute strömt es uns daraus wie ein magnetisches Fluidum, eine unmittelbare Wesensmitteilung entgegen; wer könnte sie ohne lebendigste Teilnahme lesen, wer wünschte nicht eingreifen, helfen zu können, in der damaligen Lage des Adressaten zu sein, oder vielleicht in derjenigen Lage, als welche sich die Stellung des Stuttgarter Redakteurs in diesem Augenblick in seinem Geiste darstellte! Denn wohl hat es den Anschein, als habe es diesem, dem jungen Schaffenden persönlich ganz fremden Manne weniger am guten Willen, als am Vermögen dazu gefehlt, dem ihm vorgetragenen Ansinnen in nachdrücklicher Weise Folge zu leisten. Eine Nachschrift dieses Briefes erwähnt noch eine zweite Beilage desselben außer der Abschrift des Opernentwurfes. Es ist die in Riga entstandene Komposition des Scheuerlinschen ›Tannenbaums‹. ›Beifolgendes Gedicht fand ich im Musenalmanach;14 so wenig ich nun auch [314] gerade die Tannenbaum-Melancholie liebe, so kann man sich ihrer in Livland nicht ganz erwehren; ich habe das Gedicht in livländischer Tonart15 komponiert, und übersende es Ihnen mit der Bitte, es der »Europa« beizufügen. Nur urteilen Sie nach dieser Komposition ja nicht auf meine Art Opern zu komponieren. Diese ist, glaube ich behaupten zu können, Gott sei Lob, weniger livländisch!‹ – –

Zu solcher, dem jungen Meister zu Zeiten sich unabweislich aufdrängenden, livländischen ›Tannenbaum-Melancholie‹ gab es wohl Grund genug, – was sollte ihm in dieser behäbigen Handelsstadt Gefallen und Befriedigung schaffen? Sie blieb ihm fremd und er ihr.16 Einen Begriff von seiner Bedeutung hatte niemand; er war eben der Musikdirektor des Theaters, dessen Bemühungen um eine amüsante und gelungene Vorführung Adamscher und Bellinischer Opernmusik man als pflichtschuldige Leistung hinnahm, – wen kümmerte es, ob dies seine Sache war oder nicht, und was er sonst noch an Fähigkeiten und flammenden Idealen in seinem Innern trug? Die Ausübung seiner bloßen Berufspflicht würde ihm, mit all ihren mannigfachen Trivialitäten, für sich allein noch keine aufreibende Tätigkeit zugemutet haben; schlimmer war es, daß er durch manche lästige Mahnungen seiner auswärtigen Gläubiger nicht zum ruhigen Genuß seiner geringen Einnahmen kam, und sich zu außerordentlichen Unternehmungen, wie die bereits erwähnten Orchesterkonzerte des Winters 1838/39, gedrängt sah. Dazu kam in demselben Winter eine nicht ungefährliche heftige Erkrankung, – und die Erfahrungen des alltäglichen Lebens in und außer dem Theater waren nicht immer von erheiternder Art. Unter den letzteren sei ein gelegentlicher Hausdiebstahl erwähnt, der ihm durch die damit verbundenen besonderen Umstände lange in Erinnerung blieb. Eines Tages stellte es sich heraus, daß irgend ein selten benutzter Schrank oder Koffer von fremder Hand geöffnet und des größten Teils seines Inhaltes an darin aufbewahrten Sachen entleert worden war. Durch das, unter Tränen und Versicherungen ihrer Unschuld abgelegte, Geständnis des ganz jungen Dienstmädchens war ein Anhaltspunkt für die Ermittelung des Täters, in der Person ihres Liebhabers, gegeben, und die gerichtliche Anzeige blieb nicht ohne Erfolg. Der löblichen Rigaschen Einrichtung der Stadtteilspolizei mit ihren Quartalsossizianten gemäß, wurde der Bestohlene behufs Agnoszierung der aufgefundenen Gegenstände in eine entlegene Gegend der Petersburger Vorstadt zitiert. Es wurde ihm dabei erklärt, wenn der Wert der entwendeten Sachen über eine gewisse Summe (hundert Rubel) hinausginge, müsse der Dieb ohne [315] Gnade nach Sibirien. Von Herzen geneigt, die Schätzung im schonenden Sinne zu machen und den Wert seiner seits womöglich geringer anzugeben, um dem Unglücklichen ein so schreckliches Los zu ersparen, fand er zu seiner wahren Erleichterung, daß er dies wahrheitsgemäß könne: es waren hauptsächlich Kleidungs-und Schmuckstücke aus Minnas ehemaliger Schauspielerinnengarderobe, und wirklich unter dem angegebenen Betrage. Aber nun hieß es: das werde nicht helfen, erschwerende Umstände kämen mit in das Spiel Darauf wurde ihm denn auch der junge Mensch selbst gegenübergestellt, bleich, mit kurz abgeschorenem Haar, in Arrestantentracht, – ›ein herzzerreißender Anblick‹. Es bedurfte nicht erst der flehenden Bitten des Delinquenten, um den Kläger zum Fürbitter umzuwandeln, ihn zu warmer Verwendung für den Bejammernswerten zu bewegen. Da wurde ihm bedeutet. ›Herr Wagner, Ihre Fürsprache kann nichts nützen; der Mensch hat sich außerdem der Militärpflicht entzogen und auch schon früher einmal gestohlen‹. Als der Meister diesen Vorfall vierzig Jahre später wiedererzählte, knüpfte er daran keine weiteren Reflexionen. Aber der Ausdruck seiner Erzählung hatte noch immer etwas von der damaligen Erschütterung durch die Kälte und Gleichgültigkeit, mit der hier über ein Menschenschicksal entschieden wurde. Es war keine revolutionär-politische Parteitheorie irgendwelcher Art, die den warmfühlenden Künstler in einer gewissen Epoche seines Lebens in offene Empörung gegen den modernen ›Rechtsstaat‹ und den darin befriedigten ›Staatsphilister‹ ausbrechen ließ; sondern das jeder großherzig-genialen Persönlichkeit angeborene, unmittelbare Gefühl der weiten Abirrung unserer staatspolizeilichen Zivilisation von einer wirklichen Ausbildung der sittlichen und sozialen Anlagen der Menschennatur. Also etwa das, was Goethe mit den Worten ausdrückt: ›Laßt mir den Staat und die Staatsleute weg! Das weiß nur zu verbieten, zu hindern und abzulehnen; selten aber zu gebieten, zu befördern und zu belohnen! Man läßt alles in der Welt gehen, bis es schädlich wird; dann zürnt man und schlägt drein!‹ Die durch lieblosen Pharisäismus, Amts- und Autoritätsdünkel noch weiter aufgerissene, scheidende Kluft zwischen Richter und Verbrecher, der bevorrechteten Gesellschaftsklasse und einem verwahrlosten Proletariat, – wie nichtig, ja sündhaft mußte sie sich vor dem unbestochenen Auge dessen ausnehmen, dem seine früheste erwachende Empfindung dasselbe sagte, wie sein spätestes entwickeltes Bewußtsein: nämlich, daß die bestehende Gesellschaftsordnung, wie sie das Verbrechen als unvermeidliche Wirkung in sich schließe, notwendig auch dafür mit verantwortlich sei!17 ›In diesem Sinne war ein [316] Kriminalfall für mich von demselben Interesse, wie eine politische Aktion: stets konnte ich nur für den Leidenden Partei nehmen‹, sagt Wagner von sich selbst. Das Bild des verurteilten jungen Rigaschen Verbrechers stand dem Meister noch nach vierzig Jahren lebhaft vor Augen; und an dem Tage, als der junge Schöpfer des ›Rienzi‹ aus dem engen, dumpfen Zimmer der Rigaschen Quartalsjustiz (in der alten ›Siège‹?) in seine Wohnung zurückkehrte, ist sicher keine Note seines Werkes geschrieben worden.

