XIV.

Das Londoner Festival.

[336] Gründe für das Londoner Unternehmen. – Zeitraubende Vorarbeiten – Verhandlungen mit Wien, München, Leipzig über Abtretung des Nibelungenringes. – ›Parsifal‹-Dichtung vollendet. – Reise nach London. – Sechs Konzerte in vierzehn Tagen. – Gesellschaftliche Beziehungen. Geburtstagsfeier. – Siebentes und achtes Konzert. – Abschied von London.


Alles hier Erfahrene entspricht meinen alten Kenntnissen von London; wogegen ich meine bessere Einsicht aufgeopfert habe, um nicht bequem und träge zu erscheinen. Um wieviel älter mich diese erneuten Erfahrungen gemacht haben, was ich von Lebenskraft ganz unnütz hier wieder vergeudet habe – stehe dahin.

Brieflich an Feustel (30. Mai 1877).


Um den Preis, die jedem künftigen Bayreuther Vorhaben im voraus wie ein Alpdruck anhangende Defizitlast mit einem Schlage beseitigt zu sehen, erklärte sich der Meister, den Aufforderungen einiger in England weilenden Freunde nachgebend, zu allen unausbleiblichen Anspannungen, Aufregungen und Mühwaltungen bereit, die ein solcher in London zu veranstaltenden Zyklus großer Konzerte mit sich bringen mußte, in denen umfangreiche Fragmente seines in England noch gänzlich ungekannten Nibelungenwerkes zur Aufführung gelangen sollten. Gewiß gab es in der reichen englischen Zentrale ganz andere finanzielle Mittel, als in dem verarmten Deutschland; jeder Spekulant und Unternehmer wußte das, wenn er über den Kanal zog, um stimmlose deutsche Sänger unter vielversprechenden italienischen Namen und mit einem mittelmäßigen Orchesterleiter zu einer glänzenden Opernstagione zu vereinigen und mit ihnen seine unfehlbaren Geschäfte zu machen. Anders lag der Fall bei einem Unternehmen, das selbst in dem Rahmen einer bloßen Konzertveranstaltung so erheblich von allem Gewohnten abwich; und es war von Hause aus keineswegs eine unbedingte Hoffnung auf Gelingen, was den Meister aufs neue zu einem so ungeheueren Opfer seinerseits veranlaßte. Seine genaue Kenntnis der Dinge hatte ihn bisher vielmehr immer von einem Versuche mit London abgehalten. Konnte trotzdem der Gedanke in ihm aufkommen, daß dieses einzige Mal ein solcher Versuch – unerhörter Weise! –[336] doch am Ende glücken könnte: so war es, nach seiner eigenen Erklärung, doch weniger dieser Gedanke und eine darauf begründete Hoffnung, welche ihn dazu bestimmten, nach London zu gehen. Den Ausschlag gab vielmehr, nach allem bisher Erfahrenen und insbesondere dem passiven Verhalten seiner Bayreuther Freunde vom Verwaltungsrat in der Defizitfrage, der Entschluß: diesen und den ihnen Gleichgesinnten, mochte daraus werden, was da wolle, durch die Tat den Beweis zu erbringen, daß es nicht Trägheit und Bequemlichkeit von seiner Seite sei, wenn er die Deckung des Defizits auf anderen Wegen betrieben wissen wollte.

In diesem Sinne sehen wir ihn in jeder seiner brieflichen Äußerungen über das Unternehmen in irgend einer, dem Empfänger noch so schmeichelhaften, Wendung doch darauf bedacht, die Verantwortung dafür von seiner Person auf dessen eigentliche Veranlasser abzuwälzen. So gleich in seinem ersten Briefe in dieser Sache an August Wilhelmj als ›liebsten Gönner und Förderer seiner Angelegenheiten‹. ›Sie hatten Unrecht‹, heißt es darin, ›mich daran zu mahnen, daß ich dafür zu sorgen hätte, mit Ihnen Hand in Hand vor dem Publikum Europas zu erscheinen. Ich wurde vor mehreren Tagen angegangen, einem Korrespondenten der Times etwas an die Hand zu geben: diesem habe ich ganz einfach diktiert, daß Ihre Berichte und Aufforderungen mich bestimmt hätten, in London und England etwas zu unternehmen. Wird dieser Passus allernächstens in den Times nicht gut wiedergegeben, so sollen Sie von mir einen Brief hierfür erhalten, der sich gewaschen haben soll! – Abgemacht!‹1 Nicht minder verpflichtend lautet der acht Tage später (15. März) an denselben Adressaten gerichtete Passus: ›Der Kontrakt mit Mr. Hodge & Essex; Essex wird soeben von mir unterzeichnet. Möge nun diese Unternehmung einen guten Verlauf finden! Sie wissen, daß das eigentliche Konzertgeben von meiner Tätigkeit gänzlich abliegt: ich konnte diejenigen, die sich mit mir bekannt machen wollten, zuletzt immer nur nach Bayreuth einladen. Es scheint, daß ich mir auf diese Weise namentlich auch in England gute Freunde erworben habe Sie, liebster Freund, haben mich nun so eindringlich aufgefordert, von diesem Letzteren mich an Ort und Stelle selbst zu überzeugen, daß ich gern mich entschloß hierauf einzugehen. Ein ganz bestimmtes Recht auf mich hatten Sie sich durch Ihre herrliche Beteiligung an der Aufführung meiner Bühnenfestspiele in Bayreuth erworben: einem ernstlichen Wunsche Ihrerseits hatte ich zu willfahren. Ich komme – sage ich es offen – auf Ihre Einladung nach England. Möge Sie meine Folgsamkeit nicht gereuen!‹2

Nach dieser genauen Bezeichnung der beiden einander entgegengesetzten, aber auf dasselbe Ziel hinauslaufenden, ausschlaggebenden Motive für das[337] Londoner Unternehmen, des Drängens auf der einen, der auffordernden Lockung von der anderen Seite her, kehren wir für unsere Erzählung des Verlaufes der Dinge auf den Ausgangspunkt der Begebenheiten zurück. Dieser fällt ungefähr in die Mitte des Februar, während der Meister soeben mit der Prosaskizze des Dialogs seines zweiten Aktes beschäftigt war und nichts angelegentlicher wünschte, als bei dieser erlösenden Beschäftigung in völliger Ruhe und Freiheit belassen zu werden. Sogar den Tag können wir genau bestimmen: es ist der 18. Februar. Ein Brief an Frau Materna von diesem Datum kündigt ihr definitiv das Ausfallen der Festspiele für diesen Sommer an, ohne London mit einer Silbe zu erwähnen. An dem gleichen Tage gelangte an Feustel ein Brief der Londoner Unternehmer Hodge & Essex; Essex, in welchem der größte Erfolg und ein unerhörtes Aufsehen dem Meister prophezeit wurde, wenn er sich dazu entschließen würde, auf einen Monat nach England zu kommen. Die beabsichtigten Konzerte sollten im Mai stattfinden, als Lokal war die riesige, gegen 10000 Personen fassende Royal Albert-Hall in Aussicht genommen. Auserlesene Instrumentalisten sollten dem Meister dafür zu Gebote stehen; zwei vorzügliche Freunde, wie August Wilhelmj und Eduard Dannreuther, die Zusammensetzung des Orchesters in ihre Hand nehmen; die Gesangskräfte sollte er sich selbst aus dem Sängerpersonale der deutschen Opernbühnen auswählen und zur Mitwirkung auffordern. Eine Notiz Wilhelmjs, den voraussichtlichen ungeheuren Erfolg bestätigend, gab den Ausschlag. Daß die Herren Hodge und Essex bloße Anfänger, in Konzertangelegenheiten ohne Erfahrung und Einfluß, eine bloße Agentur für den Verkauf von Musikinstrumenten3 waren, davon verlautete kein Wort; offenbar überschätzten sie selbst ihre Kräfte und rechneten vor allem auf den berühmten Namen des Konzertgebers. Nach ihrem ersten Vorschlag handelte es sich um 20 Konzerte im Laufe des Monats Mai, unter Anerbieten einer Garantiesumme, deren Höhe dem Meister zu bestimmen zufiel Laut seinem Brief an Wilhelmj vom 8. März wurde diese Garantie auf 500 £ pro Abend festgesetzt, unter der Bedingung, daß die Unternehmer alle Kosten tragen sollten. Hiermit wäre der Zweck, das Defizit zu decken, erreicht worden. Sehr bald war zu bemerken, daß die Leute offenbar – Mühe hatten, hierfür Kapitalien auf zubringen, welche sie selbst nicht besaßen, und hinsichtlich der Garantiesumme Erleichterungen wünschten.4 Ferner ward eine Abänderung des Antrages dahin getroffen, daß es sich nicht mehr, wie anfangs, um 20 Konzerte im Laufe eines Monats, sondern um 6 Konzerte im Laufe von vierzehn Tagen handeln sollte. Das war nun aber etwas ganz anderes, als das ursprünglich ins [338] Auge Gefaßte. ›Ich glaube,‹ schreibt Wagner mit Bezug darauf an Wilhelmj, ›ich hätte wohlfeiler abkommen können, wenn mir vom Anfang an nur von sechs Konzerten während 14 Tagen gesagt worden wäre; da war aber von zwanzig Konzerten die Rede, vor welchen Materna und Hill natürlich erschraken, und für welche sie nur durch starke Honorare zu gewinnen waren. Jetzt war die Honorarfrage nicht mehr zu reduzieren; sogar bedurfte ich doch nun mehr Sänger, da ich für sechs vollständig neue Programme zu sorgen hatte, während ich zwanzig Konzerte nicht anders für möglich gehalten hätte, als durch Wiederholung einer kleineren Anzahl von Stücken.‹ ›Rechnen Hodge etc. durchaus nicht auf teilweise Wiederholung bis Ende Mai, so sind die (für vollen Monat engagierten) Sänger allerdings zu teuer bezahlt. Allein dies liegt in dem ersten Anfange.‹ Und wiederum: ›Hodge und Essex mögen vortreffliche Leute sein, aber Kontrakt hätten sie nicht mit mir schließen sollen, weil sie mir dadurch Annahmen erweckt haben, von denen loszusagen mir etwas Überwindung kostete, als sogleich die erste kontraktliche Stipulation nicht erfüllt wurde.‹5

