XIX.

Das Ende.

[756] Vorwort zu Steins Dialogen. – Weiterer Verlauf des Neumannschen Unternehmens. – Der Karneval von Venedig. – Besuch Levis. – Die letzten Tage: Joukowsky-Feier im Vendramin. – Der 13. Februar. – Eine letzte traurige Fahrt. – Trauerfeierlichkeiten in Bayreuth.


Sehen und Schweigen: dies wären endlich die Elemente einer würdigen Errettung aus dieser Welt. Nur wer aus solchem Schweigen seine Stimme erhebt, darf endlich auch gehört werden.

Richard Wagner.


Bereits in den ersten Tagen des neuen Jahres hatte er auch Gelegenheit ergriffen, seinen freundlichen Hausherren, della Grazia, mit seiner Gemahlin den einige Wochen lang aufgeschobenen Besuch und dabei die Wahrnehmung zu machen, daß sie ganz als steiermärkische Edelleute sich ausnähmen: er fand darin einen neuen Beweis, daß der Adel überall germanischer Abkunft sei. Schon vor ihrem Eintreffen (gegen Ende November) hatte er sich einigermaßen darüber aufgeregt, daß die Möglichkeit nicht ausgeschlossen war, es könnten dadurch im Palast einige Veränderungen entstehen. Glücklicherweise traten solche bei dem Zartgefühl der Besitzer und ihrer Rücksichtnahme auf den hervorragenden Gast in keiner Beziehung ein. Nach Liszts Abreise besuchte er auch den Grafen Bardi, dem er tags zuvor begegnet war, ohne ihn zu erkennen. Er ging ihm nach, um sich zu entschuldigen, und meldete sich bei diesem Anlaß zu dem ebenerwähnten Besuch. Er fand, wie er darüber berichtete, ein paar liebenswürdige Österreiecher, mit denen er gern gescherzt habe, und empfing einige Tage später mit Vergnügen den Gegenbesuch des Grafen. In einer Quelle dritten Ranges, die aber manches zufällig erfahrene Richtige, wenn auch einseitig Aufgebauschte enthält, finden wir auch erwähnt, daß der schone, schlanke, hochgewachsene junge Graf (der wegen seiner königlichen Abkunft den Titel Monseigneur führte) die Nautik zu seinem besonderen [756] Sport erwählt und bei seinem Einzug die große Eingangshalle in ein förmliches Arsenal von Wasserfahrzeugen der verschiedensten Systeme, vom einfachsten bis zum kompliziertesten, verwandelt hatte. ›Lange Zeit beobachtete Richard Wagner diese nautische Tätigkeit des Prinzen bloß durch das Fenster seines Rauchkabinetts, das sich als ein überaus geeigneter Observationsposten dafür erwies, und konnte seine größte Freude daran haben, wenn die neuen insbesondere elektrisch-magnetischen – Systeme einmal gar nicht ihre Schuldigkeit tun wollten. Dann kamen auch wieder andere Momente, wo alles wie am Schnürchen ging und Monseigneur bald in diesem, besonders konstruierten Fahrzeuge, bald in jenem, mit Ruder, Segel, Dampf oder elektrischer Kraft den Canal Grande auf und nieder fuhr. Anläßlich solcher Gelegenheiten konnte denn auch Wagner am Doppelfenster seines Empfangssalons stehen und mit unverwandtem Auge derartigen Spielereien zusehen. Und so kam es dann eines Tages, daß Wagner, der alle Kunst- und Geburtsgrößen, die mit ihm zu verkehren suchten, schroff abgewiesen hatte, sich selbst dem jungen Aristokraten zur Seite gesellte und anstatt des bisher stummen, gegenseitigen Grußes ein Gespräch anknüpfte. Von da ab konnte man die zwei, nach jeder Richtung hin so verschiedenen Persönlichkeiten, wenn der Luftzug für Wagner nicht gar zu stark war, die Halle miteinander auf und niederschreiten sehen.‹1 Tatsächlich ist es in bezug auf diesen Verkehr doch nicht zu viel mehr, als zu einmaligem Besuch und Gegenbesuch gekommen; alles übrige in dem genannten Zusammenhang Vorgebrachte ist Zusatz oder bloße willkürliche Ausführung.