Gar mancher charakteristische Eindruck der äußeren Physiognomie Rigas, den wir an dieser Stelle übergehen, war ihm über alle Zeitenferne hinaus eingeprägt geblieben, bis zu dem abschreckenden Anblick der, auf Handkarren transportierten, in der Mitte vom Kopf bis zum Hinterkörper gespaltenen, steif gefrorenen Schweine, mit denen der Konsul Schepeler18 damals die englische Marine versorgte. Eine angenehmere Erinnerung war diejenige an einen feurigen schönen Neufundländer, der ihm ursprünglich im Hause des Kaufmanns Armitstead begegnet war, und sich ihm mit leidenschaftlicher Anhänglichkeit anschloß. Es ist dies derselbe Hund, dem er nachmals in der Novelle ›Das Ende eines deutschen Musikers in Paris‹ ein dauerndes Denkmal gesetzt hat. Das prächtige edle Tier folgte dem aus eigener freier Wahl erkorenen Herrn auf Schritt und Tritt, und belagerte ihn selbst in seiner Wohnung, bis er ihm den Eintritt nicht länger zu wehren vermochte. Als ihm im Jahre 1878 eine Abbildung seines Rigaer Wohnhauses zu Gesichte kam, bezeichnete er sogleich die Stelle vor der Haustür, wo ›Robber‹ zu liegen pflegte. Ging er zur Stadt in die Probe, so war Robber sein steter Begleiter; er hatte dabei die Gewohnheit, im Festungskanal zu baden, selbst zur Winterzeit, wenn er nur ein Loch im Eise fand. Bei einer Orchesterprobe im Schwarzhäuptersaale hatte er sich majestätisch neben das Dirigentenpult gelagert, und verharrte in würdevoller Ruhe, indem er jedoch den in seiner nächsten Nähe postierten Kontrabassisten fest im Auge behielt. Daß dieser bei jedem Strich seinen Bogen gegen ihn führte, mochte er als eine Art persönlich auf ihn gemünzter Attacke betrachten. Endlich erfolgt ein besonders heftiger Strich, Robber schnappt zu, – ein Aufschrei: ›Herr Kapellmeister, der Hund!‹ – Diese und ähnliche Erinnerungen konnte der Meister noch in den spätesten Zeiten in herrlichster Laune erzählen.19

