XI.

Proben des Sommers 1876.

[251] Schwierigkeit der Lage nach außen und innen. – Erster sechswöchentlicher Probenzyklus. – Persönlicher Verkehr mit den mitwirkenden Künstlern und Musikern. – Noch einmal Scaria. – Zweiter Probenzyklus. – Ankunft Liszts, Künstlerfestmahl und Ansprache. – Dritter Probenzyklus. – Die Marmortafel als Theaterzettel.


Alles wird gelingen und zum Guten führen, wenn wir dieses erste Mal das ungeheure Werk nur im richtigen Sinne zutage fördern: dies erreichen wir sicher durch pünktlichste Durchführung meines Planes für die Proben.

Richard Wagner.


›Ein Kunstwerk existiert nur dadurch, daß es zur Erscheinung kommt: dies Moment ist für das Drama die Aufführung auf der Bühne,‹ so hatte er bald vor dreißig Jahren geschrieben, und seine Wirksamkeit zu diesem Zwecke den übrigen Teilen seiner Produktivität zur Seite gestellt. ›Erst das wirkliche Kunstwerk, d.h. das unmittelbar sinnlich dargestellte, in dem Momente seiner leiblichsten Erscheinung ist daher auch die Erlösung des Künstlers.‹ In den denkwürdigen Münchener Originalaufführungen des ›Tristan‹ und der ›Meistersinger‹ in den Jahren 1865 und 1868 hatte sich diese seine gestaltende Kraft unter dem Schutz und Schirm seines königlichen Freundes zum erstenmal ungehindert bewähren dürfen. Im Lauf eines vollen Vierteljahrhunderts war nunmehr auch sein größtes Werk unter Anfechtungen, wie sie vor ihm kein Künstler erduldet, in Dichtung und Komposition vollendet, der Stich der letzten Seite der Partitur der ›Götterdämmerung‹ in der Schottschen Offizin am 9. Mai 1876 erfolgt. Die Inszenierung des übergroßen Werkes, dessen bloße Aufführbarkeit von der Mehrzahl seiner Zeitgenossen bis zum letzten Moment heftig bezweifelt wurde, sollte nun das Werk zweier Monate sein: ein neues erhabenes Beispiel des von ihm gemeinten dramatischen Stiles, eine reformatorische Tat ohnegleichen, das Nachhaltigste und Weitreichendste, was er seinen Zeitgenossen zur Beglaubigung seiner Sendung zu sagen und zu zeigen hatte, als den festen Ausgangspunkt einer wahrhaft künstlerischen Kultur, einer neuzuschaffenden Institution, die er längst ersehnt und von deren Möglichkeit und Fruchtbarkeit Jene keine Vorstellung hatten!

[251] Und dabei wollten die Anfechtungen, welche die Entstehung des Riesenwerkes begleitet hatten, auch jetzt nicht schweigen. Bis zum letzten Augenblick seiner szenischen Verwirklichung, und darüber hinaus, suchte diejenige Macht, welche durch Jahrzehnte seine einflußreichste Gegnerin gewesen, die deutsche Zeitungspresse, die Lebensaufgabe des kühnen Reformators in den Augen derer zu diskreditieren, auf deren Unterstützung durch ihre Teilnahme er zu rechnen hatte. Bis zum letzten Augenblick erlebte er es, daß deutsche Preßorgane, und eben die angesehensten und verbreitetsten, jede ihnen irgend zugängliche Spur der unendlichen Schwierigkeiten, mit denen die Realisierung der Festspiele noch zu kämpfen hatte, denunziatorisch an die Öffentlichkeit brachten. Nicht ohne Bitterkeit wird die späteste Nachwelt auf jenes Dokument blicken, in welchem der Künstler sich schon im Jahre 1873 zu seinen Patronen über die ›eigentümlichen Beklemmungen‹ äußerte, die ihm daraus erwüchsen, daß er der ›vulgären Öffentlichkeit diese Schwierigkeiten verbergen müsse, da er durch ihr offenes Bekenntnis nur diejenigen erfreuen würde, unter deren Verleumdung und Beschimpfung sein Werk gedeihen solle‹. Eine besondere, die ganze folgende Geschichte der Bayreuther Festspiele durchdringende Art der Offensive bestand in der Aussprengung ungünstiger Gerüchte. Von der angeblich drohenden Typhus-Epidemie war soeben (S. 247/48) die Rede. Des weiteren gehörte dazu die plötzlich in den Spalten der Tagesblätter auftauchende, durch nichts begründete, rein aus der Luft gegriffene, böswillig erfundene Nachricht: entgegen der veröffentlichten Ankündigung des Verwaltungsrates und des Meisters selbst, habe man von einem dritten Aufführungszyklus ›wegen unüberwindlicher Hindernisse‹ Abstand genommen: es würden somit nur zwei Aufführungen des Bühnenfestspieles stattfinden! Auf die von auswärts einlaufenden Bestellungen waren solche Gerüchte jedesmal von spürbar nachteiligem Einfluß. Am 12. Juni war die Zahl derselben für den ersten Zyklus 702, für den dritten aber nur 570! In gleichem Sinne bemächtigte man sich jeder bekannt werdenden Nachricht über die, oft unvermuteten, Hindernisse in der Gewinnung der nötigen darstellerischen Kräfte. Als der Ersatzmann Scarias, der stimmbegabte Hamburger Bassist Kögel, mitten in den ersten Proben unglücklicherweise von einem schweren Nervenleiden befallen wurde, gelangte diese vorübergehende Kalamität sofort an eben jene fremde und teilnahmlose Öffentlichkeit, – nicht im Sinne des Bedauerns, sondern der unverhohlenen Schadenfreude!1

[252] Wir holen hier noch nach, daß am 15. Mai der Verwaltungsrat unter Beteiligung verschiedener zugereister Vereins-Delegierten (u.a. des Herrn von Baligand aus München, welchem die Einrichtung des Schlosses für die fürstlichen Gäste übertragen wurde) eine letzte beratende und beschließende Sitzung vor den Proben und Aufführungen hielt. In Anwesenheit Richard Wagners wurde auf dieser Versammlung auch über die Freiplätze Verfügung getroffen und eine größere Anzahl eingelaufener Gesuche bewilligt, während ein Teil derselben für spätere Verwendung frei erhalten blieb. In derselben Sitzung vermehrte sich der Verwaltungsrat durch Kooptation um drei weitere Mitglieder, darunter – auf Wunsch des Meisters – den trefflichen Mannheimer Heckel Abends versammelte man sich in Wahnfried, und Rubinstein gab den amerikanischen Marsch zum besten. Auf das redlichste, ja aufopferndste stand diese, aus wenigen Häuptern bestehende Körperschaft ihm in allen administrativen Angelegenheiten zur Seite. Vor allem war es Feustels Schwiegersohn, der ausgezeichnete Adolf Groß, der schon bis zu diesem Augenblick – mit beispielloser Hingebung, Energie und überlegener Umsicht – fast die gesamte eigentliche Arbeit an Stelle seines Schwiegervaters leistete. Eine riesengroße Geschäftslast lag in den nächsten drei Monaten auf den Schultern dieser wackeren Männer und trieb ihnen im Verlauf der stürmischen Proben- und Aufführungstage, mit all ihren täglichen Anforderungen, oft genug die hellen Schweißtropfen auf die Stirn!

Noch waren Hunderte von Händen an der äußeren Ausstattung des Werkes tätig, – bis zum letzten Augenblick Vollendet war die dekorative Arbeit im Zuschauerraum, die Gebrüder Brückner aber – wie erwähnt – leider noch mit einem großen Teil ihrer Lieferungen im Rückstand. An Szenerie und Maschinerie ward unter Oberleitung Brandts noch unausgesetzt gearbeitet, bis weit in die Probenzeit hinein. Zu den vielen noch fehlenden Requisiten gehörte insbesondere der Riesenleib des Wurmes: durch eine besondere Rücksichtslosigkeit steckte derselbe, wiewohl längst bestellt, noch in einer Fabrik Großbritanniens, an welche man sich für seine Herstellung gewandt, und kam endlich stückweise an.2 Aus ähnlichen Gründen der Verzögerung mußte der Lindenbaum im zweiten Akte des ›Siegfried‹ am Orte selbst flüchtig nachgeschafft werden, und blieb der Schlußszene der ›Götterdämmerung‹ eine [253] wohlerprobte Ausführung der hinteren Verkleidungen für alle Vorstellungen versagt. ›Glaubte das ganze deutsche Reich mit seinen höchsten Spitzen bis zu allerletzt nicht an das Zustandekommen der Sache, so war es nicht zu verwundern, daß dieser Unglaube auch manchen bei der Ausführung Beteiligten einnahm, da jeder derselben außerdem unter der materiellen Erschwerung durch Ungenügendheit der uns zur Verfügung gestellten Geldmittel zu leiden hatte, welche wie ein nagender Wurm dem Fortgange der Arbeiten stets innewohnte Trotz der wahrhaft heldenmütigen Bemühungen unseres Verwaltungsrates, dessen aufopfernde Tätigkeit gar nicht genug zu rühmen ist, stockte es selbst in der inneren Ausführung des Theaterbaues: die Einrichtung für die Gasbeleuchtung des Zuschauerraumes war erst am Mittag der ersten Vorstellung des »Rheingold« so weit fertig geworden, daß überhaupt beleuchtet werden konnte, wenngleich eine Regulierung dieser Beleuchtung durch genaue Abmessung der verschiedenen Brennapparate noch nicht hatte vorgenommen werden können.‹3

In den letzten Tagen des Mai und in den ersten Junitagen, während nur erst wenig Sänger am Orte waren, wurde dennoch bereits scharf gearbeitet, und zwar waren es vorzugsweise Maschinenproben, z.B. mit den Schwimmwagen der Rheintöchter. Schon lange vorher hatte er einmal zu Anton Seidl gesagt: ›Kind, Sie müssen mir mit Ihrem Kollegen Fischer auf der Bühne, hinter den Kulissen helfen, also quasi als musikalischer Regisseur wirken; Sie werden schon selbst sehen, wie wichtig das ist, und Sie werden auch die unendliche Bedeutung davon für Ihre Dirigentenzukunft spüren.‹ Natürlich griffen wir, erzählt Seidl, mit Begeisterung unsere, für uns ganz neue Arbeit an. Scherzweise nannte er uns (Seidl, Mottl und Fischer) seine drei Rheintöchter, denn die erste Probe unter seiner Leitung war eben die Rheintöchterszene. ›Ich hatte den ersten Wagen, in dem Lilli Lehmann die Woglinde sang, unter meiner Aufsicht; der zweite Wagen mit Marie Lehmann wurde von Felix Mottl geführt, der dritte mit Frl. Lammert aus Berlin hatte Fischer zum Lenker. Unsere Kreuz- und Querfahrten, mit Hin- und Her-, Auf- und Niederrollen dauerten in der ersten Probe etwa sechs Stunden; der Meister war müde geworden, wir drei konnten unsere Arme und Beine nicht mehr spüren, aber – schon nach dieser Probe verstand ich vollkommen seine obigen Worte: ich lernte dabei die Bedeutung jeder Phrase, jeder Violinfigur, jeder Sechzehntelnote kennen; ich lernte auch, wie man die scheinbar unbedeutende Violinpassage durch szenische Hilfe zu einem Vorkommnis machen kann‹ etc.4 Zum höchsten [254] Staunen aller vollführte er, der alles vormachte, hierbei mit jugendlicher Elastizität und Beweglichkeit die schwierigsten Spring- und Kletterkünste. Es war ihm darum zu tun, das ganze Personal auf seiner Bühne völlig heimisch und vertraut zu wissen; dafür gab er ihnen in jedem Augenblick in eigener Person das Beispiel. Deshalb sprang er wiederholt, zum Schrecken des Maschinenmeisters Brandt, über jede, gerade geöffnete Versenkung hinweg, um ihnen das Vorbild völliger Sicherheit zu geben. Vor allem legte er darauf Gewicht, etwa gefährlich dünkende Bewegungen, die er von seinen Künstlern verlangte, vor ihren Augen selber auszuführen. Einmal ließ er sich sogar selbst auf einem der Schwimmenwagen herumführen. Als der Darsteller des Alberich, Karl Hill, Bedenken trug, nach dem Raube des Rheingoldes von der Spitze des Riffs inmitten der Bühne hinabzuspringen, rief ihm der 63jährige Meister zu: ›Schämen Sie sich, Hill!‹ kletterte mit rapider Behendigkeit die hohe Leiter hinauf, erfaßte das Geschiebe, löste es, stürzte sich daran hinab und war im Nu aus der beträchtlichen Höhe unten angelangt. Er erreichte damit, daß er über die Schwindelempfindungen des, in dieser Beziehung etwas furchtsamen Hill triumphierte, und dieser dasselbe tat, was seitdem allerorten jeder Darsteller seiner Rolle, nämlich in eigener Person den Absprung auszuführen, anstatt ihn durch einen vorgeschobenen, kostümierten Turner ausführen zu lassen. Seit Anfang Mai übten übrigens die Bayreuther, ›Turner‹ unter der choregraphischen Leitung des bewährten Ballettmeisters Fricke aus Dessau ihre Nibelungenszene aus dem ›Rheingold‹, und brachten darin die dämonisch zwingende Herrscherkraft von Alberichs Ring mit so packender Gewalt zur Anschauung, daß der Meister selbst seine Freude an ihrer Leistung hatte.5