Dies alles, Reduktionen des ursprünglich Angenommenen und Festgesetzten, Anordnung der Programme und das Ausschreibenlassen der fehlenden Stimmen unter Aufsicht Seidls und Fischers6, Verhandlungen mit den mitwirkenden Künstlern, Loslösung derselben aus ihren Dienstverhältnissen durch Verwendung bei ihren Intendanzen, behufs Urlaubserteilung, und so manches daran sich knüpfende Ärgernis durch Langsamkeit und Hinhalten, vollzog sich genau in derselben Zeit (in den Monaten März und April) in welcher andererseits die Dichtung des, ›Parsifal‹ im Laufe von sechs Wochen aus der Skizze heraus zu ihrer Vollendung heranwuchs. Ende der ersten Märzwoche war er mit seiner Gemahlin für einige Tage der Gast des freundlich gesinnten Herzogs Georg von Sachsen-Meiningen; wobei denn ihm zu Ehren von der damals berühmten Meininger Truppe eine Aufführung von Shakespeares ›Julius Cäsar‹ veranstaltet wurde.7 Unmittelbar nach der Rückkehr ward einerseits der Kontrakt mit Messrs. Hodge und Essex unterzeichnet, andererseits (14. März) die Dichtung des ›Parsifal‹ in den Morgenstunden aufgenommen und fortgeführt. Die äußersten Gegensätze berührten sich damit: während der Nachmittag [339] von nun ab, wie er über die Bitterkeit dieses Zwanges scherzend sagte, im ›Komptoirrausch‹ verloren ging, und zuweilen bis spät in die Nacht das widerlich Geschäftliche des Londoner Unternehmens zu ordnen war, blieben trotzdem die Früh- und Vormittagsstunden für die Dichtung gerettet. Und wenn wir im Vorhergehenden den Namen des Helden und des neuen Werkes zwar vorausgreifend immer schon in der Form genannt haben, in der er nun für fernste Zeiten den Abschiedsweihegruß des Genius an Mit- und Nachwelt zusammenfaßt, so gehört doch andererseits dessen allendliche Fixierung als ›Parsifal‹ – für ›Parzival‹ – erst diesen Februartagen des Jahres 1877 an (annähernd dem 13. oder 14. Februar).8 Sehr bald stellten sich auch die beängstigenden Zweifel und Sorgen über den finanziellen Erfolg der Unternehmung ein, die bereits jetzt, und fortdauernd, so viele Opfer an Zeit und Kraft für sich in Anspruch nahmen. Der bekannte, durch seine reiche Erfahrung ausgezeichnete Impresario Ullmann ließ sich aus freien Stücken in warnenden Briefen vernehmen; vierzehn Tage nach Unterzeichnung des Kontraktes erfolgte die erste Bitte der Herren Hodge und Essex um Gestundung der garantierten Summe von 1500 Pfund, welche ihnen (durch einen Londoner Advokaten) gewährt wurde; am 5. April erschien Herr Essex selbst mit der Bitte um eine abermalige Verzögerung. Auch diese wurde ihm bewilligt, da seine Person einen vertrauenerweckenden Eindruck machte und Wilhelmj sich für ihn verwendete. ›Ich bedarf dieses Geldes nicht für mich, wohl aber der Sicherheit des Ganzen wegen‹, schrieb er unter dem gleichen Datum an Wilhelmj, und setzte diesem die Bedingungen auseinander, unter denen er auf die fernere Mithilfe des Advokaten (Mr. Sumter) in dieser Angelegenheit verzichten würde. Wilhelmj hatte nämlich an Stelle jenes Advokaten einen ihm befreundeten Geschäftsmann als ferneren Vermittler vorgeschlagen. ›Ersuchen Sie Herrn Schlesinger‹, schrieb ihm darauf der Meister im Anschluß an den Essexschen Besuch, ›wenn er die Güte haben will, sich in dieser Sache zu beschweren, vor allen Dingen die täglichen Eingänge für Konzert-Entrées zu kontrollieren und ihre richtige Abführung zur deutschen Bank zu überwachen. Hodge und Essex sollen zum laufenden Betrieb des Geschäfts der Bank entnehmen, was sie brauchen aber unter Kontrolle des Herrn Schlesinger. Auf diese Abmachung hin, sobald nämlich Ihr geehrter Freund, Herr Schlesinger, so gut ist, der Sache sich ernstlich annehmen zu wollen, werde ich die fernere Mithilfe des Herrn Sumter nicht mehr in Anspruch nehmen etc. Ich hoffe in dieser Weise nach Ihrem Wunsche und Rate zu handeln.‹9

Um die Osterzeit verweilte Liszt zu zehntägigem Besuche in Wahnfried. Er kam von Wien, wo soeben die ›Walküre‹, unter so seltsamen Umständen [340] durch Dir. Jauner erbeutet, seit dem 5. März (unter ungeheurem Aufsehen, aber sehr wenig zur Freude des Meisters) gegeben war und der lebhafte Wunsch bestand, sich der noch fehlenden drei Nibelungenstücke zu bemächtigen. Zu mündlichen Unterhandlungen über den Gegenstand traf Hans Richter als Bevollmächtigter der Direktion in denselben Tagen ein (28. März). Wie begierig diese letztere auf den Abschluß des, nach ihrer Auffassung so einfachen Geschäftes war, bekundete sich darin, daß sie ihrem Abgesandten für diesen Zweck bare 20000 Mark als eine Art Abschlagszahlung mitgegeben hatte, als wenn mit sollen Künsten plötzlicher Überrumpelung in einer so wichtigen prinzipiellen Angelegenheit auch nur das Geringste zu erreichen gewesen wäre! Nach Liszts brieflichem Bericht an die Fürstin habe er diese Zumutung vielmehr ›kategorisch abgelehnt‹ und sich weitere Verhandlungen über diesen Punkt in jeder Weise erst vorbehalten.10 Richter rühmte die Wiener ›Walküre‹ als eine tüchtige Leistung; aus Liszts Berichten war hingegen mit Sicherheit zu entnehmen, daß ihr – allein schon durch die unwürdigsten Streichungen! – jede Weihe und jeder Adel ferngelegen habe. Kaum war Richter gegangen, so erschien von Mannheim Heckel, auf dem Wege nach Leipzig, wo in einer einberufenen Delegierten-Versammlung der neue ›Patronatverein‹ sich konstituieren sollte. ›Das müssen Sie, bester Freund, doch wohl ersehen haben‹, sagte ihm der Meister, ›daß alles jetzt durch mich Angeregte nur geschehen ist, um die Ehre meiner Unternehmung und meine Stellung zu derselben zu wahren. Glauben Sie, ich lebte wirklich der Hoffnung, es würde etwas zustandekommen? Lernt Deutschland und das deutsche Publikum kennen! Da ist alles – alles verloren! – Was wir im vorigen Jahre zustande gebracht, ist ein Wunder und wird es bleiben, so lange jemand etwas davon weiß Darüber hinaus geht es nicht mehr: an eine Wiederaufnahme wäre erst zu denken, wenn mein Programm hinsichtlich eines Patronatvereins u.s.w. aber nicht auf der Basis der bisherigen Verlosungsvereine! – strikte durchgeführt und verwirklicht wäre. Das Neue müßte anders aussehen, als das Alte; da müßte Macht und Bewußtsein dabei sein!‹ Nichtsdestoweniger war es sein Wunsch, die vorhandenen Vereine nicht aufgelöst zu sehen; sie sollten bestehen bleiben, wenn er auch nicht bestimmt sagen könne, wohin ihre Tätigkeit jetzt zu lenken sei. Über sein Londoner Unternehmen sagte er: ›Einstweilen habe ich in England für die Deckung des Defizits zu sorgen. Wenn ich davon heil zurückkomme, wird wohl hoffentlich niemand mehr von mir verlangen, daß ich noch an etwas anderes denke, als – mich zu erholen und zu – vergessen!‹11

[341] Am Gründonnerstag (29. März, noch während Liszts Anwesenheit) ward der erste Akt des ›Parsifal‹ in der Dichtung zum Abschluß gebracht; zunächst mit Bleistift geschrieben, zu späterem Überziehen mit der Feder. Am Charfreitag spielte Liszt abends zu großer Erschütterung der wenigen Zuhörenden – die ›Funérailles‹ und die ›Vogelpredigt‹, als Klänge aus einer anderen Welt. Die Londoner Korrespondenznöte nahmen derweil ihren Fortgang; insbesondere gab es endlose Mühen und Beschwerden, bis die dazu nötigen 8 bis 10 Sänger – trotz größter Honorare – zusammengebracht waren. Unger erwies sich als träge und erschrak davor, für London den ›Tristan‹ studieren zu sollen. Für den ›Siegfried‹ hatte er seine volle Energie angespannt; aber, wie es nunmehr schien, war es der äußerste Höhepunkt seiner Leistungsfähigkeit gewesen. Zum Ostersonntag fand in Wahnfried eine größere Gesellschaft statt, von etwa hundert Personen, lauter Bayreuthern Wiederum ließ sich dabei Liszt am Klavier vernehmen: diesmal war es die erhabene Gestalt des über die Wogen schreitenden, Franz von Paula, die er mit ergreifender Macht des Ausdruckes vor die Seele seiner Hörer zauberte Tags darauf, 2. April, wurde Liszts Namenstag durch die Vorlesung des vollendeten ersten Aktes der Dichtung des ›Parsifal‹ vor ihm als erstem Zuhörer gefeiert; und er erwiderte diese Mitteilung noch am gleichen Abend durch den völlig weltentrückenden Vortrag der H moll-Sonate. In seinen brieflichen Berichten an die Fürstin erwähnt Liszt aus diesen Tagen auch eines Zusammenseins mit Feustel. ›Er kam aus Berlin, wo er Mitglied des Reichsrats ist. Dort, wie in Bayern, ist sein Ruf als finanzielle Kapazität sehr geschätzt; man zieht ihn in wichtigen Geschäften zu Rate. Sein Schwiegersohn, Herr Groß, ist Wagner gleichermaßen ergeben. Dem Reichen leiht man gern, sagt das Sprichwort. Gewiß ist Wagner sehr reich an Schwierigkeiten, Widerwärtigkeiten und Hindernissen aller Art, dies ist der Grund, weshalb man ihm gern noch einige eingebildete Schwierigkeiten hinzuleiht: dazu gehört der angebliche Abfall Feustels von seiner Sache!‹12