Der Beginn des Jahres 1839 gab zu wesentlichen Veränderungen im Bestande des Theaters einen unerwarteten Anlaß. Am 29. Dezember hatte [317] der Direktor Holtei seine Frau Julie, geb. Holzbecher, durch einen plötzlichen Tod verloren; da sie eine allgemein geschätzte Darstellerin gewesen war, nahm das Publikum an dem betrübenden Ereignis einen sehr warmen Anteil. Zu ihrer feierlichen Bestattung auf dem Jakobifriedhof soll Wagner den von H. v. Brackel gedichteten ›Gesang am Grabe‹ komponiert haben.20 Bier Wochen später verließ Holtei mit seiner Tochter aus erster Ehe, nachdem er noch tags zuvor in ›Lorbeerbaum und Bettelstab‹ zum letzten Male aufgetreten war, die Stadt, unter dem Vorgeben einer Engagementsreise ins Ausland; aber, wie seine getroffenen Verfügungen deutlich beweisen, mit der vorgefaßten Absicht, nicht wiederzukehren. Die Gründe seines überraschend geheimnisvollen Abschiedes von Riga sind nie aufgeklärt worden; eine Versammlung des Theaterkomitees und sonstiger Interessenten, unter dem Vorsitz des Oberfiskals v. Cube, faßte jedoch den Beschluß, ihn ›freundlich und in allen Ehren‹ aus seinem Kontrakte zu entlassen. Es liegt in dem Wortlaut dieses Beschlusses deutlich ausgedrückt, daß die Art seiner Verabschiedung auch leicht eine andere hätte sein können. Zu seinem Stellvertreter, beziehungsweise Nachfolger, hatte er den Sänger Johann Hoffmann eingesetzt, einen gewandten, rüstigen und wohlunterrichteten Mann, der sich zu Wagner die freundlichste Stellung gab, aber an der Tatsache nichts ändern konnte, daß Holtei bereits vor seiner Abreise, ohne seinem Kapellmeister davon Mitteilung zu machen, alle Schritte zu dessen Entlassung getan und seine Funktionen im voraus an – dessen nächsten Rigaer Freund, Heinrich Dorn, vergeben hatte. Also ein doppelter Verrat, von der einen, wie von der anderen Seite her. An Dorns eigener späterer Darstellung der Verhältnisse21 ist der nicht unwichtige Zug als unwahr zu berichtigen, daß die entscheidende Anordnung von Hoffmann ausgegangen sei. Vielmehr ist der Umstand dokumentarisch bestätigt, daß die Angelegenheit bereits hinter dem Rücken Wagners zwischen Dorn und Holtei kontraktlich abgeschlossen und die getroffene Übereinkunft für den neuen Direktor bindend geworden war. Dorn selbst gedenkt in seinen Erinnerungen der offenen Empörung Wagners über die durch einen ganzen Monat ihm sorgfältig verheimlichte Entscheidung, von der er in den ersten Tagen des März die erste Kenntnis erhielt. ›Nur mit Mühe gelang es einem beiden Teilen befreundeten Komiteemitgliede, Herrn Schwederski, den leidenschaftlich Erregten einigermaßen zu beschwichtigen‹. Eine darüber begonnene Korrespondenz, fügt Dorn hinzu, habe zu keiner näheren Verständigung geführt, – ihre Veröffentlichung hat er für überflüssig gehalten. Und doch hätte niemand ihm eine solche verargt, wäre sie dazu geeignet gewesen, ein für ihn günstiges Licht auf die Sachlage [318] zu werfen. Tatsache ist, daß er die im August desselben Jahres von ihm angetretene Kapellmeisterstellung mit unverkürztem Gehalt und vielem Behagen bis zum Jahre 1843 inne hatte, obgleich neben ihm noch ein zweiter Musikdirektor angestellt war.22

Offenbar war die, von Dorn in Worten, von Holtei durch die Tat angefochtene Position Richard Wagners in Riga eben um diese Zeit bei weitem weniger ›unhaltbar‹, als bei seinem ersten Eintritt ins Amt. War er doch nun seit zwei Jahren im Genuß eines regelmäßigen – wenn auch um den fünften Teil geschmälerten – Jahresgehaltes gewesen, und verstand es, mit seinen geringen Ansprüchen an das äußere Leben eine ungewöhnliche Arbeitskraft zu verbinden! In diesem Sinne äußert er sich noch späterhin in einem Briefe an den treuen Magdeburger (S. 234) und Königsberger (S. 279) Freund Friedrich Schmitt, der ihm in schweren Tagen der Bedrängnis durch ein Darlehen aus seinen eigenen geringen Mitteln geholfen. ›In Riga gelangte ich durch zweijährigen Aufenthalt, nach Abzug von Vorschüssen und Deckung gerichtlich mich verfolgender Schulden, endlich so weit, auch an meine Schuld gegen Dich denken zu können, als ich plötzlich um meine dortige Anstellung kam, und von da ab an nichts mehr denken konnte, als meine Lage vor dem Äußersten zu bewahren.‹23 Wie wenig ihn aber der berechtigte Stolz des Genius vor der Betätigung dieser seiner Arbeitskraft zurückschrecken ließ, indem er ihn vielmehr innerlich mit königlicher Freiheit ausrüstete und über das Demütigende jedes etwa erniedrigenden Zwanges erhob, das erhellt recht deutlich aus einem an Hoffmann gerichteten Briefe. Er erbietet sich darin, zur Erzielung einer größeren Einnahme für den Rest seines Aufenthaltes in Riga alles zu übernehmen, was dieser auf seine Schultern wälzen wolle: ›ja selbst Noten würde ich kopieren, wenn ich nicht von der melancholischen Beschäftigung zu sehr für eine Verdüsterung meines Temperamentes fürchten müßte‹. Sehr leicht wäre es dagegen für Holtei gewesen die Unzulänglichkeit der Verhältnisse, in denen der junge Künstler heftig und entsagungsvoll zu ringen hatte, auf der Stelle dadurch zu lindern, daß er von Hause aus für ihn einfach denselben Gehalt in Vorschlag brachte, den vor ihm und nach ihm seine Amtsgenossen ausnahmslos bezogen haben!