Am 1. Juni war der Anblick der Stadt mit einem Schlage derselbe, wie im vorigen Sommer. Immer neue Scharen von Sängern und Musikern strömten vom Bahnhof aus in das Städtchen hinab. Im Namen aller Bürger [255] von Bayreuth brachte das dortige Tagblatt ›allen Nibelungen ein herzliches Willkommen‹, für welches am gleichen Orte – nämlich an der Spitze des ›Tagblatt‹ vom 5. Juni – im Namen der begrüßten Künstler der Meister selbst in einem ›Offenen Brief an Herrn Bürgermeister Muncker‹ seinen Dank ausdrückte. ›Erst hier am Orte, bei genauer Einsicht in den förderlichen Anteil der städtischen Verwaltung, berichtigten sich die Ansichten aller Derjenigen, welche bis dahin nicht begreifen konnten, warum ich mir für die Durchführung meines Unternehmens nicht eine größere und reichere Stadt auserwählt hätte; ein jeder mußte erkennen, daß ich auch hierin sicher verfahren war, weil nirgends sonst von seiten städtischer Behörden mit der gleichen Zuversicht, wie sie mich bei dem ersten Bekanntwerden mit den hiesigen leitenden Persönlichkeiten einnahm, diese aufopfernde Bereitwilligkeit zuzusichern gewesen wäre.‹6 Daß jenes ›Willkommen‹ aber nicht bloß auf dem Papiere stehen blieb, sondern sich in herzlichster und selbstlosester Weise verwirklichte, dafür waren die freundlichen Quartiergeber durch gastlichste Bewirtung und Verpflegung der Künstlerkolonie auf das ausgiebigste besorgt.

Am Sonnabend, den 3. Juni, begannen im Festspielhause die gemeinsamen planmäßigen Proben zum ›Rheingold‹. Den von nun an täglich mehrmals stattfindenden Übungen der vollzählig versammelten Kräfte wohnte Richard Wagner von Anfang bis zu Ende persönlich bei, in jedem Augenblick aus konzentrierter Erfassung der Situation anleitend und unterweisend, jeden Ton des Orchesters im Ohr, jede Bewegung auf der Bühne beständig im Auge Selbst ein plötzlich eintretendes, schmerzhaft quälendes Zahngeschwür war nur für wenige Tage imstande, ihn davon zurückzuhalten. Die Anordnung der Proben legte in jeder Hinsicht Zeugnis ab von der Sorgfalt, mit welcher die Möglichkeit einer Verbindung des eingehendsten Studiums mit dem geringsten Aufwande von Kräften seitens der einzelnen Ausübenden überlegt worden war. Bloß mit seinen eigenen Kräften wurde nicht gespart. Mit dem Orchester- und Sängerpersonal gab es zunächst getrennte Proben. So fanden am Vormittag des 3. Juni in der Zeit von 9 bis 1 Uhr Spezialorchesterproben der ersten Szene des ›Rheingold‹ für Blasinstrumente, dann für Streichinstrumente allein, zu je – nicht mehr als zwei Stunden statt. Für die nachmittags von 4 Uhr ab veranstaltete Szenenprobe der Sänger hingegen wurde das Orchester noch nicht in Anspruch genommen, sondern dasselbe durch die Klavierbegleitung Joseph Rubinsteins auf einem trefflichen Bösendorfer Konzertflügel vorläufig ersetzt Ganz beglückt und erleichtert kehrte der Meister abends von dieser Probe heim: die Sängerinnen waren wirklich in ihre Maschinen gegangen, Hill in Person auf das Riff geklettert, das für unmöglich Gehaltene [256] durch den Zauber des Genius zur Wirklichkeit geworden.7 Sehr hübsch schildert Fricke den Vorgang vor der eigentlichen Probe. ›Die Geschwister Lilli und Marie Lehmann und Frl. Lammert waren angekommen. Sie sahen die Maschinen und die darin schwimmenden Turner. »Nein«, sagte Lilli »das kann mir kein Mensch zumuten, das tue ich unter keinen Umständen, ich bin erst vor kurzem vom Krankenbett aufgestanden, dazu mein fortwährender Schwindel.« Die andern beiden waren still. »Fräulein Marie«, sage ich »Courage, versuchen Sie es einmal, und ich wette, die Angst geht vorüber.« Die Leiter wird angelegt, Brandt und ich helfen ihr hinein. Unter Ach und Oh, Schreien und Quieken schnallen wir sie fest und die Fahrt beginnt ganz langsam. Sie fängt an, das ängstliche Gesicht zu verlieren, lacht und meint, es ginge ganz schön. Nun entschließt sich auch Lilli, und siehe da, sie wird in wenig Sekunden die couragierteste. Frl. Lammert folgt nun auch und alle drei schwimmen unter fröhlichem Lachen. Wagner erscheint, die ganze Szene wird glatt durchgemacht. Dazu singen die drei Damen ihre Partieen entzückend Unbeschreiblich war das Gefühl, das sich meiner bemeisterte, die Tränen traten mir in die Augen ob des Gelingens der Sache, weil wir alle – außer Wagner – gezweifelt, ja mit Gewißheit angenommen hatten, daß die Mädchen sich nicht dazu verstehen würden. Die Szene an sich ist so seltsam schön, daß man außer sich geraten kann! Nachdem die Damen die Maschinen verlassen, wurde ihnen von Wagner unter Freudentränen gedankt und er küßte sie weidlich ab – und ich war gesund geworden.‹8 Und nachdem auf diese Weise aus Morgen und Abend der erste Tag geworden, wiederholte sich am Vormittag des folgenden (4. Juni) zunächst die Szenenprobe der Sänger, und nachmittags probte nun zum ersten Male das volle Orchester für sich allein.9 Am dritten Tage (5. Juni) gab es vormittags keine vorschriftsmäßige Probe; zu Mittag hatte er einige seiner Künstler – seinen ›Wotan‹ Betz und [257] seinen ausgezeichneten Konzertmeister Wilhelmj – zum heiteren Mahle bei sich; nachmittags fand dann die Gesamtprobe der ersten Szene mit Orchester und Sängern statt, – in größter Vollendung und zur staunenden Freude für alle Mitwirkenden und die wenigen vertrauten Zuhörer und Zuschauer. Eine derart umsichtig ausgearbeitete, alles erleichternde, die höchsten Kunstleistungen ermöglichende Arbeitsmethode hatte es bis dahin an einem deutschen Theater noch nicht gegeben! In gleicher Weise folgte sodann, nach demselben System auf drei Arbeitstage verteilt, vom 6. bis 8. Juni die vereinigte zweite und dritte, vom 9. bis 11. die vierte Szene des ›Rheingold‹.

Von staunenswerter Macht erwies sich schon jetzt die Wirkung des unsichtbaren Orchesters. Alle dafür getroffenen Anordnungen, die Versenkung des Orchesterraumes, die Aufstellung der einzelnen Instrumente, bewährten sich auf das vollkommenste. Alles, was seither Jahrzehnte hindurch den unerreichten und unnachahmlichen Zauber des Bayreuther Festspielhauses ausmachte, trat damals zuerst in voller Herrlichkeit an das Licht. Der Klang überraschte durch seine ideale Tonschönheit: alles Materielle schien völlig abgestreift; eine Deutlichkeit ohnegleichen ermöglichte die Verfolgung jeder Figuration selbst in den Mittelstimmen. Auf das geringste Detail der Ausführung wurde dabei der eingehendste Fleiß verwendet. Wie sollte das anders sein, wo ein Dirigent wie Hans Richter mit wahrem jugendlichen Feuereifer voranging, wo in Person August Wilhelmjs der ›Siegfried unter den Geigern‹10 die Funktionen des Konzertmeisters ausübte, wo jeder einzelne Musiker von glühender Begeisterung für seine hohe Aufgabe erfüllt war, und endlich über allem, anordnend und überwachend, anfeuernd und beseelend, der Geist des Meisters schwebte? Nach der letzten ›Rheingold‹-Szene brachen die Musiker selbst in enthusiastischen Jubel aus, mit strahlenden Augen, glänzenden Gesichtern erklärten sie, daß sie hier förmlich auflebten und sich als ganz andere Menschen fühlten. Dies geschah, wohlgemerkt, nachdem neun Tage lang ohne Unterbrechung gearbeitet war.11 Aber die Arbeit selbst war für jeden Einzelnen, bei größter Pünktlichkeit und Pflichttreue eine Erhebung und ein Genuß. Nach den Proben begab er sich in der Regel nicht gleich nach Hause, sondern gewöhnlich noch in die sogenannte ›kleine‹ Restauration (die ›große‹, für das Publikum, [258] war noch nicht eröffnet), um seinen Künstlern auch hierbei noch die unmittelbare Anregung durch seine Person zu gönnen und im Kreise einiger Bevorzugter, unter ihnen eine Flasche Rotwein zu leeren. ›Hier konnte man ihn genau kennen lernen‹, erzählt der damals noch ganz junge Hermann Ritter, als Erfinder der, vom Meister approbierten, ›Altgeige‹ im Orchester mitwirkend. ›Humor, Satire, Sarkasmus, höchste Ausgelassenheit und tiefste Niedergeschlagenheit, naives Wesen und schärfste kritische Verstandesmäßigkeit wechselten in seinen Gesprächen und Einfällen miteinander ab‹.

In den Szenenproben wußte er die Darstellung zu höchster erreichbarer Vollendung zu führen. Völlig unerschöpflich zeigte sich seine Gabe, das szenische Bild ausdrucksvoll zu gestalten, die Bewegungen und Gruppierungen aller Handelnden so anzuordnen, daß ein lebendiges Ganze daraus hervorging, und für jede, oft erst durch das momentane Bedürfnis entstehende Forderung das rechte Mittel zu finden. Dabei folgte alles mit Notwendigkeit aus dem Wesen der Handlung, und so manches, weder in der gedruckten Dichtung, noch in den sorgfältigsten Notierungen der Partitur enthaltene Detail derselben fixierte sich erst in diesem Moment der Berührung mit dem körperlichen Boden der Bühne. Wir erwähnen hier als eine solche unmittelbare szenische Inspiration den feierlichen Moment, wo Wotan bei der Begrüßung der Götterburg, zum Erklingen des Schwertmotives, als sichtbaren Ausdruck der ihm vorschwebenden Idee menschlichen Heldentumes, eben jenes Schwert schwingt, welches der goldgierige Fafner, als einzigen Überrest des Hortes, verächtlich am Boden hat liegen lassen. Alberich hat es zum Kampf gegen Götter und Helden schmieden lassen, nun wird es, in diesem Augenblicke, in Wotans Geiste zum Symbol jenes erlösenden freien Helden, dem er es im ahnungsvollen Schauen als Waffe bestimmt, das er als ›Wälse‹ nachmals in den Eschenstamm stößt, – und die Verbindung mit allem Folgenden ist durch dieses dramatische Moment im voraus gegeben, als eine der unerschöpflichen, inneren Beziehungen im Organismus der gesamten Handlung.12 So erschien dann auch die größte Mannigfaltigkeit der Stellungen und Gruppierungen überall nur als der naturgemäße Ausdruck der Charaktere und Situationen. Bei den Bewegungen der Darsteller wurde die rhythmische Übereinstimmung mit der Musik zum maßgebenden Grundgesetz für die sichtbare Erscheinung vor den Augen des Zuschauers: das Schreiten der Riesen, oder Hundings bei seinem Eintritt in die Hütte, in strenger Gebundenheit durch den Rhythmus ihres Motivs im Orchester, war den mitwirkenden Künstlern, die noch keine jahrzehntelange Bayreuther [259] Stilschule durchgemacht, sondern direkt aus ihren Opernhäusern auf die Bühne des Festspielhauses traten, noch etwas völlig Neues, erst zu Erringendes, und wurde ihnen erst nach Maßgabe ihrer Befähigung zur zweiten Natur. In lehrreichster Weise brachte er dabei jederzeit jene mimischen Vorschriften selbst vorbildlich zum Ausdruck. So in der, ›Walküre‹ den Moment, wo Sieglinde durch Brünnhild erfährt, durch sie solle Siegfried, der hehrste Held, das Licht der Welt erblicken und nun ihr leidenschaftliches Todesverlangen aus düsterer Starrheit in die erhabenste Entzückung umschlägt. Hier fühlte man sich unmittelbar von dem Wehen jener Macht berührt, welche das Geheimnis seines Schaffens bildete Alles, was er vormachte, war schauspielerisch so bestimmt und charakteristisch, daß es jedem einleuchten mußte.13 Für die Darstellung des ›Siegfried‹ drang er auf die ungezwungenste Natürlichkeit, in der ungebundensten Form sollten sich die individuellen Eigentümlichkeiten der Charaktere äußern. Und wirklich ›entbindet sich ja der, dem ganzen Werke zugrunde liegende, göttliche Humor eben aus dem Auseinandertreten der kontrastierenden realen und idealen Mo mente‹ (Porges). Am Schlusse des ersten Aktes, wenn Siegfried mit dem selbstgeschmiedeten Schwerte den Ambos mitten durchhaut, während in der Musik ›eine fast übermenschliche Kraft mit einer absoluten geistigen Freiheit verbunden erscheint‹, so daß man in ihr ›das Lachen des ganzen Weltalls in ungeheurem Ausbruch zu vernehmen glaubt‹, wurden alle Musiker zu jubelnden Ausrufen der heitersten Lust hingerissen.14 In der ›Götterdämmerung‹ sollte hingegen der Stil aller Bewegungen das Gepräge einer ›edlen Vornehmheit‹ tragen, mit welcher das charakteristische Element der einzelnen Persönlichkeit sich vereinigen müsse. Von erstaunlicher Umsicht waren die Anordnungen des Meisters in den Mannenszenen des zweiten Aktes, sowie in der großen Szene, als Brünnhild, die Augen aufschlagend, Siegfried wiedererkennt. Mit dem Blicke eines sein Heer überschauenden Feldherrn vereinigte er auch hier die Bewegungen der von so verschiedenartigen Gefühlen erfüllten Personen zu einem, bei aller scheinbaren Unwillkürlichkeit einheitlichen Gesamtbilde. [260] Von dem erschütternden Eindruck der Schlußszene wurden die Mitwirkenden derart erfaßt, daß sich die tiefste Ergriffenheit aller nach einem ehrfurchtsvollen Schweigen in den begeistertsten Hochrufen Bahn brach. Nicht eher legte sich der Sturm des, allen aus innerster Seele dringenden Enthusiasmus, als bis er in seiner schlicht ernsten Weise etwa folgende Worte an seine Künstler richtete: ›Die ersten Leiden haben wir überstanden. Wir müssen eine wahre Heldentat noch vollbringen in der kurzen Zeit. Wenn wir es so herausbringen, wie ich jetzt deutlich sehe, daß es geschehen wird, so können wir uns wohl sagen: wir haben etwas Großes geleistet. Ich danke Ihnen herzlich.‹