Sobald es sein Befinden zuließ, lockte die wiedergewonnene Stille um ihn her ihn zur gewohnten, langunterbrochenen Betätigung in eigener Arbeit. Noch in der Zeit von Liszts Anwesenheit sprach er davon, er habe eine Menge von Themen für eine Symphonie im Vorrat, die ihm nur so zuflögen, – wie aber solle er wohl dafür zur Ruhe kommen? Nach Liszts Fortgange hörte man ihn dann wohl in seiner Stube auf seinem Klavier sanft spielen – die ›schwankenden Gestalten‹ nahten wieder. Wir erinnern uns des Ausspruchs gegen Liszt (S. 752), seine Symphonie würde eine, in einem einzigen Satz ausgesponnene Melodie werden: was er nun spielte, war eine solche eigene Melodie im englischen Volkston, die ihm durch den Sinn gegangen. Und wiederholt, wenn er sich an den schönen Ibachschen Flügel (S. 724) setzte, um zu phantasieren, so sprossen immer neue Blüten an holden Weisen in ihm empor. Doch war es in der zweiten Hälfte des Januar zunächst das in Aussicht gestellte Vorwort zu Steins ›Dialogen‹, das seinen Geist, gelegentlich auch auf Spaziergängen, erfüllte, und die Notizen, die er sich dabei aufzeichnete oder mündlich in Unterhaltungen aussprach, [757] waren fast sämtlich auf die Punkte ›Sehen‹, ›Hören‹, ›Reden‹ abgestimmt: ›Wir reden zuviel, selbst auch hören zuviel, und – sehen zu wenig;‹2 ›das viele Reden und Hören verhindert das Sehen;‹ ›das fruchtbare Sehen: was der Blick erkennt, wenn er so über eine Brücke streift‹. Wir gedachten eines solchen Ganges über die Rialtobrücke an einem schönen Sommertag, wo er immer wieder nahe an sei nen Krampfzuständen war (S. 755), hätte nicht seine Willenskraft, im Verein mit dem, was er vor Augen hatte, ihn zerstreut und abgelenkt: so z.B. zwei Männer, lebhaft miteinander sprechend, der eine unbeweglich, schwarzbärtig, mit Radmantel, großem rundem Hut, den Rock vorn aus blauen Lappen zusammengestückt; der andere grau von Haar, bartlos, mit braungelber Jacke, Hosen und Mätze, sehr heftig mit den Händen gestikulierend. Was sah er da nicht alles, im bunten, wechselreichen Straßengewimmel! Das ›habt ihr Augen? habt ihr Augen?‹ seines Hamlet schwebte ihm dabei immer wieder vor, und er ging in seinen Gedanken von diesem zu den ›alles ausschwatzenden‹ Schauspielern über und zu der furchtbaren Bedeutung, die im ›Hamlet‹ eben dieses ›Ausschwatzen‹ in dem von ihnen aufgeführten Stück im Stücke erhält. ›Schweigen und Sehen!‹ das galt ihm auch von dem Dichter des ›Hamlet‹ selbst. ›Das Weltbild entstand ihm aus dem Sehen; im übrigen wird er dafür gesorgt haben, daß seine Schauspieler gut spielten, – das erkennt man aus »Hamlet«.‹ In gleichem Sinne war er fest davon überzeugt, daß Shakespeares Sonette keine Selbstbekenntnisse, sondern in aller Objektivität für andere gemacht seien. Dies waren die Gedanken, die ihn in seinem ›Vorwort‹ (in Briefform an den jungen Freund gerichtet) beschäftigten. Anderes Erlebte und jüngst Erfahrene schloß sich an, wie z.B. die Erinnerung an einen Aufsatz Hans Herrigs (in dem von diesem als ständigem Mitarbeiter redigierten ›Deutschen Tageblatt‹), der ihn durch seine Verkennung Gustav Adolfs empörte, indem er – aus bloßem preußischem Patriotismus – dessen Bedeutung für Deutschland unterschätzte und nicht übel geneigt war, ihm Wallenstein als den eigentlich deutschen Helden gegenüberzustellen! Bereits damals hatte er sich vorgenommen, diesen Gegenstand in einem an Dr. Herrig gerichteten offenen Brief zu besprechen. Er war nicht dazu gekommen, aber der Antrieb dazu lebte in ihm fort und wurde nun in dem etwas anderen Zusammenhang seines Briefes an Stein wenigstens gestreift. Ferner war es der (auf S. 304) dieses vorliegenden Bandes von uns angeführte resignierte Gedanke Carlyles über Kolonien, der ihn nicht verließ, indem er ihn sich hoffnungsvoll dahin ergänzte, daß vielleicht doch wenigstens Das, was in der Heimat bisher keinen Boden für sein Gedeihen gefunden, in einer dazu geeigneten klimatischen Ferne sich zu neuem Leben verjüngen könne. Es stimmte ihn [758] wohl, nach so langer Unterbrechung ein tief ernstes, konzentriertes Wort an den begabtesten seiner Jünger zu richten, und indem er bei dieser Gelegenheit auch dessen ›Dialoge‹ wieder vornahm, erfreute er sich insbesondere des stimmungsvoll schönen Schlusses der ›Cornelia‹. Am 31. Januar sandte er sein Manuskript zunächst an den Adressaten ab, dem er es vor nun mehr als einem Jahr versprochen; und von neuem richteten sich seine Gedanken auf seine noch ausstehende, zeitweilig bereits aufgegebene Abhandlung über das Männliche und Weibliche, deren zusammenfassende Überschrift damals noch nicht feststand, sondern seinen Geist weiter beschäftigte. Er schwankte damals noch zwischen den beiden verschiedenen Fassungen: über ›das Ewige im Weiblichen‹ oder ›das Weibliche im Menschlichen‹. Diese Arbeit wollte er noch vollenden; sie sollte seine letzte literarische sein; dann wollte er nur noch zu seiner Freude ›Symphonien komponieren‹. Von seinen Krampfanfällen war er in dieser Zeit ganz verschont geblieben, und freute sich sehr darüber, einzelne Anfälle dazu durch bewährte milde Hausmittel (Hoffmannstropfen mit Valeriana) im Entstehen gestillt zu haben.