Inzwischen hatte am 2. Mai die geplante Delegiertenversammlung in Leipzig ihren Verlauf genommen und war auf derselben zur vorläufigen Konstituierung des vom Meister gewünschten Patronatvereines geschritten worden Seltsam genug waren die bei diesem Anlaß vorgebrachten Anträge und Vorschläge, die in echt partikularistischer Weise auf alles andere eher als auf das einzig Nötige und Wichtige ausgingen. ›Ich wohnte‹, so erzählt [342] Heckel, ›den Beratungen auf besonderen Wunsch Wagners bei; denn es wurde von den Leipziger Einberufern eine Verlegung der Festspiele nach Leipzig (!!) geplant. Es gelang mir nach längerem Bemühen, diesen Vorschlag erfolgreich zu bekämpfen und Beschlüsse zu erzielen, über welche ich vorher in Bayreuth mit Wagner mich besprochen.‹ Nach den mündlichen Ausführungen Heckels wäre der auf die Übersiedelung der Festspiele nach Leipzig abzielende Antrag anfangs lebhaft begrüßt und von den Antragstellern hartnäckig verteidigt worden; auch habe sich bei dieser Gelegenheit George Davidson entschieden dagegen erklärt, daß der Verein ›das Defizit übernehme‹; dazu seien die Vereine nicht da. Man durfte sich verwundert fragen: wozu sonst? Da die Mehrzahl der Anwesenden naturgemäß aus Mitgliedern des Leipziger Wagner-Vereins bestand, kostete es einige Mühe, die Versammlung von der Unzulässigkeit des gestellten Antrages zu überzeugen und eine Einigung dahin herbeizuführen: man wolle nach Kräften zur Pflege und Erhaltung der Bühnenfestspiele in Bayreuth beitragen. Eine Delegiertenversammlung in Bayreuth selbst wurde für den Herbst des Jahres in Aussicht genommen. Auf Heckels brieflichen Bericht erwiderte der Meister: ›Ich verstehe alles, sage aber wenig, womöglich nichts mehr dazu: ich kann nichts anders als warten, da ich denn doch bedenklich vorausgeschritten scheine!‹13 – Hingegen hatte er gelegentlich eines Besuches des Leipziger Theaterdirektors Dr. Förster am Palmsonntag (noch während der Anwesenheit Liszts) mit diesem eifrig über die Möglichkeit verhandelt, daß dieser an seiner Statt die geschäftliche Leitung der Bayreuther Festspiele vom nächsten Jahre ab übernehmen sollte; wofür er ihm denn auch den ›Ring des Nibelungen‹ für Leipzig abtreten wolle. Dr. Förster zeigte sich zunächst nicht ganz abgeneigt, und die Verhandlungen darüber zogen sich noch durch einige Monate hin, bis er von London aus in der Nachschrift eines Briefes an Feustel (vom 3. Juni) diesem, der einen fremden Eingriff in die Festspielleitung nicht gern sah, die humoristischen Worte schreiben konnte: ›Mit Leipzig bin ich auseinander! Darum also keine Feindschaft nicht!‹ Bestehen blieb von diesen Verhandlungen nur der Gedanke, den gesamten Ring des Nibelungen an einige größere Theater (Wien, Leipzig und München) zur Aufführung zu überlassen: dieselben aber gegen die Erteilung des Aufführungsrechtes zu verpflichten: für die künftigen Bühnenfestspiele ihre darstellenden Kräfte nach einer zu treffenden Auswahl ihm (oder seinen Nachfolgern) mit besonderer Berücksichtigung des Zweckes in genossenschaftlichem Zusammenschluß zur Verfügung zu stellen. Wenn Norddeutschland in Leipzig, Süddeutschland in München, Österreich in Wien seine darstellerischen Kräfte an [343] dem Werke zu üben Gelegenheit fände, könne die Bahn für die Fortführung der Bayreuther Festspiele als geebnet betrachtet werden; diesen letzteren selbst aber würde durch ihrem bevorzugten künstlerischen Charakter, wie auch durch die Zusammensetzung ihres Publikums das unterscheidende Merkmal gewahrt.

Am seltsamsten nahm sich unter diesen drei auserkorenen Zentralpunkten die K. K. Wiener Hofoper aus. Wir gedachten soeben der Absendung Richters als Unterhändler und Überbringer einer Abschlagssumme ohne vorausgegangene bestimmte Einigung, und des empörenden Spieles im vorigen Jahre, als die Bewilligung der Mitwirkung von Frau Materna von der Bedingung einer Überlassung der ›Walküre‹ und des ›Tristan‹ an die Wiener Hofoper abhängig gemacht worden war (S. 246)!! Ganz dasselbe Spiel einer unwürdigen Pression auf die Entschlüsse des Meisters drohte sich jetzt von derselben Seite her zu wiederholen. Nachdem der erste Versuch mit den 20000 Mark (S. 341) völlig abgeschlagen und gescheitert war, griff Jauners begieriges Verlangen zu anderen Mitteln, um seinen Willen durchzusetzen. Die Beurlaubung Hans Richters für London im Monat Mai (also außerhalb der eigentlichen Spielzeit!) sollte mit gleicher Taktlosigkeit zu einer Erpressung der fehlenden drei Nibelungenstücke dienen. Einen darauf hinzielenden Brief Richters (dem bereits eine Depesche ähnlichen Inhaltes vorausgegangen war), Direktor Jauner warte auf die Zusage, um seinen-Richters – Urlaub zu bewilligen (!), erwiderte er ohne jeden weiteren Ausdruck seiner Entrüstung, in aller Kürze auf telegraphischem Wege: die gewünschte Zusage hinge von Verhandlungen mit München ab, die Verweigerung des Urlaubes aber würde notwendig zu einem vollständigen Bruch mit der Wiener Direktion führen. Was nun wieder die erwähnten Verhandlungen mit München betraf, so verhielt es sich damit, wie folgt. Eines Tages erstattete Feustel von München aus, wo er als Abgeordneter sich aufhielt, die Anzeige, Hofrat Düfflipp habe die Entdeckung eines alten Kontraktes aus dem Jahr 1865 gemacht, wonach der Meister keineswegs das Recht habe, sein Nibelungenwerk nach Wien oder anderweitig zu verkaufen, da es – Eigentum des Königs wäre! Zum Überfluß war eine Kopie dieses, eigenhändig von Wagner unterzeichneten Schriftstückes als Beleg an das Feustel-Groß'sche Bankgeschäft eingesandt worden. In jener ersten Münchener Periode war, zum Schutz vor dem allgemeinen Neide der Münchener Bevölkerung, im Auftrag des Königs und zur besonderen Befriedigung seiner Beamten, ein aus so und so viel Punkten bestehender Kontrakt ausgearbeitet und wirklich von dem Meister unterzeichnet worden, laut welchem der ihm bewilligte Jahresgehalt, die ermöglichende Bedingung einer sorgenfreien Existenz, als Gegenleistung und Äquivalent für die Vollendung des Nibelungenwerkes (als königliches Eigentum) hingestellt wurde. Wir entsinnen uns auch, daß sich der Meister selbst bei einem der wütendsten Ausbrüche jenes Neides öffentlich darauf berufen hatte: er fühle sich der ihm gespendenten [344] Huld des Monarchen gegenüber keineswegs als bevorzugter ›Günstling‹, sondern als, für eine bei ihm bestellte, ihn auf Jahre hinaus in Anspruch nehmende Arbeit, entsprechend besoldeter Künstler.14 Dieses, wie gesagt, lediglich zu seinem Schutze, unter Zustimmung beider Kontrahenten, des Königs und des Meisters, ausgearbeitete, aber schon damals mit überflüssigen, von beiden Teilen keineswegs ernst genommenen Stipulationen ausgestattete, längst veraltete und den Intentionen nicht mehr entsprechende, durch spätere Übereinkunft stillschweigend aufgehobene Schriftstück jetzt – im unpassendsten Augenblick – mit darauf begründeten Rechtsansprüchen hervorgezogen zu sehen, war für ihn verstimmend genug, und führte denn auch zu nichts Weiterem als zu einer offiziellen Annullierung jenes älteren, jetzt nicht mehr genügenden Vertrages. War es doch nicht seine Schuld, daß die damals geplante Münchener Aufführung nicht hatte stattfinden können; waren doch im übrigen seinerseits alle wesentlichen Punkte desselben erfüllt: das Werk war vollendet, und sein gegenwärtiges Bayreuther Unternehmen seiner vollen Bedeutung nach mit dem damals für München geplanten identisch Unerfüllt hingegen war die unausgesprochene Voraussetzung jenes Vertrages geblieben, wonach er der Gnade des Königs die erste szenische Verwirklichung unter den einzig ermöglichenden außerordentlichen Umständen zu verdanken haben würde! Diese hatte er sich aus seinen eigenen Kräften unter Überwindung von tausend Widerständen ermöglichen, und deshalb der Münchener Hofbühne bisher sogar dessen Aufführung verweigern und untersagen müssen: so sehr betrachtete er das Werk seines Geistes zugleich auch als sein unveräußerliches Eigentum. Wenn er sich entschloß, es überhaupt an andere Bühnen zu vergeben, hatte er dann auch natürlich gegen eine Aufführung in München nichts mehr einzuwenden; und zwar ohne weitere Tantiemen oder sonstige Vergünstigungen; insoweit, und um keinen Schritt weiter, galt es ihm als Eigentum des Königs. Nur war ihm daran gelegen, auch diese Münchener Aufführung, ganz wie die Wiener und Leipziger, im genossenschaftlichen Sinne in den Aufbau seines reformatorischen Gedankens mit hineinzuziehen München, Wien und Leipzig sollten demnach einstweilen die drei Vororte sein, denen außerhalb Bayreuths unter genau festgesetzten Bedingungen das Aufführungsrecht seines Werkes erteilt werden sollte; gegen Zusicherung der Mitwirkung ihrer künstlerischen Kräfte bei künftigen Bühnenfestspielen, ohne die von Wien her beliebten, plötzlich auftauchenden Chikanen und Pressionen Nach Erledigung jener Münchener Mißverständnisse wurden dann auch die Wiener Verhandlungen wieder aufgenommen und, durch Standhartners Vermittelung zu befriedigendem Abschluß gebracht; mit Leipzig dauerten sie noch fort, schienen aber einem günstigen Abschluß entgegenzugehen.