Der von dem Meister hierbei gebrauchte Ausdruck ›erste Leiden‹ führt uns auf die Erwägung der wechselnden inneren Stimmungen, welche diese erste sechswöchentliche Probenperiode begleiteten. Die ungeheuere produktive Tätigkeit, aus welcher die schöpferische Kunsttat hervorging, konnte nicht ohne Rückwirkung auf ihren Urheber bleiben, der dabei alles und jedes aus sich allein hervorzubringen hatte: insbesondere waren die jedesmaligen Szenenproben, die Anordnung des in jedem Moment wechselnden szenischen Bildes eine Leistung, die auch in jüngeren Jahren seine volle geistige und physische Kraft in Anspruch genommen haben würde. Der körperlichen Belästigungen durch Kopfreißen und ein quälendes Zahngeschwür, während des Studiums der ›Walküre‹ (bis in die ›Siegfried‹-Proben hinein), haben wir schon gedacht: drei Tage hindurch war es ihm unmöglich, selbst ins Festspielhaus zu kommen, und die ganze komplizierte Maschinerie mußte ohne seine Beihilfe allein ihren Gang gehen. Kaum war es ihm gelungen, durch Anwendung von Blutegeln und Chloral das Übel einigermaßen zum Weichen zu bringen, so trieb es ihn bereits, mit verbundenem Kopfe den Proben beizuwohnen.15 Überaus peinigend wirkte während der ›Siegfried‹-Proben (vom zweiten Akte ab) eine besorgniserregende [261] anhaltende Heiserkeit Ungers; sie wich erst mit Beginn der Proben zur ›Götterdämmerung‹ (3.-12. Juli). Daran reihte sich wieder die Not mit dem Sänger des Hagen: der für Scaria eingetretene Hamburger Bassist Kögel (S. 252) bereitete ihm seit dem 25. Juni, wo er ihm zum ersten Male seine Partie vorsang, anhaltende Unannehmlichkeiten. Seine störende Gedächtnisschwäche zog ihm den vollen Zorn des Meisters zu, so lange es sich um ein bloßes schlechtes Memorieren, eine unverzeihliche Fahrlässigkeit zu handeln schien; als sich dann ein nervöses Leiden als nicht zu beseitigende Ursache dieser Schwäche herausstellte, mußte er aufgegeben werden. Noch einmal wandte er sich in dieser Bedrängnis an Scaria (10. Juli), in der herzlichsten Weise ihm zuredend und die weitestgehenden Anerbietungen machend, – vergebens! es erfolgte darauf nicht einmal eine Erwiderung.16 Statt seiner trat in letzter Stunde (15. Juli) ersatzweise, aber zur großen Zufriedenheit des Meisters, Gustav Siehr aus Wiesbaden ein: er ›erlernte die außerordentlich schwierige Partie des Hagen in kaum zwei Wochen und eignete sich diesen Charakter in Stimme, Sprache, Gebärde, Bewegung, Schritt und Tritt so vollständig an, daß er ihre Durchführung zu einer Meisterleistung erhob‹.17 Zu dem allen beständige Kassennöte, und drohende Kriegsgefahr wegen der gleichzeitigen Zustände in der Türkei, so daß es schon als eine Erleichterung empfunden wurde, wenn einmal 6600 Mark eingingen und die politische Lage sich zu beruhigen schien. Selbst ein plötzlicher Todesfall blieb nicht aus: in der Frühe des 11. Juli starb plötzlich der Bratschist Gustav Richter aus Berlin ohne vorhergehende Krankheit an einem Herzschlage.18 Endlich – die unverantwortliche Säumigkeit in der Lieferung der unentbehrlichsten Requisiten, u.a. jener englischen Mechaniker, welche den Körper Fafners zu liefern hatten (S. 253); Säumigkeit auch seitens der Gebrüder Brückner, mit deren Vertreter der Meister noch am Abend der letzten ›Götterdämmerungs‹-Probe (12. Juli) hart aneinander geriet, als dieser sich mit der unglücklichen Wendung zu entschuldigen versuchte, sie hätten den Herzog von Meiningen (S. 248) als ihren ›ältesten Kunden‹ zuerst bedienen müssen, – während doch die Bestellungen für das außerordentliche Ereignis der Bühnenfestspiele ihnen bereits vor zwei Jahren zugegangen waren. Es sei hier ferner nicht verschwiegen, daß einige [262] der mit Not und Mühe im letzten Augenblick gewonnenen Kräfte, wie z.B. die Darstellerin der Sieglinde, keines wegs an die Höhe ihrer Aufgabe heranreichend sich erwiesen; daß der Darsteller des Hunding (Eilers) aus dem gleichen Grunde durch einen anderen (Niering) ersetzt werden mußte; daß sogar der Vertreter der Hauptrolle des ganzen Werkes, Franz Betz, seinem ›Wotan‹ doch gerade dasjenige schuldig blieb, was ihn machtvoll über seine Umgebung hätte hinausheben sollen. Dabei war es doch nicht möglich, ihm bei seiner etwas anspruchsvollen Empfindlichkeit auch nur ein Wort darüber zu sagen, das ihn nicht vielmehr tief gekränkt und verletzt haben würde. Man halte dieses alles, und noch vieles andere, Unausgesprochene (z.B. die fortdauernden Ärgernisse mit den Herren Fürstner, Voltz und Batz!) zusammen, um sich danach selbst ein Urteil zu bilden, ob es sich für ihn selbst, in dieser scheinbar so schaffensfreudigen Arbeitszeit, mehr um Freuden, oder um ›Leiden‹ gehandelt habe.

Nichtdestoweniger gewann das Werk in gemeinsamer Tätigkeit zunehmend an Farbe und Gestalt, und der von ihm ausgehende befreiende und überwältigende Eindruck konnte auch auf dessen Schöpfer seine Wirkung nicht verfehlen. So war denn sein Verkehr mit jedem geringsten unter seinen Künstlern, Sängern und Musikern, immer heiter, gemütlich, neckisch, humorvoll, ohne seiner überlegenen Autorität das Mindeste zu vergeben; diese fühlte jeder in jedem Augen blick durch, zugleich aber auch jene ihm eigene, unaussprechliche Herzensgüte, die ihm zur Überbrückung des Abstandes diente. Für Pflichtvergessenheit, gleichviel aus welchen Motiven sie hervorging, kannte er keine Nachsicht. ›An einem besonders heißen Nachmittag‹, so erzählt Felix Mottl, ›hatten wir eine Probe des ersten Aktes der Walküre; mir war es übertragen, das Zeichen zum Aufspringen der Türe zu geben. Ich sah den Meister auf der Bühne herumgehen, als ob er etwas suchte. Sofort fragte ich ihn, ob ich ihm mit etwas dienen könnte, worauf er sagte, daß ihm ein Glas Bier sehr erwünscht wäre. Ich lief in die gegenüberliegende Restauration und kehrte bald stolz mit meinem Kruge zurück; inzwischen war aber der Moment vorübergegangen, wo die Tür hätte aufspringen sollen. Als ich ankam, donnerte er mich mit den Worten an: »Sind Sie hier als Kellner angestellt? Sie haben die Zeichen auf der Bühne zu geben! Trinken Sie Ihr d ..... Bier selbst!«‹ Die unbegrenzte Liebe und Verehrung für seine Person war daher, wo es darauf ankam, mit einer gewissen Scheu verbunden und wir hörten ihn einmal lachend sagen: ›Sie fürchten mich alle, wie den T .....‹ Wo andererseits seine Heftigkeit ihm einmal einen Streich gespielt hatte, ging dies niemand so nahe als ihm selbst und er verstand es, nach solch einem Exzeß den dadurch Betroffenen auf eine so verbindliche und herzliche Weise zu versöhnen, daß gegen so viel Güte keine Spur von Groll in dessen Seele zurückbleiben konnte. So war dies z.B. auch mit dem Prof. Brückner der Fall, nachdem er ihn wegen jener rein äußerlichen Auffassung seiner Verpflichtungen [263] aus tiefer Empörung schonungslos vorgenommen und niedergedonnert; der Ausdruck, ›Kundschaft‹ und die Gleichstellung des Festspielunternehmens mit den Bestellungen des Herzogs von Meiningen hatte ihn außer sich gebracht. Aber noch an demselben Abend tat ihm sein Zornesausbruch leid, und er wußte den ganz geknickten Mann auf das liebenswürdigste wieder aufzurichten und zu begütigen.

Unser Bericht über diese erste Bayreuther Probenzeit würde unvollständig sein, wenn wir nicht auch der heiteren Ausgelassenheit gedächten, die das hier unter so außergewöhnlichen Umständen vereinigte Künstlerpersonal gelegentlich auch zu manchen übermütigen Exzessen fortriß. Insbesondere waren es die freigegebenen Sonntage, welche dieser ›explodierenden Bande‹ dazu Gelegenheit gaben. So anläßlich des am 18. Juni gefeierten, ›Waldfestes‹, zu welchem Wilhelmj die Mitwirkenden eingeladen, indem er ihnen dazu ein Faß edlen Rheinweins von dem Weinberg seines Vaters versprochen hatte. Das gefüllte Faß kam richtig an; aber ein während der ganzen vorhergegangenen Woche andauernder Regen vereitelte die ursprüngliche Idee, sich im Walde zu lagern. Um so angeregter gestaltete sich die Festfeier im oberen Saale der Theaterrestauration, wo einzelne Tische für je 10–12 Personen gedeckt waren. Es sind nicht bloß die Frickeschen Erinnerungen, welche dieses in seinem Verlauf ›jeder Beschreibung spottende‹ Fest festgehalten haben19, sondern so mancher mythische Zug davon hat sich bis auf heute in mündlicher Erinnerung lebendig bewahrt.20 Um 11 Uhr des anderen Morgens sprach Fricke den Meister: dieser war über die bereits zu ihm gedrungenen Ausschreitungen äußerst ungehalten und schob sie Wilhelmj und Richter zur Last: diese mußten wissen, daß man einen so schweren, edlen Dessertwein nicht zu einer Kneiperei geben durfte! Aber nun war das einmal Geschehene nicht mehr zu ändern.