[319] Der soeben erwähnte, wohlerhaltene Brief an den neuen Direktor Hoffmann wirst in so mancher Beziehung ein Licht auf die Lage des jungen Meisters, daß wir ihn auszugsweise an dieser Stelle einfügen, als eine derjenigen historischen Abschweifungen, durch welche, nach dem Zeugnis des Tristram Shandy, die Erzählung nicht stecken bleibt, sondern vorwärts kommt. ›Zu der Zeit‹, so beginnt er, ›als Herr von Holtei den Herrn Musikdirektor Löbmann entließ‹ (dies war noch vor Holteis Abreise geschehen!), ›glaubte ich diesen Fall, der mir im übrigen zwar leid tat und den zu verhüten ich mehrere, wiewohl vergebliche Versuche gemacht hatte, insofern zu gunsten meiner, gerade nicht blühenden, pekuniären Lage benützen zu müssen, daß ich Herrn v. Holtei den Vorschlag machte, ich wollte nun bis, zum Ende meines Kontraktes die Verpflichtung des Herrn Löbmann‹ (d. h. das Einstudieren und Dirigieren der kleineren Opern und Vaudevilles) übernehmen und ihm somit eine Gelegenheit bieten, mir mit gutem Gewissen angesichts der Anstalt, deren Interesse er zu wahren hatte, eine Erleichterung in meinen beschränkten Geldverhältnissen schaffen zu können. Herr v. Holtei entgegnete mir aber, daß er wenigstens diesen Vorschlag, meinen Vorschuß abzuverdienen, nicht annehmen könne, da er es im Gegenteil für nötig halte, augenblicklich noch Jemand zu engagieren, der die Funktionen des Herrn Löbmann übernehme; er müsse mir somit für mein Anerbieten danken und würde bis zum Eintritt eines neuen Musikdirektors die fraglichen Operetten und Vaudevilles von dem Vorspieler des Orchesters dirigieren lassen. – Der nach meiner Verhandlung mit Herrn v. Holtei erwähnte Musikdirektor traf nun aber nicht ein, und im Ernst, verehrter Herr, würde ich es für ziemlich unnötig und überflüssig halten, wollten Sie bis zum September dieses Jahres noch extra Jemand für dieses Fach engagieren, was in Wahrheit auch gewiß Ihre Ansicht sein wird. Die Funktionen desselben sind mir also somit natürlich zugewiesen und es ist nun an Ihnen, den von mir Herrn v. Holtei früher getanen und jetzt wiederholten Vorschlag gütigst zu genehmigen. Beträfe dies nun eine Gefälligkeit, die ich Ihnen persönlich, verehrtester Herr, zu erweisen hätte, so verstünde es sich wohl von selbst, daß ich nicht Anstand nehmen würde, mich gerade Ihnen, der Sie sich mir in jeder Hinsicht und in jedem Augenblicke so besonders gefällig erwiesen haben, ebenso zu zeigen. Da ich jedoch weiß, daß ich mit diesen über meine Verpflichtung hinausreichenden Dienstleistungen weder Ihrer Person noch Ihrem persönlichen Interesse, das ich gewiß für nicht so unmittelbar mit dem gegenwärtigen Direktionsinteresse verwachsen halte, einen Gefallen zu erzeigen habe, so hoffe ich, werden auch Sie es mir nicht verargen, wenn ich, wie natürlich und wie gewiß auch jeder an meiner Stelle tun würde, mein persönliches Interesse nicht ganz aus den Augen verliere. – Verstehen Sie mich aber recht, verehrter Herr; es handelt sich hier nicht darum, daß ich mich unfügsam und fahrlässig erweisen möchte, – das kann mir niemand zum Vorwurf [320] machen. Im Gegenteil biete ich Ihnen hier alles an, was in meinen Kräften steht: ich will gern Tag und Nacht für das Theater arbeiten, ich will jede Verpflichtung übernehmen, der ich nur irgend nachkommen kann, ich will ganze Partituren instrumentieren und was sonst verlangt werden kann, – aber ich will mir auch dafür aufgeholfen wissen; das bin ich mir und meiner Lage schuldig. Und warum sollte ich auch nicht darauf Anspruch machen können, der ich doch am Ende die Kräfte besitze und willig darbiete, um eine Vergünstigung dieser Art abzuverdienen; während ich gar wohl weiß, wie so mancher durch bloßen Trotz mehr erlangt hat, als ich hiermit erbitte und verdienen will24. – Die Gelegenheit ist da, mir zu helfen und ich bin überzeugt, Sie werden sie mit Jubel ergreifen und wenn es bloß deshalb sein sollte, damit einst die Nachwelt von Ihnen zu sagen hätte: ›Das war der Mann, der. usw. usw. Ihr ergebenster Richard Wagner‹.