[345] Unter solchen Umständen gelangte am 13. April der zweite Akt des Weihefestspieles in der Dichtung zum Abschluß. Doch mußte er sich die traurig-bittere Frage vorlegen, wann und wie er unter solchen beständigen Ansprüchen und Störungen von außer her wohl die Muße zur Vollendung seines neuen großen Werkes erübrigen werde? Denn, seit erst die Lebensfähigkeit seiner – Jahrzehnte lang als unmöglich verschrieenen – ›Ring‹-Schöpfung über alle böswilligen Zweifel hinaus sich bewährt hatte, was streckte nicht alles die Hand danach aus, um sich dadurch zu bereichern! Eine der betrübendsten Erfahrungen war dabei die eigentümliche Gewinnsucht seiner eigenen, mit großen Opfern übermäßig honorierten Mitarbeiter vom vorigen Jahr Kaum, daß die Herren Brandt, Brückner, Hoffmann und Doepler von einer Abtretung des ›Ringes‹ an ein auswärtiges Theater vernommen hatten, so vermeinten sie – in völliger Verkennung des Charakters ihrer Mitarbeit und der Unzulänglichkeit ihrer Leistungen – sich ein Anrecht auf Tantiemen an diesen auswärtigen Aufführungen zusprechen zu dürfen. Zu diesem Zweck hatten sie eben jenen Advokaten Batz zu ihrem Vertreter gewählt, der dem Meister als dessen eigener Vertrauensmann und Geschäftsbevollmächtigter bis dahin schon wiederholt die größten und beschwerlichsten Unannehmlichkeiten bereitet hatte, ohne daß es ihm möglich gewesen wäre, sich von ihm zu befreien (S. 160)! Auch die Nachrichten aus London lauteten nicht eben erfreulich Zwar hatte Wilhelmj Gelegenheit gehabt, in persönlicher Audienz auf Schloß Osborne die Königin Victoria und die königliche Familie zu den bevorstehenden Aufführungen einzuladen; dagegen nahm alles Geschäftliche des Unternehmens einen recht schiefen und bedrohlichen Gang. Die Garantiesumme von 1500 Pfund hatte selbst bis zum äußersten Termin, des 15. April, nicht erlegt werden können. Statt dessen meldete jener Herr Schlesinger (S. 340) eine Kontrolle des Billettverkaufs sei ihm schon aus dem Grunde nicht möglich, weil sich dieser nicht etwa an einem bestimmten Platz konzentriere, sondern gleichzeitig an zwanzig verschiedenen Orten verkauft würde. Um die Mitte April begaben sich die beiden Bayreuther Gehilfen, Seidl und Fischer, zu den Vorproben nach London, und Hans Richter sollte ihnen bald darauf folgen Einstweilen lauteten die Nachrichten auch über diese Proben, denen (bis zum Eintreffen Richters an Ort und Stelle) August Wilhelmj und der vortreffliche Edward Dannreuther ihre Kräfte widmeten, nicht eben ermutigend. Die dortigen Kontrabässe sollten so schwach in ihrer Klangwirkung sein, daß die Bitte an ihn erging, den ›Tristan‹ ganz aus dem Programm zu entfernen. ›Als ich gestern Seidls Bericht über die ersten 3 Proben erhielt‹, schrieb daher der Meister an Wilhelmj, ›ward mir denn doch wunderlich zu Mut. Um Gotteswillen lassen Sie nur Richter wenigstens für einiges hörbare Blech sorgen! Es koste nun was es wolle: denn diese stummen Trompeter u.s.w. kenne ich, wenn sie sich aufblasen und keinen Ton herausbringen! [346] Ich hoffe, Richter weiß da Rat. Mit den Geigen mögen Sie, Altmeister, eine charmante Not haben! ja, ja, ich sehe die Gentlemen im, »Feuerzauber«! Wie ist Ihnen denn nur dabei, Freund? Auf den, »Tristan« bestehe ich wahrscheinlich nicht; doch sollten Sie suchen, das Vorspiel und den Schlußsatz herauszubringen. Ist das Orchester erst einmal durch das Feuer und Wasser der Nibelungen durch, kommt am Ende auch noch etwas Tristan zustande.‹15 Diese Zeilen sind vom 22. datiert, es mutet wie ein unerklärliches Wunder an, daß drei Tage vorher (19. April) wirklich auch der dritte Akt des ›Parsifal‹ und damit das weihevoll großartige Ganze in der ersten Bleistiftniederschrift der Dichtung vollendet war. So ausgeprägt lebte es in seinem Geiste, so sehr war bereits in der Skizze das Werk in seiner reichen Fälle enthalten gewesen. Und dies in einer Zeit, von welcher es in demselben, eben zitierten Briefe heißt: ›bei mir häuft sich alles, was mich peinigen und aufregen kann!‹ – Und hier verdient der ausgezeichnete Standhartner die ihm gebührende Erwähnung, der es inmitten seiner eigenen übermäßigen Inanspruchnahme als verantwortlicher Primararzt eines der größten Krankenhäuser der österreichischen Kaiserstadt, durch beständige briefliche und telegraphische Verbindung mit dem hohen Freunde in unermüdlicher Tätigkeit dahin gebracht hatte, daß – kurz vor der Abreise nach London – die Wiener Verhandlungen wegen Überlassung des Nibelungenringes ohne irgend einen erheblichen Einwand seitens des Fürsten Hohenlohe (als oberster Instanz) noch auch seitens der Direktion im Sinne des Meisters ihre allendliche Regelung gefunden.

Am Montag, 30. April, um 6 Uhr in der Frühe, wurde nach vorausgegangenem Abschied von Haus und Kindern, die beunruhigende Reise mit einiger Bangigkeit wegen des Gelingens angetreten. Um 1 Uhr mittags Eintreffen in Würzburg, wo Alexander Ritter und Frau es sich nicht nehmen ließen, die Reisenden bis Aschaffenburg zu begleiten. In Mainz Begrüßung durch die alte Freundin Mathilde Maier; in Köln war es der brave Lesimple, dessen Dienstfertigkeit dem Meister wenigstens zu einem guten Schlafcoupé und damit zu einer erträglichen Nachtruhe verhalf. In der Frühe des 1. Mai Ankunft in Brüssel: sodann über Ostende in höchst unerquicklicher Dampfschiffahrt über den Kanal, mit Seekrankheit und sonstigem Zubehör; mittags in Dover. Bis hierher waren ihm die Arrangeure des Festivals, die Herren Hodge und Essex zu seiner Begrüßung und festlichen Einbringung entgegengereist, [347] um den letzten Teil der Fahrt bis zum Charing-Croß-Bahnhof in London mit ihm gemeinsam zu machen. Ohne daß eine weitere Empfangsfeierlichkeit vorbereitet gewesen wäre16, hatten sich doch, außer Wilhelmj, Dannreuther, Seidl, Fischer, Hans Richter, Niemann und Hill, fast sämtliche im Orchester beschäftigte Musiker und eine große Anzahl in London lebender Deutschen zu seiner Begrüßung eingefunden. Als der Zug anhielt und er den Wagen verließ, donnerten weithin schallende ›Cheers!‹ und ›Hip, Hip, Hurrah!‹ durch die riesige Bahnhofshalle. Wilhelmj sprach ein paar kurze, herzliche Worte des Willkommens: sichtlich gerührt, umarmte der Meister den jungen Freund. Die enthusiastischen Begrüßungsrufe dauerten fort, bis er mit seiner Gemahlin, in Begleitung Wilhelmjs und Dannreuthers, in den bereitgehaltenen Wagen stieg; in dem sehr ruhigen und behaglichen Hause des letzteren – Orme Square 12 Bayswater – fand er für die Dauer seines Londoner Verweilens gastliche Aufnahme und zunächst Erholung von aller Reisemüdigkeit.

Die Besichtigung der Albert-Hall mit ihren riesigen Dimensionen machte am anderen Tage viel Vergnügen: bereits wohnte er auch inkognito einer Bläserprobe bei, indem er es sich vorbehielt, sich bei der ersten allgemeinen Probe dem vollständigen Orchester vorzustellen. Um 6 Uhr abends erschien eine aus 26 Personen bestehende Deputation sämtlicher deutschen Vereine Londons, des Athenäums, des Vereins für Kunst und Wissenschaft, des Liederkranzes, des Turnvereins, des Gesangvereins u.a. zur Überreichung einer Glückwunschadresse. Nach ihrer Verlesung dankte er mit freudiger Rührung allen auf das herzlichste: er habe die Reise hierher unternommen, um denjenigen, welche den Bayreuther Festspielen nicht beiwohnen konnten, Gelegenheit zu bieten, seine Werke, vornehmlich den ›Ring des Nibelungen‹, wenn auch nur in fragmentarischer Wiedergabe, näher kennen zu lernen und sie so in seine Idee einzuführen. Auch erwähnte er mit Nachdruck, daß die englische Übersetzung seines Nibelungenwerkes eine sehr korrekte sei; nach seinem Dafürhalten sei die englische Sprache die einzige, welche in der Übertragung mit der Musik in Einklang stehen werde. Nach freundlicher Unterhaltung mit den einzelnen Gliedern der Deputation verabschiedete sich dieselbe in gehobener Stimmung. Am gleichen Tage war auch Frau Materna eingetroffen und am Bahnhof von Hans Richter und zahlreichen Verehrern empfangen worden. Bei dem Meister dauerten die Besuchempfänge noch bis um Abend, so daß ihn der folgende Morgen bereits etwas ermüdet antraf. [348] Glücklicherweise war es ein Ruhetag ohne Probe. Im Betreff seiner Sache war ihm der üble Geschäftsstand nicht entgangen: Hodge und Essex er wiesen sich als recht gutartige Menschen, aber als Anfänger ohne jede Erfahrung; dazu fand er einen beträchtlichen Teil der sog. ›deutschen‹ Gesellschaft Londons, nämlich ganz Israel (diesmal mit Herrn Joachim aus Berlin an der Spitze), gegen sich wirkend. Dies Verhältnis hatte sich in den zweiundzwanzig Jahren seit seinem letzten Londoner Aufenthalt nicht verändert.

Unbeschreiblich war der Sturm bei seinem Erscheinen in der ersten allgemeinen Probe am 4. April. Der Begrüßungsjubel endete erst, nachdem er wiederholt abgewinkt hatte, worauf unter Hans Richters Leitung die Probe begann.17 Nach allen vorausgegangenen ungünstigen Nachrichten war er von dem Orchesterklange im angenehmsten Sinne überrascht; schon im Verlauf der Probe ließ er daher den Musikern seine volle uneingeschränkte Zufriedenheit kundgeben; nach der Probe aber erschien er auf der Orchesterestrade und umarmte den Dirigenten unter erneuten Jubelbezeigungen aller Mitwirkenden, die in ihrem schnell liebgewonnenen Führer sich selbst geehrt fühlten. So fest hatte die unwiderstehliche Gewalt der Tonsprache das unsichtbare Band von Herz zu Herzen geknüpft, daß die ganze Schar englischer Kunstgenossen sich, nach den mehrstündigen Anstrengungen, nicht genugtun konnte, dem nun zum ersten Male persönlich ihnen gegenüberstehenden Meister ihre dankbaren Sympathieen kundzugeben. Auch dies Verhältnis war dasselbe, wie vor zwanzig Jahren, geblieben. Nachmittags gab es im Hause Klavierproben mit den einzelnen Sängern: dann empfing er den berühmten englischen Goethebiographen Sir George Henry Lewes, woran sich abends noch ein Diner bei Herrn Schlesinger anschloß, zu welchem außer Wilhelmj und Richter der Dichter Browning, der Maler R. Lehmann18 u.a. geladen waren. Die Nachmittagsproben mit den Sängern wiederholten sich am folgenden Tage; abends reihte sich daran der Empfang einiger Gäste – sämtlich, wie sich zeigte, Teilnehmer an den Bayreuther Aufführungen. Gleichwohl machten ihn die vielen Besuche bereits etwas unmutig. In größerer Stille verlief der darauf folgende Sonntag: er brachte von gesellschaftlichen Beziehungen hauptsächlich die nicht unerfreuliche Bekanntschaft der englischen Dichterin George Elliot, abends aber ein Diner bei seinen alten Freunden Sainton und Lüders, mit vielen guten [349] Erinnerungen an so manches fröhliche Zusammensein in fern entlegenen, nun wieder auflebenden alten Zeiten.19