Bereits waren mehrere seiner Berliner Freunde und Gönner, Kapellmeister Eckert mit Gemahlin, Gräfin Usedom nebst Tochter, zur Teilnahme an den Proben eingetroffen, aus München Kapellmeister Levi. Mitten in die ersten neuntägigen Proben der ›Götterdämmerung‹ fiel die Ankunft Malwidas von Meysenbug. Zum Beginn der Proben des dritten Aktes traf mit einem brieflichen Gruß Nietzsches dessen literarische Festgabe ein, mit welchem er seinerseits den großen kunst- und kulturgeschichtlichen Moment zu feiern bestrebt war, seine Schrift: ›Richard Wagner in Bay reuth‹. Da der Meister im Drange der täglichen Ansprüche nicht sogleich die Muße zur Lektüre fand, griff Frau Wagner statt seiner nach dem Buche; sie las die halbe Nacht hindurch [264] und entsandte am andern Morgen früh ihren telegraphischen Dank. Und noch einen Tag später (12. Juli) schrieb ihm, mitten aus allem Drange heraus Wagner selbst die Worte: ›Freund! Ihr Buch ist ungeheuer! Wo haben Sie nur die Erfahrung von mir her? Kommen Sie nur bald, und gewöhnen Sie sich durch die Proben an die Eindrücke!‹21

Der 13. Juli war ein Ruhetag für die Künstler, nicht aber für den Meister, für den sich zu diesem Tage, zwischen der ersten und zweiten Probenserie, alles Erdenkliche aufgesammelt. Mit Brandt gab es mancherlei wichtige Besprechungen, u.a. des Schlußbildes der ›Götterdämmerung‹; die Doeplerschen Figurinen erregten durch Überladung mit archäologischen Details seine Unzufriedenheit, es fehlte darin der einfache große Zug des tragischen Mythus. Der zweite Probenzyklus, vom 14. bis 26. Juli, zeigte durch größere Zusammendrängung bereits eine gänzlich verschiedene Physiognomie. Hatte in dem bisherigen ersten Zyklus jeder einzelne Akt drei volle Arbeitstage für sich beansprucht, so war nunmehr in gedrängter Folge, mit Ausnahme der Sonntage, jedem Akt ein Tag für sich zugemessen22 und die gesamte Trilogie demnach in den engeren Zeitraum von vierzehn Tagen eingeschlossen. Noch immer fanden die Proben ohne Kostüme, wohl aber mit allen zur Handlung gehörigen Requisiten statt. Die aufsteigenden Dämpfe bei den Verwandlungen mißglückten, weil Brandt, vom Verwaltungsrat an Ökonomie gemahnt, nicht die rechten Vorrichtungen dafür getroffen; die Regenbogenbrücke erwies sich als verfehlt und sollte verbessert werden; unverbesserlich blieben leider gewisse Fehler der eilig gemalten Dekoration! Die Darstellerin der ›Sieglinde‹ war so wenig befriedigend, daß noch einmal die Möglichkeit erwogen wurde, sie um jeden Preis ganz auszuscheiden. Die Laterna-Magica-Bilderder heranziehenden Walküren ließen viel zu wünschen übrig, prächtig dagegen wirkte Brandts ›Feuerzauber‹. Sehr erfreulich erwies sich Unger, der endlich wieder bei voller Stimme war. Im zweiten Akte des ›Siegfried‹ konnte der Drachenkampf in keiner Weise eingeübt werden, weil Fafners sichtbare Erscheinung, trotz aller Reklamationen, immer noch fehlte. Für das Schlußbild der Götterdämmerung[265] wurde schließlich von allen dafür vorbereiteten Transparentbildern abgesehen, es sollte durch wirkliche menschliche Gestalten wiedergegeben werden. Die Begeisterung aller Mitwirkenden war – bei so manchen Beschwerden und Unannehmlichkeiten im einzelnen – in stetem Wachsen begriffen. ›Gewiß hat nie einer künstlerischen Genossenschaft‹, sagt Wagner selbst in der Rückerinnerung an diese gemeinsame Arbeit, ›ein so wahrhaft nur für die Gesamtausgabe eingenommener und ihrer Lösung mit vollendeter Hingebung zugewendeter Geist innegewohnt, als er hier sich kundgab. Hier war alles ein schöner, tiefbegeisterter Wille, und dieser erzeugte einen künstlerischen Gehorsam, wie ihn ein zweiter nicht leicht wieder antreffen dürfte.‹ Insbesondere nennt der Meister hier Niemann als ›das eigentliche Enthusiasmus treibende Element‹ des gesamten Künstlervereines. ›Zu jedem Anteil bereit, schlug er mir vor, neben dem Siegmund in der, »Walküre« auch den Siegfried in der »Götterdämmerung« zu übernehmen, während die hiermit betrauete, bis dahin ungeübtere Kraft allein für den jungen Siegfried des vorangehenden Teiles einzustehen haben sollte. Meine Eingenommenheit für einen gewissen dramatischen Realismus ließ mich die Störung einer Täuschung befürchten, wenn derselbe Held an zwei aufeinanderfolgenden Abenden zwei verschiedenen Darstellern übergeben würde; ich lehnte dankend Niemanns Antrag ab.‹ Unmöglich war es, daß Unger nichts von diesen Verhandlungen erfuhr; hatte er doch so ziemlich das ganze Personal gegen sich, das ihn nicht aufkommen lassen wollte; für sich aber das ihm ein für allemal geschenkte Vertrauen des Meisters. Um so mehr war er darauf bedacht sein Bestes zu leisten, was ihm denn auch bei diesem Probenzyklus in hervorragender Weise gelang. Als er am 20. Juli den ersten Akt des Siegfried recht glücklich durchgeführt, prophezeite Niemann, er werde morgen keinen Ton in der Kehle haben; es gelang ihm, die üble Voraussage zuschanden zu machen und sich selbst zu übertreffen. Sehr zufrieden war der Meister auch mit der Leistung des so plötzlich für die Übernahme des Hagen berufenen Gustav Siehr. ›Dieser Künstler machte mich auch von neuem damit bekannt, welche ungemeine Begabungen unter uns Deutschen anzutreffen, und wie leicht diese zu den vollendetsten Leistungen anzuleiten sind, sobald sie dazu eben nur richtig angeleitet werden.‹ Doch gab es vorläufig noch viel mit ihm zu arbeiten, und das Gleiche galt in dieser zweiten Probenreihe doch mehr oder weniger von sämtlichen Mitwirkenden, die nun erst einigermaßen in den Stil der Gesamtdarstellung einzutreten begannen.

Daß dies von seiten jedes einzelnen aber mit soviel Lust und Liebe geschah, das war es, was der Meister in seinem Rückblick als den ›schönen Zauber‹ bezeichnete, der ›bei uns Alle gut machte‹. In ganz hervorragender Weise galt dies insonderheit auch von Frau Materna als Wotanstochter Brünnhild. Das Beste, was Wagner selbst ihrer so außerordentlichen Leistung nachrühmen konnte, war nicht etwa ihre gleichmäßig ausdauernde Stimmkraft, [266] sondern, daß sie bei ihm, ›gelernt‹ und mit Daransetzung all ihrer glänzenden Gaben nur darauf ausgegangen war, dieses direkt vom Meister Gelernte nun auch in begeisterter Überzeugung zu verkörpern und in seinem Sinne zu gestalten. Auf die liebevollste Art wußte er ihr dies jederzeit zum Ausdruck zu bringen, so u.a. in dem ihr zu Ehren am 9. Juli veranstalteten ›Rosenfest‹ in Wahnfried. Es war im Personale bekannt geworden, daß Frau Materna am 10. ihren Geburtstag feierte, als Vorfeier desselben sollte am Sonntag, den 9., jenes Gartenfest dienen, zu welchem jeder Eingeladene mit einer Rose zu erscheinen hatte. Am Garteneingang zum Saal war ein Rosensitz erbaut: beim Eintritt der Gefeierten ordnete sich der Zug sämtlicher Gäste ›Zuerst kam ich‹, erzählt davon Fricke, ›mit 16 weißgekleideten Kindern, die im Hochzeitszug der Götterdämmerung beschäftigt waren, dazu auch Wagners, Guras und Eckerts Kinder. Dann kamen Herren und Damen vom Chor. Drittens sämtliche darstellende Künstler und Künstlerinnen, viertens das von Wagner angeführte Orchester. Frau Materna, die ein weiches Herz hatte, war bis zu Tränen gerührt. Auf die Kinder folgten die Übrigen, alle gaben ihre Rosen ab. Es sah prächtig aus, dieser Rosenregen vom ganzen Orchester. Ein Hoch mit einer humoristischen Rede Wagners schloß die Feier. Angermannsches Bier wurde an verschiedenen Stellen im Garten verzapft, der Garten dann illuminiert – Mondschein dazu. Ein Lampionzug, mit den Kindern an der Spitze, ordnete sich, und unter Feuerwerk zogen wir durch alle Gänge des Gartens‹.23

Hatte bisher, außer den jeweilig unbeschäftigten Künstlern und ihren nächsten Angehörigen, nur eine kleinere Anzahl von Augen- und Ohrenzeugen den gemeinsamen Studien beigewohnt, so mehrte sich die Zahl derselben nun zusehends von Tag zu Tag. Den bereits genannten Freunden des Hauses Wahnfried schloß sich am Sonntag, 16. Juli, das edle Schleinitzsche Paar an, die ausgezeichnetste, aufopfernd werktätige, einflußreichste Gönnerin und eigentliche Hauptpatronin des Bayreuther Werkes, mit ihrem Gatten, dem kgl. preußischen Hausminister; einige Tage später Heckel aus Mannheim, um für die Dauer der Proben und Aufführungen dem Verwaltungsrat seine Kräfte zur Verfügung zu stellen; am 23. die russische Fürstin Barjalinsky, durch besondere Verhältnisse verhindert, von ihren Patronatsrechten Gebrauch zu machen; am 24. Edward Dannreuther aus London, Nietzsche u.a.; bald darauf auch Schüré's aus Paris und Prof. Monod nebst Gemahlin (geb. Olga v. Herzen, dem Zögling Malwidas), – sämtlich von dem Verlangen beseelt, der großen Kunsttat in ihrem Werden beizuwohnen und sie unter ihren Augen entstehen zu sehen. Immer zahlreicher und mannigfaltiger wurde die Gesellschaft, welche sich vor Beginn der Proben vor der Theaterrestauration [267] oder in den Anlagen vor dem Hause zusammenfand. ›Noch steht die Sonne im Zenith‹, heißt es in einer gleichzeitigen Schilderung des Verfassers, ›und unmerklich schräger entsendet sie ihre Strahlen vom wolkenlosen Himmel, und schon ziehen die ersten vereinzelten Pilger die breite Straße zwischen den jungen Bäumen hinan, von deren oberem Ausgang die vordere Rundung des Gebäudes, trotz des einfachen Materials, roter Ziegel mit Fachwerk, mit imponierender Majestät dem Hinaufwandelnden entgegenschaut.24 Immer wieder erquickt den oben Angelangten das anmutige landschaftliche Bild, der freie Ausblick über die nach allen Seiten hin entstandenen jungen Parkanpflanzungen mit sanft geschwungenen Kieswegen, die grünen Fluren und das Städtchen im Talkessel mit seiner blauen Hügelumkränzung, hier und da unterbrochen durch die aufstrebenden Linien stattlicher Bäume in größerer Nähe der Terrasse. Schon wird es mit vorschreitender Stunde belebter, in der Allee zur Seite des Hauptweges ziehen Fußgänger, in der Mitte des Weges rollt, von einer leichten Staubwolke gefolgt, eine Equipage nach der anderen die Anhöhe hinaus. Um 5 Uhr beginnt die Probe. Wer aus dem hellen Sonnenlicht des Sommernachmittages in das Innere des Gebäudes tritt, muß sich im dunklen Raum zuerst dem Tastsinn überlassen, der ihn die Stufen hinauf bis zu den Sitzreihen leitet. Erst allmählich gewöhnt sich das Auge an das geheimnisvolle Halbdunkel. Eine Empfindung, die der des ehrfurchtsvollen Schauers am nächsten kommt, ist das erste, was uns der Anblick dieser neuen Welt erweckt. Da steigen nach allen Seiten in konzentrischen Halbkreisen die mächtigen Sitzreihen in mäßiger Erhebung empor, nach oben zu in der Fürstenloge ihren Abschluß findend. Ihre Verengung der Bühne zu wird durch kühne Säulenvorsprünge begrenzt, die in genialer Weise den einförmigen Anblick leerer Seitenwände beseitigen, indem sie dem Auge vielmehr, durch ihr Zusammentreten zur Bühne hin, die Richtung nach der noch durch den Vorhang verhüllten Szene geben und so die Erwartung des Zuschauers schon im voraus auf das szenische Bild lenken. Über den »mystischen Abgrund« des Orchesters schwingt sich einstweilen noch eine aus rohem Holze leicht gezimmerte, später abzubrechende Brücke, welche die Verbindung zwischen Bühne und Zuschauerraum herstellt. Der letztere ist nur in den vordersten Reihen dicht besetzt, im übrigen Raum sind nur einzelne Gruppen sichtbar. Noch schweift der Blick frei umher, da fühlt er sich plötzlich auf einen Punkt gebannt, wir empfinden etwas wie einen Ruck im Innern, noch ohne uns darüber klar zu sein, was ihn ausgeübt. Hinter dem Vorhange rechts ist der Mann hervorgetreten, dessen Gestalt, wie ein Magnet, aller Blicke auf sich zieht, derselbe, aus dessen gewaltiger[268] Stirn der Gedanke zu diesem Hause entsprungen, und noch mehr, das ungeheure Werk, dem dieser imponierende Raum nur zum provisorischen Gehäuse dient. Im schlichten Arbeitskostüm, wie der Künstler in seinem Atelier, braunem Rock und hellen Beinkleidern, in der Hand den breitkrämpigen, grauen Filzhut, die Füße beschuht, um geräuschlos zwischen den Darstellern hin- und herschlüpfen zu können, steht er uns gegenüber. Sein helles, scharfes Auge dringt sofort bis in den äußersten Winkel des Zuschauerraums. Nachdem er wenige Worte mit dem Orchester gewechselt, hat er die Brücke betreten und steht nun in den vordersten Sitzreihen, hier und dort freundlich grüßend und plaudernd, doch nein! da ist er schon wieder auf der Bühne. Eine Fanfare verkündet, daß alle Musiker beisammen sind; das Zeichen wird gegeben und das Vorspiel beginnt‹ u.s.w.