So war die Lage der Dinge zu Anfang März 1839: der Gedanke an Paris, der ihn zuvor als bloße wohlig schmeichelnde Vorstellung, als lebhaftes Spiel seiner Einbildungskraft beim ersten Beginn der Komposition des ›Rienzi‹ erwärmt und erhoben, gewann während der fortschreitenden Arbeit in seinem Innern immer mehr Gestalt. Der erste Akt war am 6. Februar in der Instrumentation vollkommen beendet; der zweite bald darauf in Angriff genommen. Jetzt mußte es sich entscheiden, ob von diesem Werke die große Wendung seines Schicksales ausgehen sollte. Er beschloß in eigener Person auf Siegen oder Unterliegen die abenteuerliche Fahrt an das glänzende Zentrum der europäischen Kunstpflege. Die Vorstellung wird zum Projekt; das Projekt drängt zur Ausführung: jede Bitterkeit über das an ihm verübte Unrecht tritt dahinter zurück. Wir sehen den jungen Meister von jetzt ab eifrigst bestrebt, im Vertrauen auf seinen guten Stern die Mittel zu seinem gewagten Unternehmen zu beschaffen. Da er bereits zu Ende des abgelaufenen Jahres (30. Nov 1838) mit einer Aufführung von Meyerbeers ›Robert der Teufel‹ die ihm kontraktlich zugesicherte Benefizvorstellung genossen hatte, war an eine abermalige Theateraufführung zu seinen Gunsten nicht zu denken. Dagegen war für den 14. März das fünfte in der Reihe der mehrerwähnten sechs Orchesterkonzerte angesetzt. Nichts war leichter, als es mit Zustimmung der Orchestermitglieder in ein, ohnehin ausbedungenes, Benefizkonzert für den Dirigenten umzuwandeln.25 Es wurde mit Beethovens Cmoll-Symphonie [321] eröffnet und schloß mit Mendelssohns in Riga noch nicht gehörter Ouvertüre: ›Meeresstille und glückliche Fahrt‹. Vom 8. bis zum 18. April wurde Minna, die sich bereits an dem Konzert mit der Rezitation des Monologs der Beatrice aus der ›Braut von Messina‹ beteiligt hatte, ein viermaliges Gastspiel bewilligt, worin sie als Preziosa und Maria Stuart auftrat und in der Titelrolle von Th. Hells ›Christinens Liebe und Entsagung‹ vom Rigaer Publikum Abschied nahm ›Ein sehr gefälliges Äußere, Grazie in der Haltung, ein belebtes Mienenspiel machen sie zu einer sehr ansprechenden Erscheinung auf der Bühne‹, lesen wir bei dieser Gelegenheit über sie. ›Nur die sonst sehr ausdrucksvolle Sprache klingt fremdartig und zuweilen etwas unverständlich, was zum Teil daher rühren mag, daß Mme. Wagner in langer Zeit die Bühne nicht betreten hat, und vielleicht etwas aus der Übung gekommen ist‹.26 Leider fielen die vier Gastspielabende bereits in das letzte Viertel der Saison; dem letzten in ihrer Reihe war insbesondere das gleichzeitig unter starkem Zudrang im Schwarzhäuptersaale stattfindende Konzert eines gastierenden Bassisten aus Mailand nachteilig: das Haus war fast nur von den Abonnenten besucht und die junge schwedische Königin mit ihrem Hofstaat ging an einer wenig zahlreichen Versammlung ziemlich wirkungslos vorüber. Mit dem französischen Sprachlehrer Henriot war Wagner inzwischen bemüht, eine provisorische Übertragung der ›Rienzi‹-Dichtung zu veranstalten; eine Arbeit, die am Ende mehr Zeit für sich in Anspruch nahm, als die Kürze der dazu bemessenen Frist zu gewähren schien Eine Hauptschwierigkeit des Unternehmens bestand darin, daß dem Mithelfer daran, so gut er der französischen Sprache mächtig war, der Sinn des deutschen Textes nicht immer leicht faßlich gemacht werden konnte Eine Episode dieser gemeinschaftlichen Übersetzungsarbeit war dem Meister im Gedächtnis geblieben. Als sich in der ersten Szene Adriano in den um Irene entbrannten Kampf mischt, sich schnell zu ihr Bahn bricht und sie befreit, will sie der alte Colonna ihm leichthin als Beute zusprechen; der junge Edelmann aber nimmt die Sache wider Erwarten ernster: ›Rührt sie nicht an, mein Blut für sie!‹ Dies reizt den Hohn der Gegner und das Familienhaupt der Orsini ruft spöttisch: ›Er spielt fürwahr den Narren gut‹, d. h. er kann doch unmöglich ein solcher Narr sein, als er sich durch diese Teilnahme für ein Bürgermädchen den Anschein gibt. Wagner hatte übersetzt: ›il joue fort bien le fou‹; dies wollte nun aber sein Sprachmeister [322] weder begreifen, noch gelten lassen. Merkwürdigerweise finden wir den Vers nachmals wirklich im Klavierauszüge, wie im endgültigen Abdruck der Dichtung mit abschwächender Vereinfachung des Gedankens, in der veränderten Lesart wieder. ›er spielt fürwahr den Helden gut‹, wogegen das Dresdener Textbuch von 1842 die ursprüngliche Rigaer Fassung aufweist.27