Desto anstrengender war der folgende Tag (Montag, 7. April), da es nicht bloß abends das erste große Konzert, sondern auch am Vormittag eine höchst ermüdende Probe gab: ermüdend nicht so sehr durch die Sache selbst (indem der Meister bei dieser Gelegen heit teilweise selbst den Dirigentenstab ergriff), als durch die leider unvermeidlich scheinenden Nachlässigkeiten, z.B. in den Orchesterstimmen. Die sorgfältig von ihm ausgewählten Programme der sechs Konzerte, deren Ausarbeitung ihm in Bayreuth so manchen Abend genommen, boten in ihrem jedesmaligen ersten Teil im großen und ganzen ein fortlaufendes Bild der Entwickelung des Musikers Wagner vom ›Rienzi‹ bis zum ›Tristan‹ und den ›Meistersingern‹; im zweiten Teil vom ›Rheingold‹ bis zur ›Götterdämmerung‹ ausgewählte Abschnitte des Nibelungenwerkes. Das Konzert selbst fand die kolossale Halle trotz der hoben Eintrittspreise fast vollständig gefüllt; eine so glänzende Zuhörerschaft hatte der weite und prächtige Raum noch nie in sich versammelt gesehen. Das deutsche Element war stark vertreten20, aber auch die englisch-nationale Bevölkerung der Weltstadt hatte ein beträchtliches Kontingent gestellt; außer den zahlreichen ›Celebritäten‹ auf dem Gebiete der Musik, Literatur und Kunst war der ganze in London anwesende Hofstaat, der Herzog von Edinburg, Prinzessin Beatrice, Prinz Leopold, Prinzessin Luise, die Herzogin von Teck, Marquise von Lorne und andere Mitglieder der königlichen Familie dazu versammelt. Näher rückte die Minute des Beginnes, der Zeiger hatte die achte Stunde schon überschritten, als das Orchester anfing sich zu beleben und man die Geiger mit den Bogen auf die Pulte klopfen hörte: die landesübliche Sitte der Begrüßung des Dirigenten. Richard Wagner war erschienen, er hatte Frau Materna den Arm geboten, ihm folgten die übrigen mitwirkenden Künstler. Das Publikum schien nur auf diesen Moment gewartet zu haben; es brach in einen unbeschreiblichen Jubel aus, der, von Sekunde zu Sekunde stärker anschwellend, seinen Höhepunkt erreichte, als der Meister, um den ersten Teil des Konzertes zu leiten, in eigener Person an das Dirigentenpult trat. Die weite Halle erzitterte förmlich unter den donnernden Rufen; wieder und wieder verbeugte sich der Gefeierte, wieder und wieder legte er zum Zeichen seiner Rührung und Dankbarkeit die Hand aufs Herz: die Hurrahs wollten kein Ende nehmen. [350] Endlich legte sich der Sturm, glätteten sich die erregten Wogen; die Menge, welche sich größtenteils von ihren Sitzen erhoben, nahm wieder ihre Plätze ein, und die feierlich prächtigen Klänge des Kaisermarsches durchdrangen den Raum. Es folgten Bruchstücke aus ›Rienzi‹ Dann erhob sich Frau Materna, von rauschendem Bravo begrüßt; die Einleitung zum zweiten Akte des ›Tannhäuser‹ ertönte und bei den ersten Worten: ›Dich, teure Halle, grüß ich wieder‹ fühlte man, wie es das Publikum elektrisch durchzuckte: das war die Brünnhilde, die sich in dem kleinen Bayreuth einen Weltruf ersungen hatte! Donnernder Beifall durchbrauste am Schlusse das Haus, wurde aber sofort unterdrückt, da der Meister keine Pause machte, sondern sogleich die Szene zwischen Tannhäuser und Elisabeth folgen ließ. Der Einzug der Gäste auf der Wartburg beschloß den ersten Teil des Konzertes. Wieder und wieder mußte der Konzertgeber unter stürmischem Jubel hervortreten. Der zweite Teil der Aufführung bestand aus umfangreichen Fragmenten des ›Rheingold‹, unter der Leitung Hans Richters gesungen von den Damen Frau Materna, Sadler-Grün, Waibel und Exter und den Sängern Unger, Hill, Chandon und Schlosser; den lebhaftesten Applaus erntete Hill als Alberich. Der Beifallssturm kannte keine Grenzen. Dagegen erregte die englische Unsitte, mit welcher zahlreiche Konzertbesucher noch während des Schlußvortrages in rücksichtsloser Weise den Saal verließen, vielfachen und gerechten Anstoß und ward in deutschen Zeitungen vom Schlage der Wiener ›Neuen freien Presse‹ als tatsächlicher Beleg eines offenen ›Mißerfolges‹ gedeutet!! Der Meister selbst hatte trotz aller glänzenden Aufnahme doch keine freudige Empfindung von dem Ganzen: er fand – mit wenig Ausnahmen – die Sänger matt; auch konnten ihm die üblen akustischen Verhältnisse des Raumes nicht entgehen, der an seinen vornehmsten Plätzen ein mehrfaches Echo aufwies, das jede eigentliche Klangwirkung unmöglich machte. Wie anders war es in seinem Bayreuther Hause! Er war müde, und ach! was ihm ferner noch bevorstand, war nicht dazu angetan, ihn von dieser Müdigkeit zu erholen.

Da sämtliche sechs Konzerte sich auf den kurzen Zeitraum von vierzehn Tagen zusammendrängten, fanden dieselben in prompter Aufeinanderfolge je am Montag, Mittwoch und Sonnabend statt; dazwischen die Proben. So nahm gleich am nächsten (Dienstag) Vormittag eine mehrstündige Probe seine Kräfte in Anspruch, daran schloß sich mit Wilhelmj und Dannreuthers ein Frühstück im Kensington-Museum, bei welchem er trotz allem eine heitere Laune bewahrte. Selbst einer Zerstreuung durch den Besuch eines der englischen Theaters entzog er sich nicht, und zollte in ›Rip van Winkle‹ der vollendeten Leistung eines amerikanischen Schauspielers, Mr. Jephersen, seine volle Bewunderung. Dem zweiten Festival-Abend, am Mittwoch, 9. Mai, ging vormittags wiederum eine anstrengende Probe voraus. Das Programm umfaßte den ganzen ersten Aufzug sowie das Duett aus dem zweiten Akte des [351] ›Fliegenden Holländers‹, und den ersten Akt der ›Walküre‹. Der gleiche enthusiastische Empfang begrüßte den Meister; stürmischer Applaus und zahlreiche Hervorrufe ehrten insbesondere Frau Materna als Sieglinde. An einer ihm zu Ehren nach dem Konzert durch Lord Lindsay veranstalteten, glänzenden Gesellschaft von 400 Personen in Grosvenor-Ga lery konnte er nicht teilnehmen und mußte es seiner Gemahlin überlassen, zugleich auch ihn zu repräsentieren. Dagegen stellte es sich am folgenden Tage unleugbar heraus, daß in bezug auf die finanzielle Basis des Unternehmens die Dinge schlimmer standen, als man es ahnen konnte: die Herren Hodge und Essex waren dicht am Bankerott. Die ins Schrankenlose gesteigerten Kosten des Unternehmens21 trafen mit besonderen ungünstigen Umständen zusammen, die ein bedrohliches Mißverhältnis zwischen ihnen und den durch die Konzerte tatsächlich erzielten Einnahmen entstehen ließen. Es war den Arrangeuren des Festivals unbekannt geblieben, daß die – bei äußerster Besetzung 10000 Personen fassende – Albert-Hall 3000 Plätze in 150 Logen an ihre Begründer abgeben mußte; da weitaus der größte Teil dieser 3000 Platzinhaber ihre Plätze zu einem billigeren Preise verkaufte, so entstand der Unternehmung dadurch eine schlimme Konkurrenz.22 Nur durch eine ähnliche Annahme läßt es sich jedenfalls erklären, daß nach den uns vorliegenden Notizen das zweite Konzert womöglich noch zahlreicher als das erste besucht gewesen sein und doch nur einen Bruttoertrag von 600 Pfund ergeben haben soll! Es wird hier vieles wohl für immer unklar bleiben. ›Ich werde Ihnen‹, heißt es in einem der Briefe an Feustel, ›seinerzeit alles genau mündlich berichten, in welche Verwirrung unerhörter Leichtsinn, Unkenntnis, sowie andererseits phantastische, durch gar keine Erfahrung gestützte Annahmen mich hier gebracht haben.‹

Inzwischen nahmen Proben und Konzerte ihren regelmäßigen Fortgang. Das dritte Konzert am Sonnabend, 12. Mai, war nach englischer Sitte auf den Nachmittag 3 Uhr angesetzt: die prächtige Albert-Hall bot bei hereinfallendem Tageslicht einen herrlichen Anblick. Der weite Raum war in all seinen Teilen von Zuhörern vollständig erfüllt. Gegenüber der königlichen Loge saß der Prinz von Wales mit seinem Gefolge, und auch die Loge des [352] Herzogs von Edinburgh (des zweiten Sohnes der Königin) war mit festlich gekleideten Herrschaften vollständig besetzt. Die Königin hatte ihr Erscheinen von Windsor aus bestimmt zugesagt, war aber im letzten Augenblick zu kommen verhindert. Dagegen ließ der Prinz von Wales während einer Pause den Meister zu sich einladen, um ihm seine Glückwünsche darzubringen. Er hob in der Unterhaltung hervor, daß er ihm vor 20 Jahren in den philharmonischen Konzerten zum ersten Male seine Sympathieen zum Ausdruck gebracht, und Wagner wiederholte ihm ein Wort der Königin von damals, das ihm in Erinnerung geblieben: daß nämlich alle ›italienischen‹ Sänger in London Deutsche seien und es demzufolge sehr gut möglich sein würde, seine Werke hier zu geben. Von ungeheurer Wirkung war in diesem Konzert die Tannhäuser-Ouvertüre – mit 50 Violinisten unter der Führung eines August Wilhelmj! –, nicht minder der Walkürenritt: der Enthusiasmus nach Anhörung dieses Stückes war so groß, daß Wagner (wiewohl allen Wiederholungen abhold!) das Tongemälde auf allgemeines Verlangen noch einmal spielen lassen mußte. Daran schloß sich die Todesverkündigung aus dem zweiten Akt der ›Walküre‹ mit Frau Materna und die große Schlußszene des dritten Aktes mit dem Feuerzauber. Nach dem Verklingen des letzten Tones nahm das Applaudieren, Hurrahrufen, Hüte- und Tücherschwenken kein Ende, bis der Meister in des Wortes vollster Bedeutung vor den sich in die Länge ziehenden begeisterten Kundgebungen die Flucht ergriff. Gewiß vermochte ihn der bloße noch so enthusiastische Beifall des Londoner Publikums nicht für das große Opfer des Konzertunternehmens zu entschädigen, womit er sich wiederum, ganz wie bei seinen ersten Londoner Konzerten, die Ruhe seines Schaffens empfindlich verkürzt und beeinträchtigt hatte. Er war schon damals, und jetzt erst recht, nicht in der Lage, geräuschvollen äußeren Konzerterfolgen nachzustreben: er hatte die Beschwerden der Reise und der persönlichen Leitung eines großen Teiles der Programme der Förderung seines Lebenswerkes zuliebe auf sich genommen. Schon die erste Konzertwoche hatte aber deut lich darüber belehrt, daß von der erhofften und kontraktlich ausbedungenen Reineinnahme zur Deckung des Bayreuther Defizits nicht die Rede sein könne. Dem peinvollen Stachel dieser Enttäuschung durch das Unzureichende des materiellen Ertrages vermochte denn auch alle Herzlichkeit und Lebendigkeit in seinen Berührungen mit dem englischen Publikum während der Konzerte und außerhalb derselben die Spitze nicht abzubrechen.