Eines charakteristischen Vorfalles aus dieser Zeit des zweiten Probenzyklus ist zu gedenken, da er recht auffällig bekundet, wie selbst unter den Treuesten, Ergebensten, Mißverständnisse und Gegensätze aufkommen konnten, aber bei allseitig gutem Willen sich wieder beseitigen ließen. Der Meister hatte den Wunsch ausgesprochen, am Dienstag, den 25, zur Probe des zweiten Aktes der ›Götterdämmerung‹, die Akustik des Saales durch volle Besetzung desselben zu erproben; auch konnten gewisse äußerliche Einrichtungen des Hauses, besonders an den Eingangstüren, nur auf diese Weise vollkommen befriedigend geprüft werden. Daraufhin hatte der Verwaltungsrat am Sonntag, den 23, eine Ankündigung in den Bayreuther Zeitungen erlassen, wonach dieses eine Mal ausnahmsweise der Zutritt gegen Eintrittskarten zu 3 Mark gestattet, selbst die Galerie gegen Zahlung von 11/2, Mark zugänglich gemacht werden sollte; der Erlös aus dem Kartenverkauf war nicht für die Festspielunternehmung, sondern für einen davon unabhängigen wohltätigen Zweck (nämlich für die Witwe des plötzlich verstorbenen Bratschisten Richter) bestimmt Diese öffentliche Anzeige las nun der Meister am 23. zu seinem größten Erstaunen: eine Ausbietung der Plätze gegen Bezahlung war ganz und gar nicht in seinem Sinne gewesen; er hatte an Soldaten aus der Garnison gedacht. Sogleich wandte er sich brieflich an Bürgermeister Muncker: ›ich kann dies ganz unmöglich zugeben, da wir an diesem Tage sehr ernstlich (mit einem ganz neu einstudierten Sänger, Herrn Siehr) zu studieren haben, wobei zu assistieren ich meinen hiesigen Bekannten und Freunden, kurz »Eingeladenen« sehr wohl gestatten konnte, nun und nimmermehr aber Zahlenden, unter welchen sich höchst bedenkliche Elemente befinden dürften‹. In diesem Sinne ersuchte er ihn, die geehrten Freunde vom Verwaltungsrat zur Zurücknahme ihrer Anordnung zu bewegen, weil er ›sonst sich veranlaßt sehen würde, die Probe zu verlegen‹. Mit dieser letzten Erklärung meinte er sich gegen die Folgen dieser willkürlichen Auslegung seines ursprünglichen Wunsches bestimmt gesichert zu haben; da hatte er aber ohne Freund Feustel gerechnet, der es sich nicht [269] bieten ließ, daß eine offiziell veröffentlichte Bekanntmachung so von kurzer Hand wieder ›zurückgenommen‹ werden sollte. Ein zweites, an Muncker gerichtetes Briefchen vom gleichen Tage ›Nachts 11 Uhr‹ enthält daher die weitere Wendung der Dinge. ›Es wurde mir heute Abend von unserem Freunde, Herrn Groß, angedeutet, daß unser hochgeehrter Herr Feustel die Abbestellung des Besuches der Dienstagprobe, »gegen Bezahlung« als eine Beleidigung für sich ansehen, und demnach seine fernere, bisher so ungemein ersprießliche, Mitwirkung in unserem Verwaltungsrat aufgeben würde. Dieser wahren Kalamität gegenüber entschloß ich mich, der Sache in dem, von Freund Feustel beschlossenen Sinne ihren Lauf zu lassen; nach weiterer Besinnung muß ich jedoch hiergegen erklären, daß ich für meine Person dieser Probe nicht assistieren werde, und die Sänger sich allein zu überlassen gedenke: mögen sich die Folgen hiervon nicht nachteilig herausstellen.‹ Wirklich wäre eine Zurücknahme der einmal erfolgten Ankündigung schon wegen der Kürze der Zeit unmöglich gewesen; denn am anderen Morgen (24. Juli) war an allen drei bekannt gegebenen Verkaufsstellen, bereits früh um 1/29 Uhr, also eine halbe Stunde nach der Eröffnung, keine Karte mehr zu haben; mit solcher unfehlbaren Sicherheit hatte sich selbst hier, auf dem Bayreuther Boden, die Spekulation der günstigen Gelegenheit bemächtigt.25 Die Probe am Dienstag fand nun, wie angekündigt, um die gewohnte Zeit, fünf Uhr nachmittags, vor gefülltem Hause, aber in einem Zuge ohne Unterbrechung und ohne Beteiligung des Meisters statt; da es glücklicherweise der kürzeste Akt des Werkes war, konnte sie, laut Verabredung mit den Künstlern, gleich nachdem sich das Publikum zerstreut hatte, noch einmal in den Hauptpunkten vorgenommen werden, und ging dadurch der Tag für das Studium nicht verloren. Auch hatte sich der neugewonnene Hagen dabei vorzüglich bewährt. Doch blieb der Vorfall charakteristisch für die tagtäglich eintretenden mannigfachen Reizbarkeiten und kleinen Verstimmungen in dem weiten Kreise der an dem Werke Beteiligten. So drohte an demselben Tage Brandt mit plötzlicher Abreise, und weshalb? weil er auf einem unoffiziellen Programm der Gießelschen Buchdruckerei, von welchem der Meister gar nichts wußte, nicht mit dem ihm zukommenden Titel angeführt worden wäre!26 Und als zwei [270] Tage später, nach Schluß des zweiten Probenzyklus, die nach Professor Doeplers Angaben verfertigten Kostüme anprobiert wurden und die längst vorausgesehene Unzulänglichkeit derselben offenkundig wurde, zeigte sich, wie wenig auch dieser eine offene Ausstellung an seiner Arbeit vertragen konnte. Und doch war, neben so manchem Mißglückten und Vernachlässigten in der Szenerie, gerade dieser Punkt der schwächste in der gesamten sichtbaren Erscheinung des so weit über seine Zeitperiode hinausragenden Werkes. Überall fehlte der große einheitliche künstlerische Zug, das tiefere mitschöpferische Nachempfinden, wie es zwanzig Jahre später – 1896, bei der Wiederaufnahme des ›Ringes‹ in Bayreuth – die, aus der pietätvoll nachschaffenden Phantasie eines Hans Thoma hervorgegangene, Kostümierung erwies. Statt dessen viel Konventionelles, Unschönes, archäologische Spielerei und Kleinkrämerei, ohne Schwung und Leben, weniger an Götter und Helden, als an das Berliner Museum für Völkerkunde gemahnend! All diesen Unzulänglichkeiten gegenüber galt es am Ende nur noch Geduld und Nachsicht gegen das Verfehlte, da die meisten Mängel dieser Art nun nicht mehr von Grund aus abzustellen waren. Denn schon stand der dritte und vorletzte Probenzyklus mit vollen Dekorationen, Requisiten und – Kostümen dicht bevor.

Dieser dritte Probenzyklus (29. Juli bis 4. August) kam den wirklichen Aufführungen wieder um einen Schritt näher, da nun bereits – statt der bisherigen einzelnen Akte – jedesmal ein volles Drama das Tagespensum bildete. Er umfaßte im ganzen genau eine Woche. Zwischen jedem einzelnen der vier Werke und seinem Nachfolger lag, zur Schonung der Sänger, jedesmal ein freier Tag; erst die, einer Aufführung schon völlig gleichkommende Generalprobe sollte alle vier Werke dicht aneinanderrücken. Die leicht gezimmerte Holzbrücke, welche bis dahin, über den ›mystischen Abgrund‹ des Orchesters hinweg, die Verbindung zwischen der idealen Welt der Szene und der realen des Auditoriums gebildet, war nun abgebrochen: die vielen Ein- und Ausgänge machten es dem Meister aber dennoch möglich, daß er binnen weniger Augenblicke bald aus der entferntesten Ecke des Zuschauerraumes den Gesamteindruck beobachtete, bald wieder auf der Bühne sichtbar war und den Mitwirkenden seine Anweisungen erteilte. Bei der Rheingoldprobe am 29. waren ausschließlich die vier untersten Reihen für die Zuschauer abgesperrt, weil an den oberen Sitzreihen die Nummertäfelchen noch nicht angeschlagen, sondern die Platznummern erst noch mit Kreide an die Sitzlehnen angeschrieben waren. Das erste, was er bei seinem Erscheinen auf der Bühne bemerkte, war, daß sich doch eine Anzahl von Eindringlingen oberhalb hier und da zerstreut niedergelassen hatte; er stampfte unwillig mit dem Fuße auf und rief [271] mit schallender Stimme in den Raum hinein: ›Was suchen die Herrschaften dort oben? Herunter! herunter! Nicht die Nummern auswischen!‹ Dann wandte er sich mit einer kurzen Ansprache im humoristischen Ton an das Orchester und kündigte an: die heutige Aufführung solle im Ganzen genommen werden; kleine Unkorrektheiten würden heute keine Wiederholungen mehr veranlassen. Dann ertönte die Trompetenfanfare als Signal für den Beginn; für das ›Rheingold‹ war es Donners Ruf: ›Heda! heda, hedo!‹27 – dann Stille, die Beleuchtung wird eingezogen, Dunkel erfüllt das Haus: geheimnisvoll erklingt der dumpfe langgehaltene Es dur-Akkord aus der Tiefe des Orchesters; wie aus der trägen Ruhe des Chaos tritt in immer bewegterer Figuration jenes Motiv des Urwerdens hervor, bis sich der Vorhang teilt und das anmutigste szenische Bild sich dem Auge darbietet. Der Ankündigung gemäß geht die Vorführung ohne wesentliche Unterbrechungen vor sich; die Rheintöchter, Alberich, vor allem Vogl als Loge leisten ihr Bestes. Nur den Riesen war nochmals anzuweisen, wie sie zu gehen, wie mit ihren Keulen aufzustampfen hätten, um durch ihre Bewegungen dem Rhythmus des Orchesters genau zu entsprechen Repetiert wurde nur die Verwandlungsmusik der dritten Szene, – die Ambosse hatten ihre Schuldigkeit versäumt. ›Es sei ein Malheur passiert‹, erklärte der Meister, und noch einmal ward die Fahrt in die Tiefe angetreten, bei welcher nun das Geräusch der unsichtbaren Nibelungenwerkstatt die Einbildungskraft auf das wirksamste anregte. Schlosser-Mime erregte durch seine Erscheinung, Vortrag und Spiel sichtlich sein Wohlgefallen. Die ›Herren Mannen‹ (heute vielmehr ›Nibelungen‹), bis dahin als Zuschauer auf der Galerie plaziert, waren schon vorher mit lauter Stimme über das ganze Haus hinweg auf ihren Posten berufen. Einen geringen Aufenthalt verursachte einzig noch die Aufschichtung des Hortes; auch wurde Fasolt hierbei noch einmal der Platz angewiesen, wo der Hort ihm Freia wirklich verdecken konnte.28 Im übrigen verlief die gesamte Probe ohne bemerkenswerten Anstoß durch einzelne, etwa noch übrig gebliebene Schwierigkeiten, bis zu ihrem überwältigenden musikalischen und szenischen Schluß, der alle Hörer wie in dem Zustande einer völligen Berauschung zurückließ.