Der Monat Mai nahte seinem Abschluß: Wagner war sechsundzwanzig Jahre alt und die Komposition des zweiten ›Rienzi‹-Aktes vollendet. In den Anfang des Monats fallen zwei große Konzerte Lipinskis im Stadttheater, bei denen er die Ouvertüren und Orchesterbegleitungen dirigierte. Der geniale polnische Geiger verließ soeben seine ehrenvolle Stellung in Petersburg als erster Violinist des russischen Hofes, um einem Rufe nach Dresden zu folgen; drei Jahre nach dieser ersten Rigaer Begegnung traf ihn Wagner als Konzertmeister des Orchesters der kgl. sächs. Hofoper unter Reißiger wieder an. Zur Benefizvorstellung Amaliens vor ihrem Abgang von der Bühne hatte er noch die ›Hochzeit des Figaro‹ einzustudieren, worin sie mit einnehmender Anmut den Pagen Cherubin sang. Die letzte Opernaufführung, welche der junge Meister (am Montag den 29. Mai russischer Zeitrechnung) in Riga überhaupt dirigierte, sollte Méhuls ›Joseph in Egypten‹ sein; sie kam aber wegen Erkrankung eines Sängers nicht zustande, und es wurde – recht im Sinne seiner gesamten Rigaer Tätigkeit – ›Fra Diavolo‹ daraus!

Zwei Tage später befand er sich mit der ganzen Theatergesellschaft unterwegs nach Mitau, um dort noch den Monat Juni hindurch die üblichen Sommervorstellungen zu leiten. Der Abschied von Riga konnte ihm nicht schwer fallen. Kein Sonnenstrahl von außen her war hier in sein Leben gedrungen; dagegen haftete manch unerfreulich bitterer Eindruck der Verkennung und des Mißbrauchs seiner Kräfte und Gaben an dem zweijährigen, ohne sein Zutun abgekürzten Aufenthalt. Den Wenigen, die es redlich mit ihm gemeint, dem biederen Hoffmann, vor allem dem treuen, teilnehmenden Genossen Franz Löbmann, hat er zeitlebens ein freundliches Andenken bewahrt und betätigt. ›Gewiß, liebster Freund‹, schrieb er dem Letzteren (im Dezember 1843), ›ich werde es Ihnen nie vergessen, daß Sie gegen das Ende meines dortigen Aufenthaltes oft mein bester Trost und wahrster Freund waren. Wenn ich an jene Zeit zurückdenke, erfüllt es mich oft mit bitterem Unmut, und ich gestehe Ihnen, ich verließ Riga kalt und gleichgültig, wie man gegen mich ebenfalls gewesen war; die Einzigen, von denen ich mich ungern trennte, waren Sie und die meisten Mitglieder des Orchesters, von denen mir, wie es schien, Liebe und Achtung zuteil wurde‹.

Fußnoten

1 Eine solche gibt es (mit Ausnahme von Dresden) an keinem einzigen unserer Theater; die im Besitz des Königs von Bayern befindliche Originalpartitur ist bisher der Öffentlichkeit noch nicht übergeben, und einstweilen selbst den Angehörigen des Meisters noch unbekannt. Der mit der Bezeichnung ›neue nach der Partitur revidierte Ausgabe‹ von F. Brißler erschienene Klavierauszug hat nach E. Reuß, nicht einmal mit dem großen Klavierauszug, geschweige denn mit einer maßgebenden Partitur etwas zu tun. Wie das Verhältnis der zuerst bei Meser erschienenen Partitur zu jener Originalpartitur ist, was darin etwa ausgelassen wurde, weiß zurzeit niemand. Dagegen ist in Ermangelung jener, unter Zugrundelegung des nach ihr gearbeiteten ›großen Klavierauszugs‹, mit Hilfe der Herren Kniese und Mottl, in höchst dankenswerter Weise eine neue Partitur des ›Rienzi‹ hergestellt und bei Fürstner erschienen, in welcher, ganz im Sinne des Meisters, der Nachdruck auf das Drama gelegt ist. In dieser Fassung ist ›Rienzi‹ auf den Hoftheatern von Karlsruhe, Berlin und Mannheim mit dem größten Erfolge gegeben.


2 Siehe den Aussatz von Eduard Reuß, ›Rienzi‹ (in den ›Bayreuther Blättern‹ Bd. XII, S. 150 ff.), unseres Wissens der einzige Artikel, der sich mit diesem, durch Wagners späteres Schaffen zurückgedrängten Werke nach seiner ästhetischen Seite hin (geschichtliche Voraussetzungen, Quelle, Dichtung und Musik) in ernstlicher Weise beschäftigt.


3 Ed. Reuß, a. a. O. S. 157. Vgl. dazu die lichtvollen Darlegungen H. S. Chamberlains auf S. 40 seines Buches ›Das Drama Richard Wagners‹.


4 Besetzung: Jakob, Hirt aus dem Lande Ebron, Hr. Scheibler; Joseph, unter dem Namen Kleophas Statthalter, Hr. Janson; Ruben, Hr. Petrick; Simeon, Hr. Wrede, Naphthali, Hr. Sammet; Levi, Hr. Kurt usw.; Benjamin, Dem. Planer.