Leider war die schöne beschauliche Stimmung, die ihn bei der Lektüre und eigenem Schaffen nicht verließ, doch immer wieder von außen her angefochten. Nachdem er die Zumutung einer Reduktion seiner für den Sommer angesetzten Aufführungen auf die Hälfte kaum erst noch glücklich verwunden, traf durch einen Brief Herrn von Bürkels eine weitere Nachricht ein, die ihn an dem empfindlichsten Punkte berührte. Der König schien, trotz aller Einwendungen, nachhaltig bei dem Wunsch einer Separataufführung des ›Parsi fal‹ in München zu beharren. Schonend hatte der treffliche Vermittler sein Schreiben nicht an ihn selbst, sondern an des Meisters Gemahlin adressiert, die es in der letzteren Zeit schon wiederholt bewährt gefunden, ihm von dergleichen üblen Dingen das allerwenigste mitzuteilen und dafür dann einen geeigneten Zeitpunkt zu wählen. Endlich aber mußte es doch geschehen. Er war erregt, aber ohne Zorn, und faßte nur den Beschluß, sich inskünftige, zur Wahrung seines Werkes vor ähnlichen Ansprüchen, doch ein eigenes Orchester zu engagieren. Den Brief selbst wollte er gar nicht erst lesen und erteilte bloß den Auftrag: es sollte zurückgeschrieben werden, seine Gesundheit erlaube es nicht, ihm derartige Mitteilungen zu machen. Noch in seinem Brief an Siehr vom 6. Januar hatte er zum Abschluß der beabsichtigten 20 Aufführungen dieses Sommers, mit Rücksicht auf die besonderen Neigungen seines königlichen Gönners und Beschützers, an Ort und Stelle selbst, in Bayreuth eine ›Supplementvorstellung vor Sr. Majestät dem König‹ ins Auge gefaßt;3 nun waren ihm nicht allein die wohlerwogenen 20 Aufführungen durchkreuzt, sondern [759] auch der dringendste seiner Wünsche, sein Werk vor einer außerbayreuthischen Verkörperung zu bewahren! Das einzig Tröstliche war, daß diese Münchener Vorstellung erst für das Frühjahr 1884 in Aussicht genommen war, bis dahin konnte sich doch man ches noch ändern. Er faßte sich; nur ab und zu loderte es noch in ihm auf, wie ein halb erloschenes Feuer, was der König ihm antue, indem er diese Separataufführung befehle. Auf sein gesundheitliches Befinden, wenn es sich soeben etwas gehoben hatte, war eine derartige Erfahrung nur von nachteiligstem Einfluß. Er fuhr bei schönem Sonnenschein mit den Seinen auf die Piazza; aber er fühlte sich leidend. Und auch nach Hause zurückgekehrt, wollte die ›Schwere‹ nicht weichen; er kam spät zum gemeinsamen Mahl und mußte es wieder verlassen, um sich allein in sein Zimmer zurückzuziehen.