Am folgenden Tage, Sonntag, den 30. Juli, vereinigte ein Gartenfest in Feustels gastlichem Hause in Gegenwart des Meisters und seiner Gemahlin [272] den größten Teil der mitwirkenden Künstlerschaft. In seiner eigenen Häuslichkeit hatte er fast täglich zum Mittagsmahl seine Künstler, Patrone und Freunde um sich, so am 27. Niemann, Wilhelmj, Richters; am 29 zu einem kleinen französischen Diner Schürés, Monods (nebst Malwida) etc.; am 30. Herrn und Frau v. Schleinitz; am 31. Frau Franziska Ritter, Frau Johanna Jachmann-Wagner nebst Gemahl, Standhartners Stiefsohn Dr. Gustav Schönaich etc. Bei dieser Gelegenheit war viel von dem, auf dem Wege nach Eremitage gelegenen anmutigen Landsitz Colmdorf die Rede, welchen Landrat Jachmann kaufen und für fünf Monate jährlich bewohnen wollte; wozu es dann aber in der Folge doch nicht kam. Außerdem abends wiederholt kleinere oder größere Empfänge. Bei diesen Anlässen waren ihm, vermöge seiner ungeheuren Selbstbeherrschung, keine Verstimmungen und Schwierigkeiten anzumerken; er zeigte sich stets nur in freundlichster und heiterster Laune. Er setzte diese nun aber vollends bei seinen Gästen voraus, die, bloß als Genießende anwesend, mit keinen Sorgen und Verdrießlichkeiten zu kämpfen hatten, und es erfreute ihn wenig, z.B. Nietzsche, der sich soeben nach langer Abwesenheit durch eine schöne flammende Schrift wieder eingeführt, nun wieder so stumm und düster zu sehen, daß während eines mehrstündigen Zusammenseins auch nicht ein Wort aus ihm herauszubringen gewesen war.29 Auch sprach er sich bei all solchen Anlässen ganz freimütig über viele Punkte aus, in denen die szenische Darstellung hinter seiner Intention zurückblieb oder sie völlig im Stich ließ, wogegen er sich an den Äußerungen der mächtigen Begeisterung erfreute, die schon jetzt sein Werk in den Hörern und Zuschauern hervorrief.

Bis zur ›Walküren‹-Probe am 31. hat sich der Hörerkreis wieder ansehnlich gemehrt. Aus Frankreich, England, Rußland, selbst Amerika sind neue Festteilnehmer frühzeitig eingetroffen, um auch den Vorbereitungen beiwohnen zu können. Die Zahl der Anwesenden wächst noch jeden Augenblick, nachdem bereits die Stunde für den Beginn der Probe geschlagen; immer wieder öffnen sich die Türen und bricht das blendende Tageslicht in den dunklen Raum. ›Ach Gott, was haben wir heute für ein (großes) Publikum!‹ seufzt der eintretende Meister humoristisch; dann, mit einem ›gehorsamster Diener!‹ zum Orchester gewandt, erteilt er diesem die letzten Instruktionen. Und nun: ›Herr Kühnert, schießen Sie los!‹ Das Nothungmotiv verkündigt den Beginn und lauter Zuruf aus dem Orchester meldet die vollzählige Anwesenheit der Musiker. Das Vorspiel beginnt: in zitternder Triolenbewegung halten Geigen und Bratschen den Grundton fest, während immer gewaltiger das Wehen des Sturmes in den Bässen anschwillt. Im tiefen Walde braust das Unwetter, die Riesen des Forstes beugen sich unter seiner Macht, der Ruf [273] des Wolkensammlers Donner tönt hinein, Blitze zucken durch die Finsternis. Der Vorhang öffnet sich; einen Augenblick bleibt die Szene leer: dann öffnet der erschöpfte Wälsung die Tür, überblickt den Raum, schwankt dem Herde zu, um an ihm zusammenbrechen. Es ist der Höhepunkt der gesamten Kunst Albert Niemanns, mit welcher sich keine seiner früheren oder späteren Leistungen messen konnte: jede Bewegung von adeligster Schönheit und plastischer Vollendung. So wird der Aufzug eröffnet, der vom Beginn bis zum Schluß wie ein glühender Lavastrom sich in die Brust des Hörers und Zuschauers ergießt. Im zweiten Akt tun Betz und die Materna ihr Bestes: die Erzählung Wotans, in den furchtbaren Schmerzensausbruch des durch den inneren Zwiespalt gequälten Gottes mündend, ist von erschütternder Größe; die Szene der Todeskündigung, der wahrhaft homerisch empfundene Schluß des Aufzuges Bis zum letzten Moment auf den Hauptzweck jeder Kunstdarbietung, verständlichste Deutlichkeit, bedacht, hatte der Meister in der Instrumentation der Walkürenszene noch einige leichte Änderungen vorgenommen; die neuen Noten waren bereits an die betreffenden Pulte verteilt, nun tritt er vor Beginn des dritten Aktes noch einmal auf der Bühne hervor: er habe vergessen zu sagen, daß sie nach diesen Noten, und nicht nach den früheren, spielen sollten: ›Was hilft es, daß Sie alles singen und spielen, wenn man den Dialog nicht versteht?‹ Dann leitet das elektrisierende Vorspiel die in ihrer wilden Pracht hinreißende Szene auf dem Walkürenfelsen ein; die imponierende Präzision des Gesanges in diesem stürmischen Auftritt macht sich unter allen dargebotenen Wundern durch ihre unüberbietbare Vollendung bemerkbar. Acht erste Sängerinnen, unter ihnen eine Johanna Jachmann-Wagner: obgleich schon seit Jahren von der Bühnentätigkeit zurückgetreten, doch für den Zweck dieser Mitwirkung noch einmal die Szene beschreitend, auf welcher sie die, einst ihr zugedacht gewesene ›Brünnhilde‹ – nicht hatte singen sollen! Schlag auf Schlag folgt dann das Erscheinen Brünnhildes mit Sieglinde, die Ankunft des zürnenden Gottes Nach dem furchtbaren Ausbruch seines göttlichen Grimmes dann die weihevolle Abschiedsszene mit ihrer zart erhabenen Verklärung unter den bestrickenden Klängen des Feuerzaubers, – in völliger Entrückung verlassen die Hörer das Haus.

Das Hauptereignis des 1. August (Dienstag) war die Ankunft Liszts. Er kam von Wilhelmsthal, wo er den Großherzog Karl Alexander besucht hatte und sah sehr wohl aus, der Meister hinwiederum war durch die Ankunft des großen Freundes sichtlich erfrischt. Am Abend fand auf dem Festspielhügel zur Eröffnung der sog. ›großen‹ Theaterrestauration ein Einweihungs-Souper statt, zu welchem außer den meisten mitwirkenden Künstlern auch sämtliche bisherige Teilnehmer an den Proben erschienen waren, – eine bunte und angeregte Gesellschaft. Den Ehrenplatz nahm der Meister mit seiner Gemahlin und Liszt ein. Während des Mahles erhob er sich von seinem Platze, [274] und die lebhafte Unterhaltung verstummte. Erst nach Ablauf der Generalproben habe er sich mit einigen Worten an seine Künstler wenden wollen, begann er mit schlichtem und innigem Ernst; aber er habe den Restaurateuren nachgeben müssen. So wolle er denn heute zu seinen Künstlern sprechen, und nächstens zu seinen Patronen. Was habe er ihnen nun zu sagen? Seinen Dank? Was sei Dank, was nenne man Dank? Eine Belohnung? Nein, eine Belohnung könne es nicht sein, ›eine Belohnung bekommen Sie nicht von mir.‹ Seine Stimme senkt sich, rings feierliches atemloses Schweigen. Auch würde, fährt er fort, sein Dank sich mit dem ihrigen aufheben; denn auch sie seien ihm Dank schuldig. Sie alle hätten – hier hob sich der Ton zu einem heiligen Eifer – es an sich erfahren, wie nun doch das ›Kunstwerk der Zukunft‹ in Wahrheit das erlösende sei. Es habe sie alle erlöst von den Mühseligkeiten eines niederdrückenden Berufes zu einer ›freiesten Kunsttat‹. So könne es nur seine Freude sein, die er ihnen ausdrücken müsse, seine Freude, daß sie so treu zusammengehalten und durch ihre Teilnahme und Begeisterung die gemeinsame Sache gefördert. Dann folgte die spannende Schilderung eines besonderen Freundes, den er aus ihrer Mitte hervorhebe, der vom ›großen Loche‹ an mit ihm gesorgt und gearbeitet: ›Herr Karl Brandt, ich bitte, stehen Sie auf!‹ Der also Angeredete erhob sich von seinem Sitze, um mit dieser wärmsten aller Dankesbezeigungen für all seine Bemühungen den höchsten Lohn zu empfangen. Eine nochmalige Ansprache des Meisters stellte als den entscheidendsten Faktor ihrer bisherigen Erfolge die bewunderungswürdige Pünktlichkeit aller und jeder Mitwirkenden hin, die es einzig ermöglichte, daß er in seinem, vor nun einem Jahre entworfenen, Probenplan – nichts habe ändern müssen. Diese Pünktlichkeit aber sei durch ihren gemeinsamen Enthusiasmus erzielt worden; und darum sage er, sie hätten eine ganz neue Macht entdeckt, durch die sich alle menschlichen Angelegenheiten zu sicherem Gedeihen führen ließen: dies sei der Enthusiasmus, auf ihn könne man künftig Staaten gründen! – Der Beifall herzlichster Zustimmung erwiderte seinen Worten, und in schöner Gehobenheit verließ man nach wenigen Stunden den Festsaal, um in lauer Nachtluft den Heimweg in das schlummernde Städtchen anzutreten.

Ein prangender Sommertag folgt dem andern, auch die Hauptprobe des ›Siegfried‹ am 2. August ist vom herrlichsten Wetter begünstigt. Nur die ununterbrochen wirkende Sonnenglut erzeugt eine gewisse Erschlaffung, gegen welche die Ausübenden zu kämpfen haben; glücklicherweise ist es im Innern des Festspielhauses frischer und kühler. Präzise 3 Uhr 40 Minuten fährt, wie an jedem Probentage, die offene Equipage des Meisters die Anhöhe hinan, diesmal nicht allein seine hochherzige Gemahlin, sondern auch Liszt an seiner Seite. Bei ihrem Aussteigen bildet sich, wie immer, sofort eine in jedem Augenblick wechselnde Gruppe um sie: Wagner selbst ist am ehesten aus [275] ihr verschwunden, um im Theater auf seinem Platze zu sein. Dann sammelt sich alles im Innern des Hauses. Der Held des ersten Aufzuges ist heute Mime: die außerordentliche Leistung Schlossers reiht sich unbedenklich dem Bedeutendsten an, was die darstellende Kunst je produziert. Noch im zweiten Probenzyklus hatte der tüchtige Künstler darunter zu leiden gehabt, daß er dazwischen in München alles mögliche durcheinander hatte singen müssen: er hatte dadurch so manches vergessen, was ihm in den Vorproben und während der ersten Siegfriedproben bereits zu eigen geworden schien.30 Nun aber zeigte er sich wieder im unbeschränkten geistigen Vollbesitz seiner Partie. Neben ihm erfüllte Unger alle in ihn gesetzten Erwartungen. Seine Reckengestalt gab ihm völlig das Äußere des Wälsungensprossen, seine jugendliche Frische und Natürlichkeit ließen in seinem Vortrag des Schmiedeliedes eben dieselben Funken sprühen, die sein Hammer dem glühenden Eisen entlockte. Bloß Niemann blieb fortdauernd gegen ihn eingenommen. In der Szene des Wanderers zerbrach diesem letzteren der Speer, gerade als er ihn auf den Boden stieß, weil er zum Zerspringen im dritten Akt eingerichtet war und der Mechanismus vorzeitig in Tätigkeit trat; sofort stand auch schon, wie aus einer Versenkung aufgetaucht, der Meister neben ihm, mit der Weisung, er müsse für die beiden ersten Akte einen anderen Speer haben Uns ist der etwas unwirsche Ton in Erinnerung, mit welchem Betz erklärte, der Speer tauge nichts, er hindere ihn in den Bewegungen und gleite auf dem Boden aus; völlig imponierend war von Wagners Seite die Nachsicht, mit welcher dergleichen von dem, immer schwierig zu behandelnden, durch das Überragende seiner Partie zu wenig über sich selbst hinaus gehobenen Wotansänger aufgenommen wurde! Im zweiten Akt vernahm man wohl Fafners rauhe Stimme, sein riesiger Leib konnte aber immer noch nicht, ›in Aktion geführt‹ werden, er kam nicht aus seiner Höhle hervor, da er auch jetzt noch nicht vollständig da war. Die Teile kamen einzeln an, in besondere Kisten verpackt: das Schwanzstück hatte den Anfang gemacht, das Mittelstück war auch schon angelangt, der Kopf – fehlte noch immer! Trotzdem war die Wirkung des Ganzen eine ungeheure: auf das düstere Nachtstück zu Beginn des zweiten Aktes das zarteste und hellfreudigste Waldbild, das je ein Dichtergeist geschaffen; die Erweckung Erdas, die Begegnung Wotans und Siegfrieds mit ihrem erhabenen Humor, der Gang durchs Feuer, dessen flammende Lohe alle Erdenreste in dem Zuschauer zu tilgen schien, bei dessen Tönen ihn ein ungeahntes Wohlgefühl durchdrang, [276] und dann – die ›selige Öde auf sonniger Höh'‹, Brünnhildes Erwachen! Wie aus der Schar der Unsichtbaren im Orchester Wilhelmj seiner Geige hier die bestrickendsten Töne, von überirdischer Zartheit und Reinheit, zu entlocken wußte, so erreichen die beiden Sichtbaren auf der Bühne, Unger und, Frau Materna, die volle Höhe ihrer, mit nichts bisher Vorhandenem zu vergleichenden Leistung. Der überwältigende, alles überschwemmende Eindruck des Werkes siegte über alle verschwindenden Unzulänglichkeiten im einzelnen, in voller unwiderstehlicher Macht bannte er die Herzen und Geister.