5 Wiederholungen am 17. Juli, 23. Dezember 1838, 20. Februar 1839; eine bereits angesetzte vierte Wiederholung, am 29. Mai, kam nicht zustande.


6 Im ganzen hat Wagner während dieses ersten Jahres seiner Rigaer Tätigkeit (das Mitauer Gastspiel mit inbegriffen) 16 Opern dirigiert: ›Romeo und Julia‹ (10 mal), den »Freischütz« (9 mal), »Norma« und den »Postillon von Longjumeau« (je 8 mal), »die weiße Dame«, »Zampa« und »Fra Diavolo« (je 6 mal), »die Zauberflöte« und den »Barbier von Sevilla« (je 5 mal), »Don Juan«, »Figaros Hochzeit«, die »Schweizerfamilie« und die »Stumme« (je 4 mal), »Jakob und seine Söhne«, »Maurer und Schlosser« und den »Wasserträger« (je 2 mal).


7 ›Dieser Entwurf, 21/2 Seiten groß Folio, von 104 langen Zeilen‹ gelangte im Juni 1886 gelegentlich einer Berliner ›Autographen-Auktion‹ für den Kaufpreis von 96 Mark in den Besitz eines unbekannten Liebhabers.


8 Man vergleiche hierzu die ergötzliche Schilderung seiner Rundreisen bei Prinzessinnen, Primadonnen, Domänenrätinnen usw., um sich die, für die Erlangung seiner nachmaligen Berliner Stellung erforderlichen Empfehlungen zu verschaffen! (Dorn, ›Ergebnisse‹, S. 45–52).


9 Wotan zu Alberich: ›Alles ist nach seiner Art‹ usw.


10 Aus dem letzteren Umstande erklärt sich wohl die unrichtige Angabe in Dorns, jedenfalls nach seinen eigenen Angaben verfaßter Biographie (Sammlung von Musikerbiographieen, Cassel, Balde, 1856, S. 90), welche die ganze Aufführung ausdrücklich in die Periode nach Wagners Abgang von Riga verlegt und demgemäß seinen Anteil an ihrem Gelingen verschweigt!


11 ›Die ganze Oper ist etwas lang‹, heißt es in dem wohlwollenden Bericht des Rigaer ›Zuschauers‹ vom 3. November, ›die zwei Akte spielten von 6 bis 91/2 Uhr; noch mehr aber gilt dies von einzelnen Gesangstücken, besonders den komischen. Hier wiederholen sich Stellen, die an sich recht hübsch klingen, und ein- oder zweimal wiederkehrend, guten Effekt machen würden, so oft, daß der Hörer ermüdet und sich freut, wenn endlich ein anderes Thema erscheint; auch in der Ouvertüre bemerkt man eine zu häufige Wiederkehr der Hauptmotive, so daß das Ganze etwas einförmig wird‹. Über die Aufführung selbst heißt es: ›Das Haus war gedrängt voll, der Komponist selbst dirigierte. Die Ouvertüre und die ersten Gesangstücke gingen vorüber, ohne große Zeichen des Beifalls und der Mißbilligung,A1 bis endlich bei der ersten großen Arie des Schöffen (Hr. Günther) stark applaudiert wurde; der Beifall steigerte sich nun immer mehr, und am Schluß wurde der Komponist stürmisch gerufen‹.


12 Auch dieses romantische Schau- und Schauerspiel der königl. preuß. Oberhofdichterin hat Wagner noch in Riga erlebt (am 25. Mai 1839); er führte es später als charakteristisches Beispiel deutscher ›Theaterstückmacherei‹ an: ›Wer sich durch ruhige Erwägung einen Begriff von der Elendigkeit der Produktionen unserer Theaterstückmacher verschaffen will, der halte z. B. die Bearbeitung des Hugoschen Romans »Notre Dame« von Ch. Birchpfeiffer mit der Pariser Bearbeitung desselben zusammen, die dort auf dem Théâtre de l'Ambigu comique gegeben wurde, um den beispiellosen Jammer unserer Theaterkunst zu empfinden, in der man sich mit der schlechtesten Kopie schlechter Kopien zu begnügen gewöhnt hat‹.


13 ›Er soll Ihnen sagen‹, heißt es an dieser bereits von uns zitierten Stelle, ›wie wir auf der Kreuzschule im edlen Hofrat Böttigerschen Eifer Tod der Creuzerschen Symbolik schwuren usw. (vgl. S. 104), wie uns später in Leipzig Schellings transszendentaler Idealismus zwischen die Beine kam, von welcher Gelegenheit ich ihm jetzt noch 12 Groschen schuldig bin, wie wir mit Laube an einem Sonntag, wo ich ihm sein Verbannungsurteil brachte, Eis aßen – – mein Gott! er soll Ortlepps und Lauchstädts gedenken und Ihnen dann sagen, ob ich nicht der Mann bin, für den man sich schon deswegen interessieren müßte, geschweige denn wegen einer solchen Opernangelegenheit, die ihn sowie Jeden, der damit in Berührung kommt, doch notwendig sehr unsterblich machen muß‹...


14 Deutscher Musenalmanach für das Jahr 1838, herausgegeben von A. v. Chamisso und G. Schwab, Leipzig, Weidmann. Seite 129–135: Gedichte von G. Scheuerlin, darunter Nr. 5: ›Der Tannenbaum‹. Der Abdruck der Komposition in der ›Europa‹ erfolgte im IV. Quartal des Jahrgangs 1839, als Beilage zu S. 620.