Bereits am nächstfolgenden Ruhetag, Sonntag, den 13. Mai, wandte er sich daher in einem eingehenden Schreiben an Feustel, um diesen vollends über den Stand der Dinge aufzuklären.23 Nachdem er den Patronen seinen Eifer, durch eigene sehr beschwerliche Bemühungen eine Belästigung zu ersparen, [353] durch die Tat bezeugt, sei es nunmehr Zeit, einen anderen Weg sofort zu beschreiten und vom Verwaltungsrate der Bühnenfestspiele eine Aufforderung zur Subskription von Beiträgen zur Deckung des Defizits ausgehen zu lassen. Er autorisierte ihn, diese Subskription mit einer Zeichnung von 3000 Mark seinerseits zu eröffnen, welcher dann Feustel selbst, als groß mütiger Privatier, ebenfalls eine Zeichnung beifügen dürfte. Diese Zirkulare wünschte er dann – ihrer großen Ohnmächtigkeit wegen – nicht den Wagner-Vereinen als solchen, sondern nur wenigen Privaten anempfohlen zu wissen. Eine der Listen sei nach Berlin (Davidson, Kuchzynski, Frau v. Schleinitz), eine zweite für Wien (Dr. Standhartner zur Beratung mit Gräfin Dönhoff) zu bestimmen; eine dritte für München (Baligand, mit Aufforderung bis an den König zu gehen), eine vierte für London (Wagner-Verein durch Dannreuther); eine fünfte und sechste vielleicht an Heckel und Senator Petersen für Hamburg, am Ende wohl auch nach Dresden (Hofrat Pusinelli), vor allem aber auch an Graf Magnis in Schlesien (S. 315) gelangen zu lassen. ›Sollte auch dieser Weg fehlschlagen, so bin ich entschlossen, mit Ullmann für Amerika abzuschließen, dann aber auch mein Bayreuther Grundstück zum Verkauf zu geben, mit meiner ganzen Familie über das Meer zu gehen und nie wieder nach Deutschland zurückzukehren.‹ Dieser letztere Gedanke, einerseits durch einen Antrag des eben genannten Impresario, andererseits durch den bittersten Ekel vor ferneren Erfahrungen der Art, wie er sie in den letzten Jahren in seinem Vaterlande gemacht, in ihm wachgerufen, war buchstäblich der einzige, der ihm in dem unerhörten Zusammenbruch eine gewisse siegreiche Freudigkeit bewahrte: er kehrte in den Unterhaltungen mit den Seinigen als ultima ratio wieder und erhielt ihm die Fähigkeit, im Verkehr heiter und freundlich zu sein. So z.B. gleich an demselben Sonntagabend bei einem deutschen Diner bei Herrn v. Ernsthausen, bei welchem er u.a. die Bekanntschaft des berühmten ›Troja-Ausgräbers‹ Schliemann, und die noch anziehendere des Dr. Werner Siemens machte.

Dem vierten Konzert (Montag, 14. Mai) ging wiederum vormittags die übliche Probe von 10–1 Uhr voraus. Es begann mit dem Huldigungsmarsch und brachte sodann Bruchstücke aus ›Lohengrin‹ und ›Siegfried‹. Mit diesem Konzert begannen die von jetzt ab andauernden Unannehmlichkeiten mit Unger, der seine Diät nicht zu regeln verstand und daher in den Nachmittagsstunden beständig an einem belegten Gaumen litt. Das Haus war ziemlich befriedigend besetzt, ein guter Teil der königlichen Familie mitanwesend; wiederum glänzender Empfang des Meisters und begeisterte Aufnahme der einzelnen Stücke. Allein schon in der Brautnachtszene aus ›Lohengrin‹ war Unger ›heiser‹ und erklärte, Siegfrieds Schmiedelieder nicht singen zu können. Man entschloß sich zu einer Wiederholung von Wotans Abschied, aber – Herr Hill war inzwischen nach Hause gegangen und auf keine Weise mehr zu erreichen! [354] Endlich meldete Herr Hodge als abgesandter Parlamentär dem wartenden Publikum, daß anstatt der Schmiedeszene der Walkürenritt wiederholt und die Abschiedsszene zwischen Siegfried und Brünnhilde gegeben würde. Bei letzterer war dann allerdings einzig Frau Materna zu hören; Unger brachte keinen vernehmbaren Ton her aus. Dies war nun das äußerste; denn jetzt konnte nicht einmal die festgesetzte Folge der musikalischen Darbietungen mehr eingehalten werden. Von seiten des Hofes wie des Publikums liefen am anderen Tage zahlreiche Bitten ein, die – in schön ausgestattetembook deutsch und englisch gedruckt vorliegenden – Programme nicht zu verändern; allein wie hätten sie durchgeführt werden können? Im Gegenteil kam noch um 10 Uhr abends die Meldung des Herrn Hill, auch er sei heiser geworden und noch spät in der Nacht mußte sich der Meister zu Hans Richter aufmachen, um mit diesem noch einmal die Programmfrage zu beraten. Von einer strengen Beibehaltung derselben konnte aber nicht mehr die Rede sein, sobald die dazu verpflichteten Kräfte versagten. Das fünfte Konzert (Mittwoch, 16. Mai) brachte Bruchstücke aus den ›Meistersingern‹ und der ›Götterdämmerung‹, sowohl das Meistersingervorspiel wie der eingeschaltete Walkürenritt waren von großer Wirkung, vor allem aber auch wieder Frau Materna in dem Bruchstück der ›Götterdämmerung‹. Am Donnerstag wurde er auf besondere Einladung in Schloß Windsor von der Königin und dem Prinzen Leopold empfangen; letzterer erinnerte sich in der Unterhaltung des herrlichen großen Hundes (Ruß), den er in Luzern gesehen, und erfuhr, daß dieser nicht mehr am Leben sei Abends hatte er in der gastlichen Dannreutherschen Häuslichkeit das freundliche Lewessche Paar, sowie noch einige andere, durch ihn selbst und den Hausherrn eingeladene Personen zu Tisch24 und las ihnen, von 8 bis 10 Uhr abends, zum ersten Male die ›Parsifal‹-Dichtung vollständig vor.25 Nach der Probe am Freitag gab es eine lange Konferenz mit den Herren Schlesinger, Hodge und Essex, dem Sekretär der Albert-Hall und anderen Beteiligten wegen drei noch zu gebender Extrakonzerte. Er glaubte, die Herren von der Dringlichkeit dieses Vorschlages überzeugt zu haben, und war außer sich, als er erfuhr, daß nicht drei, sondern bloß zwei Konzerte möglich seien, und diese erst in zehn Tagen, anstatt im sofortigen Anschluß – wodurch sich denn sein Londoner Aufenthalt auch noch um neue Wochen verlängern sollte, während sein Gesundheitszustand ihn dringend zu einer Übersiedelung nach Ems veranlaßte. ›Ob ich dort mich einigermaßen erhole‹, hatte er an Feustel geschrieben, ›wird zum großen Teil wohl von beruhigenden Nachrichten über den Angriff und die Ausführung der »Subskription« abhängen. Es wäre [355] wohl zu erwünschen, daß irgend etwas Tröstliches von dieser Seite her mir einmal widerfahre!‹26