Zwischen dieser Probe und dem Abschluß der Hauptproben mit der ›Götterdämmerung‹ lag für den Meister noch ein anforderungsvoller Tag. Liszt zu Ehren fand am 3. August in Wahnfried ein kleines Diner mit auserlesenen Freunden statt; das Schleinitzsche Paar, Graf und Gräfin Danckelmann Frau v. Meyendorff bildeten diesmal den engen Kreis.31 Abends gab es, wie von jetzt ab regelmäßig an den Donnerstagen, großen Empfang. Dazwischen aber szenische Proben auf dem Festspielhaus. Als der Abend hereinbrach, war das große Schlußbild der untergehenden Götterburg immer noch weit von der gewünschten Vollendung entfernt, und alle wiederholten telegraphischen Nachfragen nach Fafners Kopf ohne Erfolg. ›Wozu die Griechen sich lange Zeit der Vorbereitung nahmen, das solle hier jetzt in aller Eile geschehen‹, sagte der Meister mit Bezug auf diese Unzuverlässigkeit seiner technischen und mechanischen Mitarbeiter. Trotz aller vorausgegangenen Anstrengungen und Unerfreulichkeiten erschien er abends selbst inmitten der Gesellschaft32 und hatte für jeden ein gutes Wort, einen Scherz, eine freundliche Begrüßung, Mitteilungen und Erinnerungen an Vergangenes, dazwischen auch wohl eine bittere Klage darüber, wie schwer man es ihm mit der würdigen Vorführung seines großen Werkes mache, wozu das eben angeführte Wort darüber gehört, wie umständlich z.B. die Alten die Feier ihrer großen Dionysien vorbereitet hätten u.s.w.

Den Probenbesuchern bot am Freitag, den 4. August eine Überraschung die große schwarze Marmorplatte an der Vorderseite des Theaters, unmittelbar über der Mitte, wo vor vier Jahren der Grundstein des Theaters versenkt worden war, errichtet von den Maurermeistern des Bühnenfestspielbaus [277] als eine dauernde Erinnerung an die ersten Festspielaufführungen: eine Art von monumentalem ›Theaterzettel‹, auf welchem die Namen sämtlicher Mitwirkenden verzeichnet waren. Über die seltsamen Erfahrungen, die sich an dieses Weihegeschenk knüpften, berichtete später der Meister selbst, wie er, von den Stiftern der Gedenktafel um eine Inschrift dafür angegangen, eben jene Form eines gewöhnlichen Theaterzettels gewählt habe, mit der Anführung der Tage der ersten Aufführungen, Titel der verschiedenen Stücke und der Benennung des Personales derselben mit den beigefügten Namen der Ausführenden. ›Ganz nach dem Vorgange solcher Theateraffichen, nannte ich auch die Hersteller und Leiter des übrigen Darstellungsapparates, den Dirigenten des Orchesters, meinen Unmögliches leistenden, viel erprobten, für alles einstehenden Hans Richter; fand nun aber auf der Tafel keinen Raum mehr, um, wie ich dies so gern getan haben würde, jeden der zahlreichen Helfer am Werke, wie die vortrefflichen Sänger der »Mannen« und ganz bestimmt auch die alles verwirklichenden, vorzüglichen Musiker des Orchesters, mit Namen aufzeichnen zu lassen Diese leider ungenannt Gebliebenen fühlten sich hierdurch auf das Schmerzlichste gekränkt: keine verständige Erklärung half hiergegen; um den Sturm zu beschwören, mußte ich die aufreizende Gedenktafel für die Dauer der Festspiele verhängen lassen‹ (!).33 Auch der ungeheure letzte Teil des gesamten Werkes gelang in dieser vorletzten Probe wiederum in einer, das kühnste Hoffen übertreffenden Weise, von der düsteren Nornenszene an bis zum Verhallen des letzten Tones, ohne daß irgendeine wesentliche Wiederholung erforderlich gewesen wäre. Alle Darsteller leisteten in staunenswerter Weise das Ihre und das Orchester vollführte wahrhafte Wunder Seiner ›teuren, treuen Wotanstochter‹ Frau Materna hat der Meister damals und später immer wieder seine höchste, rückhaltlose Zufriedenheit über ihre Leistung ausgesprochen, und gegen Unger tat er es ganz besonders noch am folgenden Tage (5. August) in einem eigenhändigen Schreiben, um so manchem im Dunkeln schleichenden Gerede, als habe ihm dessen Darstellung nicht genügt, die Spitze abzubrechen und ihm zu den bevorstehenden Generalproben Mut zu machen. ›Ich bezeuge Ihnen‹, heißt es darin, ›daß Sie mit beiden Siegfrieden meine besten Erwartungen erfüllt haben: seien Sie hierüber ganz klar! Sie haben sich alles auf das genaueste angeeignet, was ich Ihnen über den Charakter der Rolle sagte, sind darin sicher und bringen alles zu einer sehr wohltuenden Wirkung.‹

Von der Generalprobe war dieser dritte Probenzyklus nur durch einen Ruhetag getrennt. Noch einmal hatte das ungeheuere Werk sich in all seinen Zügen den ausübenden Künstlern fest und innig eingeprägt: die ›Heldentat‹, von der er kaum vier Wochen früher, am Schluß des ersten Zyklus gesprochen, [278] war nun, soweit es Zeit und Verhältnisse erlaubten, auf das herrlichste durchgeführt. Vor kaum vier Wochen – doch freilich ›Wochen‹ nur nach dem dürftigen Maßstabe des Kalenders! In der Geschichte der Kunst hatten diese Bayreuther Tage und Wochen den Wert von ebenso vielen Jahren und Jahrzehnten; jeder deutsche Musiker und Sänger, der mit wirklicher Hingabe an ihnen teilnahm, konnte sich in dieser kurzen Frist für die Lösung geistiger Aufgaben erstarkt und gereist fühlen, von denen er zuvor kaum die beglückende Ahnung ihrer Möglichkeit hatte. Nur daß, unter dem biographisch-geschichtlichen Maßstab betrachtet, das alles um fast zwanzig Jahre zu spät kam: 1858 in Zürich wäre der einzig rechte Zeitpunkt dafür gewesen, hätten die reichbegüterten Züricher damals seine Mahnung verstanden und gewürdigt; und die internationale Bedeutung, welche sich damit die Stadt Zürich für ganz Europa und für ihr Verhältnis zu Deutschland gewonnen, hätte ein geschichtlicher Wendepunkt für die gesamte Schweiz werden können. Wie vielen schweren Sorgen und Schwankungen seines Schicksals, die ihn bis zur Vernichtung bedrohten, wäre damit sein inneres und äußeres Leben enthoben gewesen, in welch andere Bahnen wäre es dadurch gelenkt worden! Und damals hätte er auch in vollem Maße die feurige Lebenskraft dazu gehabt, um sie an eine so ungeheuere Aufgabe zu setzen. Jetzt, an seinem späten Lebensabend, war ihre Ausführung für ihn nur noch eine wahrhaft heroisch auf sich genommene Pflicht, zu deren Erfüllung er die unersetzlichsten, feinsten und edelsten Kräfte seines kostbaren Daseins hingab, auf die Gefahr hin, das von ihm mit seinem Herzblut geschaffene durch die stumpfe Teilnahmlosigkeit seiner Zeitgenossen zu der Vergänglichkeit eines einzelnen großen vorübergehenden kunstgesichtlichen Ereignisses verurteilt zu sehen!

Fußnoten

1 Da Scaria soeben in dem kleinen Kissinger Theater Gastrollen zu geben nicht verschmähte, war es die dortige ›Saale-Zeitung‹, welche den Unfall seines Ersatzmannes zur Reklame für den berühmten Sänger ausnutzteA1; von hier aus ging die gleiche Nachricht aber in zahlreiche andere, namentlich Wiener Blätter über!


2 Vgl. Ges. Schr. X, S. 150/51: ›Wir hatten uns, weil deutsche Mechaniker hierfür noch nicht genügende Übung besaßen, an einen in England vorzüglich erprobten Anfertiger beweglicher Tier- und Riesengestalten gewendet, diesen mit großen Kosten honoriert, seinerseits aber die, vermutlich aus dem sonst allgemeinen Unglauben sich ergebenden, Folgen der Verzögerung in der Zusendung der einzelnen Teile seines Werkes zu erfahren, so daß wir uns in der letzten Stunde entschließen mußten, unser Ungetüm ohne den Hals desselben, welcher noch heute (1878) auf einer der Stationen zwischen London und Bayreuth unentdeckt liegt, mit dicht an den ungeheuren Rumpf gehefteten Kopfe, somit allerdings in großer Entstelltheit, in die Aktion zu führen.‹ (›Ein Rückblick auf die Bühnenfestspiele des Jahres 1876.‹)


3 Ges. Schr. X, S. 149/50.


4 Bayreuther Blätter 1900, S. 293. ›Die damalige Bühnentechnik‹, so erzählt Mottl in seinen ›Bayreuther Erinnerungen‹, ›war noch nicht so weit vorgeschritten, um die eminenten szenischen Schwierigkeiten im ersten Bilde des, »Rheingold« vollkommen zu lösen: wir mußten uns für die Bewegungen der Rheintöchter noch mit den schwerfälligen Schwimmwagen behelfen. Bei jedem der drei Wagen waren zwei Theaterarbeiter und ein musikalischer Assistent beschäftigt. Die Genauigkeit und Aufmerksamkeit, mit welcher Wagner diese Proben leitete, läßt sich nicht beschreiben, sie wird mir ewig unvergeßlich bleiben.‹ (New-Yorker Staatszeitung, Sonntagsblatt, April 1904.)


5 Unter dem Titel ›Bayreuth vor 30 Jahren, Erinnerungen von Richard Fricke, weil. Herzogl. Ballettmeister in Dessau‹ (Dresden, Bertling 1906) erschienen kürzlich die sehr interessanten und belehrenden Tagebuch-Aufzeichnungen des verdienten Mannes aus dieser bewegten Zeit der Proben und Aufführungen. Es heißt darin z.B. unter dem Datum des 29. Mai: ›Schlosser aus München war gekommen, 11–1 Uhr Szenenprobe Siegfried, I. Akt. Ich hatte die Freude, Wagners Talent zu bewundern, einen Charakter, wie den des Mime, dem Darsteller klarzulegen. Es war meisterhaft, wie er einzelnes darstellte, nüancierte! Schlosser wird ein ausgezeichneter Mime werden, aber nicht wie Wagner es sein würde‹ (S. 84). Und im Anschluß daran die Tagebuchnotiz vom 31.: ›Der Meister klagte über seine Hüfte und das, was etwas tiefer sitzt. Er hatte sich in der Szene, wo Siegfried mit dem neugeschmiedeten Nothung den Ambos spaltet, um Mime – Schlosser – zu zeigen, wie erschreckt er darüber sein muß, so schnell und mit Gewalt nach rückwärts geworfen, daß er es heute noch fühlt‹ (S. 86/87).


6 Über die besondere Veranlassung zu dieser öffentlichen Danksagung vgl. die Mitteilungen Dr. Franz Munckers in den ›Bayreuther Blättern‹ 1900, S. 221.


7 Frickesche Notiz vom 1. Juni. ›Heute versuchte Hill den Sturz in die Tiefe. Welches Herzklopfen, welche Angst er ausgestanden hat, ist nicht zu beschreiben. Der Zauber, den Wagner auf ihn ausübte, ist mächtig. Er hat es fertig bekommen, daß sich dieser ängstliche Mann zu einer Sache verstand, die kein Intendant oder irgend ein Regisseur ihm abgerungen hätten‹ (Fricke, S. 87).


8 Fricke, a.a.O., S. 88/89.


9 Der 4. Juni war der Pfingstsonntag. ›Abends 71/2 Uhr‹, heißt es in den Frickeschen Notizen, ›wozu diesmal die Musiker (nach Absolvierung ihrer Orchesterprobe) im Zuschauerraum saßen. Es dauerte auch nicht lange, so brach ein Sturm von Applaus los. Wagner hatte heute jeder Rheintochter einen Blumenstrauß in das Schwimmlager gelegt. Eine, Flasche Champagner, den sie »Rheingold« getauft, sollte oben auf der Klippe liegen und Hill-Alberich sollte mit ihr in die Tiefe stürzen. Sie war leider nicht oben anzubringen, ich übergab sie ihm, als er unten angekommen war. Hill hatte nun alle Angst überwunden‹ (S. 90). 6. Juni. ›Die Eindrücke werden immer gewaltiger. Gestern hatten wir die erste Arrangierprobe der 2. und 3. Szene. Die Verwandlung aus der Tiefe des Rheines ein Meisterstück‹ u.s.w. 8. Juni: ›Bei all diesen Arrangierproben wird mir allerdings angst um Wagners Gesundheit. Er springt zwischen die Singenden, stellt sich neben sie und macht die Gesten vor‹ u.s.w. (S. 93).