15 Nämlich Es-moll.


16 Vgl. die Bemerkung der ›Neuen Zeitschrift für Musik‹ 1843, II. S. 7 (Nr. 2) in dem Bericht über die erste Aufführung des ›fliegenden Holländers‹ in Riga: ›Wagner hatte während seines hiesigen Aufenthaltes in viel zu anspruchsloser Stille gelebt, um besondere Erwartungen zu erregen‹ usw.


17 Wer diesen Gedanken von der zivilisationsgeschichtlichen Seite der Menschheitsentwickelung ab (bei welcher die offene Frage eigentlich immer lautet: ist der Mensch von Natur eine Bestie oder nicht? – die geschichtliche Erfahrung und der ›Rechtsstaat‹ mit seinen strafrichterlichen Gesetzen bejaht sie; die großen Bildner und Lehrer der Menschen haben sie immer verneint) nach der religiösen Richtung des Bewußtseins der Sündhaftigkeit hin verfolgen wollte, der würde dabei auf den übereinstimmenden Ausruf Parsifals treffen, mit welchem der Reinste in so überraschend heftiger Wendung die Wurzel der Weltsünde mit plötzlicher Klarheit in seinem eigenen Innern entdeckt: ›Und ich, ich bin's, der all dies Elend schuf!‹


18 Selbst der Name jenes angesehenen Rigaer Kaufmanns war dem Meister noch nach vierzig Jahren ohne jedes Besinnen gegenwärtig.


19 Vgl. H. v. Wolzogen, R. Wagner und die Tierwelt, S. 18–26.


20 Vgl. die in Riga erscheinende ›Dünazeitung‹ vom 20. Juli 1893. Die auffallende Mittelmäßigkeit der ebendaselbst mitgeteilten Verse läßt die Richtigkeit dieser Angabe zweifelhaft erscheinen.


21 Dorn, Ergebnisse S. 164.


22 Noch fünfzehn Jahre später gedenkt Wagner dieses Vorfalls mit den Worten, daß, in früherer Zeit es zwischen Dorn und mir zu einem Bruche kam, der uns Beiden es jetzt unmöglich macht, miteinander zu verkehren: es ist uns unmöglich Briefe zu wechseln (17. Oktober 1852, an Herrn v. Hülsen, vgl. ›Die Musik‹ 1903, III, S. 100); und kurz zuvor an Dorns Stiefbruder Schindelmeißer. ›In Riga hatte er sich mir schließlich nicht als durchaus redlicher Freund bezeigt: nun trage ich ihm das jetzt allerdings schon lange nicht mehr nach, allein es hat mich befangen gegen ihn gemacht, und dieser Befangenheit zu wehren, bietet sich mir jetzt kein ganz fester Anhalt dar‹ (Bayr. Blätter, 1904, S. 29/30).


23 Briefl. an Fr. Schmitt, 9. Febr. 1844 (Österlein, Wagner-Katalog III S. 14).


24 Es handelt sich bei dieser Gelegenheit nicht um eine positive Einnahme, sondern um nichts weiteres, als um den Nachlaß eines bereits empfangenen Vorschusses, dem zuliebe er sich erbietet, alles zu übernehmen, was jener nur irgend auf seine Schultern wälzen wolle: ›nur mit Ausnahme‹, wie er mit seinem alles überwindenden Humor hinzufügt, ›des Stiefelwichsens und Wassertragens, welches letztere meine Brust jetzt nicht vertragen können würde; aber selbst Noten würde ich kopieren‹ usw.


25 Die vom 8. März 1839 datierte ›Konzertanzeige‹ enthält den Passus: ›Da ich in diesen Tagen die für mich wohl betrübende Nachricht von meiner Entlassung aus der bis jetzt von mir bekleideten Stelle am hiesigen Theater erhalten habe, weil diese Stelle von Herrn von Holtei für das künftige Jahr bereits einem anderen zugesagt ist, so würde es mir sehr wohltuend sein, aus der Teilnahme für dieses mein Konzert entnehmen zu können, daß ein verehrtes Publikum mit meinem Fleiße und ungetrübten Eifer bei meinen Leistungen ebenso zufrieden sei, als sich mein jetziger Direktor Herr Hoffmann mir darüber bezeigt hat.‹


26 ›Der Zuschauer‹ Nr. 4837, 20. April (= 2. Mai) 1839.


27 Rienzi, der letzte der Tribunen. Große tragische Oper in 5 Akten von Richard Wagner. Dresden, C. F. Meser. S. 4: ›Er spielt fürwahr den Narren gut! doch diesmal ist sie noch für mich‹. (Vgl. dagegen Ges. Schr. I, S. 45.)


A1 Es scheint demnach die strikte Angabe des ungenannten Biographen Dorns (S. 90), ›die Ouvertüre sei, wie fast jede einzelne Nummer bei dieser Aufführung, sehr lebhaft applaudiert worden‹ auf ungenauer Erinnerung, vielleicht der Verwechselung mit einer anderen Oper, – etwa ›Fra Diavolo‹ o. dgl. – zu beruhen!

Quelle:
Glasenapp, Carl Friedrich: Das Leben Richard Wagners in 6 Büchern. Band 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1905, S. 305-323.
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