Das sechste und vorläufig – dem Plane nach – letzte Konzert (am Sonnabend, den 19. Mai, wiederum von 3 Uhr nachmittags ab) fiel in jeder Beziehung glänzend aus. Es wurde mit dem Centennialmarsch eröffnet und brachte Bruchstücke aus ›Tristan‹, im zweiten Teil aus der ›Götterdämmerung‹. Die Einnahme betrug diesmal 1600 Pfund, und das Publikum zeigte sich wiederum in einer, ganz unenglischen, Weise erregt, ein Zeichen, wie tief der Eindruck Wurzel geschlagen hatte. Er mußte sich eine dankende Anrede durch einen Vertreter des Orchesters und eine öffentliche Lorbeerkrönung gefallen lassen, die von einem nicht enden wollenden Jubel begleitet war. Er nahm sodann mit den trefflichen Dannreuthers in einem Restaurant das Diner und war nur darauf bedacht, sich abends früh zur Ruhe zu begeben, um die verbrauchten Kräfte einigermaßen wieder einzubringen. Bis dahin hatte er immer noch verhofft, wenigstens seine, durch Feustel bezahlten Vorschüsse an die Sänger herauszubekommen. Doch war dies immer noch ungewiß und er hatte sie nun voraussichtlich aus seiner eigenen Tasche zu bezahlen. Zu seinem 64. Geburtstage, am Dienstag, den 22. Mai, schenkte ihm seine Gemahlin die von ihm geplante und dann ihrer Kostspieligkeit wegen aufgegebene Erinnerungsmedaille an die Festspiele von 1876, zu welcher Semper die Zeichnung geliefert. Der Avers zeigte sein Porträt mit der Umschrift: ›Richard Wagner dankt seinen Festspielgenossen‹, der Revers innerhalb des Nibelungenringes das Schwert Nothung mit dem zersplitterten Wotanspeer sich durchkreuzend. ›Als Cosima mir die Medaille zuerst vor Augen führte‹, schrieb er darüber an Semper, ›geriet ich in einen völlig traumhaften Zustand, das mystische Symbol mir deutend, welches Du mit so ergreifender Einfachheit und Präzision dem Revers vorzuzeichnen gewußt hast‹. Sogleich am Abend des Festtages hatte er Gelegenheit, die Gedenkmünze ihrer Bestimmung gemäß an einige seiner hervorragendsten Künstler persönlich zu verteilen. Der ›deutsche Verein‹ hatte ihn zu einer schönen geselligen Feier eingeladen, die er ihm zu Ehren durch ein Festbankett in dem großen Saale des Cannon Street-Hotels beging. An 500, der Kunst und Wissenschaft angehörige Personen nahmen daran Teil; auf der Gallerie des Saales befand sich ein Kranz von Damen, darunter die Gemahlin des Meisters und Frau Materna. Eine freudig erregte Stimmung herrschte inmitten des Kreises, der sich hier um den deutschen Meister scharte; Chorgesänge der deutschen Gesangvereine wechselten mit den Vorträgen des Orchesters und die Begeisterung für den großen Gast in ihrer Mitte gelangte in ernsten und heiteren Trinksprüchen zu beredtem Ausdruck. Im Anschluß an die Festrede dankte der Gefeierte [356] für den überraschend freundlichen Empfang und die wohlwollende Aufnahme, die ihm und seinen Werken zuteil geworden. Nach so manchem in Abgeschlossenheit und völliger Zurückgezogenheit verbrachten Jahre, und so wenig an öffentliche Feste gewohnt, freue er sich herzlichst der ihm in England erwiesenen Sympathieen: er habe es sich nicht träumen lassen, in welchem Grade sein Werk hier schon im voraus auf die Gemüter gewirkt habe. An einen Ausspruch Sempers bei ihrem kürzlich in Wien erfolgten Wiedersehen (S. 171) anknüpfend, mit welchem dieser seine Freude darüber zum Ausdruck brachte, verglich er Augenblicke und Jahre; ›solche Augenblicke‹, sagte er, ›ließen ihn Jahre vergessen‹ Und wie er es bei Anlässen solcher Art nie unterließ, die ihm entgegengebrachten Sympathieen von seiner Person ab auf die durch ihn vertretene Sache zu lenken und die Aussaat seiner künstlerischen Idee in empfängliche Geister und Herzen zu streuen, so nahm er auch hier im Verlauf seiner Dankesworte Anlaß zu einer lebendig ergreifenden Darlegung seiner Kunstziele. Minutenlanger Beifall und jubelnde Cheers folgten seiner Ansprache; nicht wenigen aus der Zahl der Anwesenden trat aus seinen schlichten Worten zum ersten Male hell und klar entgegen, was den Ernst und die geschichtliche Bedeutung des hier im heiteren Kreise gefeierten deutschen Künstlers ausmache. Unter den vielfachen Trinksprüchen und Tischreden zeugte von einer tieferen menschlichen Empfindung derjenige, der sich dessen entsann, daß der nun 64 jährige Meister in der Ferne einen Sohn habe und die Hoffnung für das von ihm nicht mehr zu Verwirklichende auf dessen zukünftige Entwickelung setze. Es war der erste auf Siegfried Wagner ausgebrachte öffentliche Toast: der Meister nahm ihn mit besonderer Rührung entgegen. In mancher Hinsicht bildete diese freundliche Festfeier den Höhepunkt der geselligen Beziehungen, die der Londoner Verkehr mit sich gebracht hatte, und hinterließ bei ihren zahlreichen Teilnehmern eine bleibende Erinnerung an seinen zweiten persönlichen Aufenthalt in der Themsestadt.27 Sehr ermüdet durch die, noch so wohlgelungene Feier, hielt er sich am folgenden Tage von aller Gesellschaft fern, konnte aber doch ein ihm von Dr. Siemens gegebenes kleines Diner nicht vermeiden. Unangenehme Briefe aus Leipzig veranlaßten ihn, alle bisherigen Verhandlungen mit der dortigen Direktion abzubrechen. Dafür blieb ihm nun aber Unger zu versorgen, der im Falle einer Einigung mitDr. Förster dort engagiert werden sollte, und dessen Erhaltung28 ihm einstweilen schon recht kostspielig und in ihren Ergebnissen wenig erfreulich gewesen war. Am Donnerstag, den 24, hatte er notgedrungen den Photographen [357] Elliot & Fry eine Sitzung zu einer Anzahl von Aufnahmen zu widmen und abends den Empfang einiger Londoner Freunde in seinem Hause; auch erregte die plötzliche Erkrankung Wilhelmjs an einer bösartigen Unterleibsentzündung in hohem Grade seine Besorgnis. Ein erneutes Whaitebait-Din ner in Greenwich, dessen lukullische Genüsse ihm von seinem ersten Londoner Aufenthalt im Gedächtnis geblieben29, von dem er seiner Frau erzählt und das er nun in ihrer Gesellschaft einnahm, fällt in diese Zwischenzeit: die Fahrt mit dem Dampfer hin und zurück war bei grauem milden Wetter sehr geglückt und die ungeheuere Weltstadt in ihrem dichten Nebelschleier machte bei der Heimkehr einen großartigen Eindruck. ›Der Traum Alberichs‹, sagte er, ›sei hier erfüllt. Nibelheim, Weltherrschaft, Arbeit, Tätigkeit, überall der Druck von Dampf und Nebel!‹ An die photographische Sitzung schloß sich dann einige Tage später noch eine solche für den, eben damals im Zenit seines Ruhmes befindlichen Maler Hubert Herkomer; abends zuweilen auch ein Besuch der italienischen Oper, des ›Don Giovanni‹ und sogar des ›Tannhäuser‹ in italienischer Sprache (!), mit wundervollem Orchester unter einem leider sehr wenig hervorragenden Dirigenten; ferner Besuche des Towers, des Aquariums, wo gelegentlich ein Frühstück eingenommen wurde, und mannigfacher Verkehr, Besuche und Gegenbesuche, u.a. bei dem vortrefflichen und liebenswürdigen Lewesschen Paar, in dessen Hause er auch des Prärafaeliten Burne Jones interessante und angenehme Bekanntschaft machte.

Alles dies vermochte dennoch nicht den Druck von ihm zu nehmen, der durch das völlige Fehlschlagen des Londoner Projektes auf ihm lastete. Noch am 27. Mai, am Vorabend des siebenten und vorletzten Konzertes, faßte er alles darauf bezüglich Nötige und Wissenswerte in einem Briefe an Feustel zusammen. ›Wie mir nun einmal Schreck auf Schreck bestimmt zu sein scheint, lese ich heute in Ihrem – sonst mir so höchst dankenswert dünkenden – Schreiben an Dannreuther die Ziffer unseres Defizits mit 160000 Mark angegeben; noch bei unserer Besprechung der möglichen Londoner Einnahmen gaben Sie das Bedürfnis zur Deckung des Defizits auf 5000 Pfund an; ich wußte zuletzt nie von etwas anderem als »etwas« über 100000 Mark. Ist wirklich währenddem das Defizit wiederum um 50–60000 Mark angeschwollen, so muß ich bezeugen, daß in dieser steten Dunkelheit über meine Verpflichtungen mir aller und jeder Mut sinkt, und ich einfach mich der Verzweiflung zu überlassen vorziehe.30 Einige Hoffnung für das Glücken der zuletzt proponierten Subskription ziehe ich jedoch daraus, daß ich immer deutlicher ersehe, wie meine tiefe Entmutigung bei der gänzlichen Erfolglosigkeit meiner Aussprache [358] an die Patrone vom Dezember v. J. keinen Grund hatte.31 Herrn Dannreuther legte ich das Exemplar jener Aussprache, welche Sie mir zuletzt mit übersandten, um dadurch auf die gleiche Erfolglosigkeit des neuesten Versuches hinzudeuten, vor, und erfuhr zu meinem Erstaunen, daß ihm von dieser Aufforderung nicht das mindeste bekannt geworden war: da wir dasselbe von mehreren anderen Seiten ebenfalls erfahren haben, so müssen wir den rätselhaften Umstand, daß jene Aussprache – außer von Fr. Plüddemann in Kolberg32 – aber auch gar keine Beachtung gefunden hat, uns wohl aus einem seltsamen Mißgeschick, welches die Versendung getroffen, erklären zu dürfen glauben.‹ Inzwischen war es höchste Zeit zur Bezahlung der mitwirkenden Sänger geworden. Da hierfür die Konzerteinnahmen nicht ausreichten, und die Londoner deutsche Bank die betreffenden Summen nicht ohne Einwilligung Feustels auszahlte, hatte er sich nochmals telegraphisch und brieflich an ihn zu wenden. ›Kommt keine weitere Hilfe‹, heißt es in diesem Schreiben, ›so bin ich gesonnen, bis auf das letzte Stück alles daranzugeben, was ich unter irgend einem Titel mein nenne. Dagegen verlange ich keine Beeinträchtigung meines Willens: ich brauche das Londoner Geld für London, um hier nicht ebenfalls als Bankerotteur dazustehen.‹33

Das erste der beiden außerkontraktmäßigen Konzerte – am Montag, 28. Mai – war wieder eine Matinee und begann um 3 Uhr nachmittags, nachdem die vorhergehende Probe bis 12 Uhr gedauert hatte. Wilhelmj war wegen seiner Krankheit nicht dazu anwesend. Es wurde durch den Kaisermarsch eingeleitet und brachte unter rauschendem Beifall des Publikums Fragmente aus den ›Meistersingern‹ (Hans Sachsens Fliedermonolog und Schusterlied), ›Siegfried‹, ›Rheingold‹ und ›Walküre‹. Dem achten und letzten Konzert (Dienstag, 29. Mai) ging abermals die übliche Probe voraus, nur daß es am Abend stattfand und deshalb eine vorherige Ausspannung durch einen Spaziergang im Holland Park und Kensington Gardens möglich war. Während der Probe hatte Unger seine Schmiedelieder und die Erweckung Brünnhildes sehr schön gesungen; abends brachte er wiederum, durch eben denselben Diätfehler, keinen Ton hervor und setzte damit seinem bisherigen Verhalten die Krone auf. Es gab keine weitere Gelegenheit mehr, um seine Unterlassungssünden wieder gut zu machen: er hatte den Meister in einer ganz unerhörten Weise im Stich gelassen. Das Publikum nahm den Defekt nachsichtig dahin [359] und entzückte sich an Frau Materna. Das Programm, durch den Huldigungsmarsch eingeleitet, brachte Bruchstücke aus ›Tristan‹, ›Siegfried‹ und ›Götterdämmerung‹; der Beifall am Schluß, die endlosen Kundgebungen der Dankbarkeit und Begeisterung kannte keine Grenzen. Die Abrechnungen am nächsten Tage ergaben, nachdem der Meister die Sänger aus Eigenem honoriert hatte, einen Gesamtüberschuß von 700 Pfund für das Bayreuther Defizit Nach allem Vorausgehenden war er auf noch Schlimmeres gefaßt gewesen. ›Im betreff der Konzerte‹, schreibt er darüber an Feustel, ›ist demnach anzunehmen, als ob ich sie ganz auf eigene Rechnung übernommen hätte, wogegen die Herren Hodge und Essex, hätten sie gar keinen Kontrakt unterzeichnet und sich nur als meine Agenten und Arrangeure geriert, jedenfalls eine Provision – oder Tantieme – von mir beanspruchen dürften, die sie nun verloren haben.‹ Dagegen war es sein Stolz, daß – durch sein eigenes erhebliches Opfer! – niemand sonst an ihm und mit ihm einen Groschen eingebüßt hatte. Er übersandte demgemäß Feustel einen Check auf 700 Pfund, zugleich mit der Bitte, ihn mit dem Betrage von 10000 Mark (statt der vorher für diesen Zweck bestimmten 3000 Mark) an die Spitze der Subskriptionsliste zu stellen und diese Summe sofort an die schwierigsten Gläubiger auszuzahlen. Außerdem rechnete er noch auf das Ergebnis einer speziell in London zu eröffnenden Subskription.