10Volker der Fiedler ward nun neu!‹ so besang nach den Aufführungen der Meister selbst den warm ergebenen Freund.


11 Das ›Rheingold‹ war zwei Tage später, als im ursprünglichen Probenplan angesetzt, begonnen worden und zum Ersatz für den Ausfall die beiden ersten Sonntage hinzugezogen. In der Folge fielen die Proben an den Sonntagen aus, und diese wurden als Erholungstage zu Ausflügen in die Umgegend etc. benutzt. Am 24. Juni, mitten in den ›Siegfried‹-Proben, überbrachte Dr. Strecker (Schotts Nachfolger) Partitur und Stimmen des amerikanischen Marsches: gern hätte ihn der Meister am nächsten Tage durch seine Musiker sich und den Seinigen zum ersten Mal zu Gehör gebracht; aber er stand sogleich davon ab, als er erfuhr, diese hätten einen gemeinsamen Sonntagsausflug nach Berneck geplant. Er wollte ihnen nach redlich getaner Arbeit die Freude nicht verderben!


12 Die Aufzeichnung dieser in der Partitur nicht enthaltenen dramaturgischen Vorschriften, wie er sie während dieser Proben mündlich gab, als eine wertvolle Ergänzung jener von ihm selbst schriftlich fixierten Angaben, ist ein unvergeßliches Verdienst von Heinrich, Porges in seiner Schrift: ›Die Bühnenproben zum Ring des Nibelungen‹ (zuerst erschienen in den ›Bayreuther Blättern‹ 1878 ff.), dann unter dem gleichen Titel auch als Buchausgabe.


13 In den Frickeschen Notizen findet sich wiederholt die Äußerung, der Meister habe von heute zu morgen seine erteilten Anordnungen bezüglich der Szenen, der Stellung, des Wechsels in der Stellung verändert: die Lebhaftigkeit seines Temperamentes habe ihn das gestern Gesagte ›vergessen‹ lassen!! Nun ist uns zwar Ähnliches aus der Zeit der ›Parsifal‹-Proben (1882) durch H. Porges mündlich bezeugt, nur hat es sich weder damals noch später um ein ›Vergessen‹ (!!) gehandelt, sondern einsam um Mißverständnisse seitens der im Bayreuther Stil noch ungeübten Darsteller, sowie andererseits darum, daß die Arbeit während dieser Proben eben in einem Anpassen des poetischen Gedankens an den Boden der Szene bestand, und daher manches notwendig erst ausprobiert und dann verworfen werden mußte. ›Wieder dieselben Unterbrechungen, dasselbe Einspringen und Ändern der Szene – es ist wahrlich zum Verzweifeln!‹ heißt es einmal bei Fricke. Die Geduld, welche hier seine künstlerischen Helfer und Genossen nicht hatten, mußte demnach der Meister in doppeltem Maße aufwenden!


14 Vgl. H. Porges' Bericht über die Festspielproben (Neue Zeitschrift für Musik 1876).


15 Frickesche Notizen: ›13. Juni. Wagner muß heute das Zimmer hüten, sein Gesichtsreißen ist ärger geworden.‹ – ›14. Juni. Der Arzt hat es gestattet, daß Wagner abends zur Probe gehen dürfe, er läßt sich nicht länger halten.‹ – ›15. Juni. Wagner konnte heftiger Schmerzen halber die gestrige Probe doch nicht besuchen; von seinem Barbier Schnappauf erfuhr ich, daß nachmittags das Zahngeschwür geöffnet würde.‹ – ›17. Juni. Der Meister konnte auch gestern nicht zur Probe kommen. Schmerzen, welche ihn aufs heftigste plagten, und eine schlimme Nacht im Fieberzustande zwangen ihn, im Hause zu bleiben. Leute (Sonnabend) Morgen empfing er mich mit dickgeschwollenem Gesicht und sehr angegriffen durch die schlaflosen Nächte. »Bester Freund, ich will und muß heute in die Probe, Sie werden sich an meine Seite setzen, und da ich nicht laut sprechen kann, mein Dolmetscher sein.« Wir setzten uns zusammen, nahmen den Klavierauszug zur Land; er zeichnete mir Auftritte, Stellungen und Abgänge genau auf die Note auf. Die Probe beginnt: Wagner vergißt alle Schmerzen, springt die hohen Felsstücke auf und ab, arrangiert nach Möglichkeit und wirst alles über den Haufen. Es war geradezu ängstlich anzusehen, mit welcher Lebhaftigkeit er oben auf Bergeshöhen den Kampf leitete. Niemann wendet sich ab: »Gerechter Himmel, wenn er fällt, ist ja alles aus.« Aber er fiel nicht, er sprang mit seiner dicken Backe, welche noch durch Watte und ein dickes Tuch verbunden war, wie eine Gemse ins Tal‹ (S. 98–103).


16 ›Lieber Herr Scaria‹, so beginnt dieser Brief. ›Die Sache muß in Ordnung kommen! Wenn Sie es mir nur diesmal ermöglichen!‹ Er bietet ihm für die Zeit vom 22. Juli bis 31. August täglich 100 Mark Aufenthaltsentschädigung, und außerdem am Schluß, wenn alle Plätze verkauft seien, 3000 Mark. In einem an Frau Materna gerichteten, aber für Scaria bestimmten Briefe vom 17. Juni, den sie als nächste Kollegin ihm schicken wollte, heißt es: ›Ich habe Herrn Scaria vor acht Tagen ausführlich geschrieben und blieb – ohne Antwort! Es tut mir leid, daß unter solchen Umständen wir in Bayreuth Herrn Scaria rätselhaft erscheinen!‹


17 Ges. Schr. X, S. 154/55.


18 Er hatte schon 1844 bei der ersten Berliner Aufführung des ›fliegenden Holländers‹ mitgewirkt und kaum die Mitte der Fünfziger überschritten.


19 ›Die Aufregung, der an sich so schwere Wein, dazu 25° Hitze, alles hatte sich vereinigt und schnell gewirkt, um uns alle aus Rand und Band zu bringen. Es fanden Verbrüderungen statt, Tränen flossen, der Rest ist Schweigen.‹ (Fricke, Erinnerungen, S. 104/6).


20 So geschah es, daß ein zugereister Kapellmeister von Seidl und Fischer in toller Laune im Walde an einen Baum festgebunden und seinem Schicksal überlassen wurde.


21 Unter den sonstigen literarischen Erscheinungen zur Verherrlichung des bedeutungsvollen Vorganges erwähnen wir hier nur noch die Schrift eines jungen Philosophen, Edmund v. Hagen, über die erste Szene des ›Rheingold‹. Sie war bereits Ende Juni, während der Arbeiten am dritten Akte des ›Siegfried‹ erschienen und trotz mancher überschäumenden Jugendlichkeit ihres Enthusiasmus durch unverkennbare Tiefe der Gedanken und wahrhaft hellsichtige Momente ausgezeichnet; sie bereitete dem Meister eine ungeteilte Freude, insbesondere auch durch die eigentümliche Begrenzung des Stoffes, die den Geist der gesamten Ring-Dichtung aus dieser einzigen Szene zu deuten wagte. (Bekanntlich gehört auch das Erscheinen der ersten Ausgabe des vorliegenden Werkes unter dem Titel ›Richard Wagners Leben und Wirken‹ eben diesen Tagen der ersten Festspiele an.)


22 Freitag, 14. Juli: ›Rheingold‹ 1. u. 2. Szene; Sonnabend, 15. Juli: 3. u. 4. Szene; 17. bis 19. Juli. ›Walküre‹; 20. bis 22. Juli. ›Siegfried‹; 24. bis 26. Juli: ›Götterdämmerung‹.


23 Fricke, Erinnerungen, S. 119/20 (verkürzt).


24 Der nachmals (1882) hinzugekommene Königsvorbau existierte damals noch nicht, nur die mächtige Rundung der Außenwand des Zuschauerraumes, hinter und über welchem sich der stark erhabene Bühnenbau ragend erhob.


25 Vgl. Bayreuther Tagblatt 1876, Nr. 207 v. 27. Juli sub ›Lokales und Vermischtes‹. Nach den Frickeschen Notizen hätten Fremde, die in Menge schleunigst herbeigeeilt waren, bis 27 Mark Aufgeld für einen Platz bezahlt; viele hätten enttäuscht wieder abziehen müssen.


26 In seinen Tagebuchnotizen bezeichnet ihn Fricke unter hoher Anerkennung seiner Verdienste als den ›größten Theatermeister‹, den er je gesehen. ›Diese Ordnung, diese Ruhe bei den großartigsten Verwandlungen! Wie seine Leute arbeiten, ist erstaunlich! Und doch ist auch dieser Mann nicht frei von Fehlern, er ist verwöhnt durch die großen Erfolge. Im Verzeichnis der Mitwirkenden ist er als, »erster Maschinenmeister« angeführt. Er will als, »Bühnenleiter« genannt sein‹ etc. Und vorher: ›Prof. Doepler und Brandt sind sich in der letzten Zeit feindlich gegenüber getreten; es ist fast zur Beleidigung gekommen. Wagner und ich stehen daher (von beiden Seiten her) im Kreuzfeuer. Brandt hat zuweilen etwas Verletzendes in seinem Wesen. Ich habe ihm einmal die Zähne gezeigt; jetzt, wo er mein nützliches Wirken erkannt hat, sind wir die besten Freunde‹ (S. 124, verkürzt).


27 Die vier Signalthemen für die einzelnen Teile des Werkes (Donners Ruf für das ›Rheingold‹, das Nothung-Motiv für die ›Walküre‹, das Siegfried-Motiv für den ›Siegfried‹, das Walhallthema für die ›Götterdämmerung‹) hatte er eigenhändig für seinen wackeren Trompeter niedergeschrieben, darunter die Worte: ›Für Herrn Kühnert komponiert. Den 31. Juli 1876.‹


28 Vgl. die Frickeschen Notizen: ›Die etwas schwierigere Prozedur der Einhüllung Freias mit dem Nibelungenhort ist so gut wie möglich – mit vielen Hindernissen von Doepler und mir – in Ordnung gebracht worden. Die beiden, Loge und Froh, werden es wohl nun fertig bekommen, wenn sie es vorher tüchtig probieren‹ (S. 130).


29 Schüré, welcher damals zum ersten Male Nietzsches Bekanntschaft machte, bezeichnete ihn als triste et affaissé: en présence de Richard Wagner, il était timide, gêné, presque toujours silencieux.


30 So war auch der ausgezeichnete Darsteller des Loge, Herr Vogl, inzwischen in München gewesen, wenn auch nicht in Kunst-, sondern in Familienangelegenheiten (vgl. S. 245); da er dem bevorstehenden Ereignis diesmal mit besonderer Sorge entgegensah, mußte der Meister bereits fürchten, ihn ganz zu verlieren (ein bei so vorgerückter Zeit ganz unerseztlicher Verlust!) und hatte daher, kurz vor den Hauptproben, mit besonderer Befriedigung die telegraphische Meldung über den glücklichen Verlauf erhalten.


31 Zu großen Gastereien hatte Wahnfried ohnehin keinen Raum, vgl. Liszt an die Fürstin Wittgenstein: ›Chaque jour, il y a une demi-douzaine d'invités à dîner – la salle à manger ne contient que 12 couverts‹ (Liszt, Briefe VII, S. 152).


32 Unter den Gästen des Empfangsabends befanden sich nächst Liszt, Herrn und Frau v. Schleinitz, Danckelmanns, Malwida, Jachmanns, Hans Richter mit Frau, Eckerts, Schürés noch ein Teil der mitwirkenden Künstler, außerdem Klindworth, dessen Gattin noch in Tirol weilte, Damrosch, Louis Brassin, Servais, Reinhart Schäfer, Hans v. Wolzogen, E. v. Hagen, auch ein junger Schüler Nietzsches, Brenner, der sämtlichen Proben von den Klavierproben an beigewohnt hatte, nicht aber Nietzsche selbst; dieser hatte sich wegen lästigen Kopfwehs von Bayreuth fort in die fränkische Schweiz begeben.


33 Ges. Schr. X, S. 155 (›Ein Rückblick auf die Bühnenfestspiele des Jahres 1876‹).


A1 ›Keiner von den für ihn in Aussicht genommenen Sängern sei imstande, die ihm (Scaria) zugedachte kolossale Aufgabe in der Götterdämmerung zu bewältigen!‹ In welchem Sinne dies wirklich der Fall war, das zu entscheiden, war doch nur die Sache des Meisters, nicht aber des kleinen Kissinger Badeblattes!


Quelle:
Glasenapp, Carl Friedrich: Das Leben Richard Wagners in 6 Büchern. Band 5, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1905, S. 251-280.
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