Dies war der Abschluß des Londoner Festivals, zu dem man ihn auf der einen Seite gedrängt, von der anderen wohlmeinend gelockt, und dessen Durchführung ihm, außer allen darauf verwandten Opfern an Ruhe, Zeit und Kräften, anstatt einer Befreiung von der drückenden Defizitlast, schließlich noch einen Verlust von 1200 Pfund gekostet hatte. ›Um wie vieles älter mich diese erneuten Erfahrungen gemacht, was ich von Lebenskraft ganz unnütz hier wieder vergeudet habe – stehe dahin!‹ Für das nächste verlangte es ihn nach nichts anderem, als einem Ersatz der verbrauchten Kräfte, einer Wiederherstellung seiner schwer vernachlässigten Gesundheit durch einen mehrwöchigen Kuraufenthalt in Bad Ems. Dieser war ihm von zwei Seiten her, durch seinen Bayreuther Arzt Dr. Landgraf und durch Standhartner, der seine Konstitution am besten kannte, dringend empfohlen. Doch verzögerte sich die Abreise durch Abschiedsbesuche nach verschiedenen Richtungen und stürmisches Wetter bis zum Montag, 4. Juni. Über Dover, Ostende und Köln ging es seinem nächsten Bestimmungsorte zu, wo er am Dienstag Abend 6 Uhr eintraf, und von seinen ihm dorthin entgegengereisten Kindern empfangen wurde.

Fußnoten

1 Briefe an August Wilhelmj (Bayreuther Blätter 1905), S. 228/29.


2 Ebenda, S. 230.


3 ›Esteys American organs‹, i. e. eine Art Harmonium.


4 ›Die Herren H(odge u. Essex) machen mir einige Not. In betreff der Garantiesumme will ich es ihnen gern erleichtern, trotzdem Advokat Sumter zur Vorsicht rät.‹ (Brieflich an Wilhelmj, 2. April 1877.)


5 Brieflich an Wilhelmj, 22. April 1877 (Bayreuther Blätter 1905, S. 231–33).


6 Wiederum gab es in Bayreuth keine ausreichenden Kopisten; Seidl und Fischer wurden daher schließlich (3. April) nach München geschickt, um, mit Unterstützung dortiger Kopiergehilfen, in einer Woche mit dem Nötigen fertig zu werden (Bayreuth. Blätter 1905, S. 232).


7 ›Neulich‹, so berichtet darüber Liszt an die Fürstin Wittgenstein, ›haben Wagner und Cosima drei Tage im Schlosse zu Meiningen verbracht; der Herzog hatte dabei die liebenswürdige Aufmerksamkeit, durch seine Truppe, welche sich durch ihre Erfolge in Berlin, Wien und anderen deutschen Städten augenblicklich einer großen Berühmtheit erfreut, drei Vorstellungen für seine Gäste veranstalten zu lassen: »Esther« von Grillparzer, den »Malade imaginaire« und »Julius Cäsar«.‹ (Liszts Briefe VII, S. 185.) Die beiden ersten Stücke wurden an einem Abend (9. März), ›Julius Cäsar‹ am Sonntag, den 11., gegeben.


8 Vgl. darüber den Anhang dieses Bandes.


9 Bayreuther Blätter 1905, S. 232/33.


10 Liszts Briefe VII, S. 183: ›La semaine passée, il refusa catégoriquement 20000 M. que lui apportait en prime Hans Richter, de la part du directeur de Vienne, Jauner. Plusieurs propositions à ce sujet lui ont été faites par divers théâtres – il n'a pas encore voulu s'engager à leur livrer ses Nibelungen.


11 Vgl. die entsprechenden brieflichen Ausführungen in Heckels ›Erinnerungen‹, S. 121.


12 Liszts Briefe VII, S. 184. ›Vous ai-je parlé du Parsifal de Wagner?‹ heißt es in einem späteren Briefe. ›Dans les salons on en jase déjà beaucoup; la Psse Metternich exigeait presque que je lui en jouasse à Vienne les sublimes mélodies – non écrites! Le fait est que Wagner n'a pas encore terminé le poème, dont il m'a lu le 1er Acte le 2. Avril. A son retour de Londres, il se mettra à composer la musique‹ (S. 189, 26. April).


13 Vgl. die an Haus von Wolzogen gerichteten Worte über diese Versammlung: ›Ich ersehe einen Wolkenkampf von Statuten u.s.w., aber nichts, was nur halbwegs meinem Gedanken entspräche.‹ (Bayreuther Blätter, Jahrgang 1898, S. 86.)


14 Erklärung an die Augsburger Allgem. Zeitung als Erwiderung auf den Hetzartikel ›Richard Wagner und die öffentliche Meinung‹ (Band IV (III1) des vorlieg. Werkes S. 56/57).


15 Eine besondere Sorge bereiteten auch die Larsen, für die es in der großen, in endlosen Konzertprogrammen so viel Musik konsumierenden Weltstadt durchaus keine geeigneten Vertreter gab. ›Thoms (wenn Sie ihn gebrauchen) wird billig sein‹, schreibt er daher in demselben Briefe; ›man muß ihn und Tombo amikal unterbringen; ich zahle (für meine Rechnung) schon Mittag und Frühstück, und Reisegeld muß herausgeschwitzt werden. Jedem 500 Mark alles in allem!‹ (Bayreuther Blätter 1905, S. 234).


16 In bezug auf diesen Punkt hatte er noch von Bayreuth aus an Wilhelmj geschrieben: ›Ihre (angekündigten) Empfangsvorbereitungen machen mir etwas bange, und – aufrichtig gesagt! – ich willige mehr darein, weil ich Ihnen keine Freude verderben will, als weil mir dadurch eine Freude gemacht würde. Wir wollen sehen, wie der Abschied ausfällt!‹ (Bayreuther Blätter 1905, S. 233).


17 Das Orchester bestand aus 170 Musikern; die einzelnen Instrumente waren in folgender Stärke vertreten: erste Violinen 24 (an ihrer Spitze Wilhelmj), zweite Violinen 24, Violas 15, Celli 20, Bässe 22, Flöten 6, Oboen 7, Klarinetten 8, Fagotte 7, Hörner 8, Trompeten 5, Posaunen 5, Tuben 5, Schlaginstrumente 6, Larsen 7 (darunter der vortreffliche Tombo). Ein vollständiges Verzeichnis aller mitwirkenden Musiker findet sich zu Beginn der, in prächtiger Ausstattung als Buch erschienenen, Programme unter dem Titel: ›The Wagner-Festival‹, London, Hodge & Essex 1877.


18 Rudolf Lehmann, namhafter Bildnis- und Historienmaler, geb. 1819 zu Ottensen, lebte lange in Rom, mit der Fürstin Wittgenstein und Liszt befreundet, danach seit Jahren in London.


19 Vgl. Band III (II2) des vorliegenden Werkes, S. 68f.


20 Zu diesem Passus unserer Erzählung machte uns seinerzeit Edward Dannreuther in seinen höchst dankenswerten Mitteilungen die Notiz: ›Das, »deutsche Element« war (in diesen Konzerten) zu keiner Zeit »stark vertreten«; Londoner Deutsche sind meistenteils Mendelssohn-, Schumann-, Brahms- und anderweitige »ianer«, Wagnerianer sind Ausnahmen.‹ Wir wollten die vorstehende Bemerkung nicht unterdrücken, andererseits jedoch auch unsere obige Angabe nicht ohne weiteres ändern, da sie uns trotz allem auf zuverlässiger Beobachtung zu beruhen scheint.


21 Die Kosten eines Konzertes wurden in runder Summe auf 3000 Pfund Sterling veranschlagt: jede Probe kam auf 200 Pfund zu stehen, und es fanden alles in allem 19 Proben statt; die Straßenaffichen für einen Tag verzehrten allein täglich 50 Pfund u.s.w.


22 Wiederum wollen wir dem Leser an dieser Stelle der Gerechtigkeit halber einen Einwand Dannreuthers gegen die obige Darstellung nicht vorenthalten: ›Die nicht disponiblen Logen, sowie 800 der besten Parterreplätze, welche als Privateigentum galten, wurden von den Besitzern nicht verkauft; dieselben blieben – mit Ausnahme des ersten Konzertes – einfach leer; von »schlimmer Konkurrenz« war keine Rede. Der pekuniäre Mißerfolg lag hauptsächlich daran, daß es den Herren Hodge u. Essex an Erfahrung, an Kapital und an Kredit fehlte.‹ Zu einer genauen Nachprüfung der Richtigkeit der einen oder der anderen Angabe fehlte uns die Möglichkeit.


23 Briefe an Friedrich Feustel, Bayreuther Blätter 1903, S. 207/8.


24 Die uns vorliegende Notiz Dannreuthers, dem wir für den Londoner Aufenthalt so manche interessante Einzelheit zu verdanken haben, spricht von ›ca. 20 von ihm und mir eingeladenen Freunden‹, ohne dieselben im einzelnen namhaft zu machen.


25 ›Einige Tage später ging das Manuskript an den König von Bayern ab‹, behauptet derselbe Gewährsmann.


26 Bayreuther Blätter 1903, S. 208.


27 Nicht zu dem Feste eingeladen und dennoch erschienen (!) war Präger; der Meister hatte guten Grund, den allzu aufdringlichen, mit der ihm erwiesenen Vertraulichkeit prahlenden Mann bei dieser und anderen Gelegenheiten von sich entfernt zu halten, dennoch widmete er selbst ihm ein freundliches Wort, indem er mit Bezug auf seine erste Londoner Periode von ihm sagte: ›Er war mit mir in der Wüste.‹


28 Vgl. S. 312 (unten) des vorl. Bandes.


29 Vgl. Band III des vorliegenden Werkes, S. 94.


30 Daß es sich hier um einen ›irrigen Bericht‹ gehandelt habe, erfuhr er erst wenige Tage später und bat in seiner zartfühlenden Weise Feustel wegen seiner ›brieflichen Heftigkeit‹ um Verzeihung; – der ›Schreck‹ war aber doch derselbe geblieben!


31 In diesem Falle dann aber auch wieder das ganze, lediglich notgedrungene, Londoner Unternehmen!


32 Es war dies (da die Betätigung des schlesischen Grafen Magnis-Ullersdorf erst etwas später erfolgte) der buchstäblich einzige Fall von Beachtung seiner Aufforderung gewesen: Frl. Helfrede Plüddemann aus Kolberg, die Tante Martin Plüddemanns, der den Meister kurz zuvor durch die Zusendung einer Broschüre über die Festspiele erfreut hatte, hatte (Anfang Februar 1877) durch einen von ihr eingesandten Beitrag ein schönes Beispiel von Pflichtgefühl gegeben.


33 Bayreuther Blätter 1903, S. 209.


Quelle:
Glasenapp, Carl Friedrich: Das Leben Richard Wagners in 6 Büchern. Band 5, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1905, S. 336-361.
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