Die Angelegenheiten des Neumannschen Wandertheaters haben wir seit den Dresdener Aufführungen (S. 741) nicht des näheren verfolgt; an diese hatten sich inzwischen noch Amsterdam und Brüssel gereiht; Prag, Preßburg und Pest standen weiterhin bevor. Nun wurde auch Venedig als auf seinem Plan befindlich genannt. Hiervon riet nun aber der Meister entschieden ab; seine Motivierung haben wir bereits im vorausgehenden (S. 748) antizipiert. Zunächst erklärte er seine Abneigung dagegen auf das entschiedenste auf telegraphnschem Wege und empfand es durchaus als beruhigend, am 31. Januar die bestimmte Zusicherung eines Verzichtes auf diese Aufführung zu erhalten. Nach wie vor bewahrte er ihm für seinen Unternehmungssinn alle gebührende Teilnahme; er rühmte ihn wiederholt, weil er den Mut habe, sich nicht an einzelnen Teilen seines Werkes genügen zu lassen, sondern sich die Aufgabe stelle, das Gesamtwerk als solches zu verbreiten. ›Wie seltsam‹, rief er aus, ›daß das nun gerade ein Jude sein muß!‹ Von den finanziellen Krisen, die das Unternehmen durchzumachen hatte, war ihm moglichst wenig zu Gehör gebracht worden; doch hatte er um die Mitte Dezember einen ›klagenden Brief‹ Neumanns erhalten und war für die fälligen Tantiemenbeträge auf den Monat Januar vertröstet worden. Dafür trafen diese nun aber um die angegebene Zeit wirklich ein, und er konnte sich einen Teil derselben in guter Laune vom Bankier Reitmeyer am Markusplatz abholen, auf welchen seine Kreditbriefe zu lauten pflegten. Recht ärgerlich war er bei der Wahrnehmung der ungeheuren Kosten, welche dem Unternehmer überall auferlegt waren, wenn z.B. Bremen – bei einer Gesammteinnahme von ca. 20000 Mark eine Theatermiete von 12000 Mark verlangte und erhielt! Für eine solche Kraftverschwendung war ihm Neumann, den er mit ›semitischem Ernst‹ all diese Nöte durchmachen sah, doch zu gut. ›Ich glaube‹, schrieb er ihm daher nach Amsterdam, ›daß in einem großen Sinne nur Amerika Ihnen helfen kann, und darauf dürfte wohl Ihr hauptsächliches Augenmerk zu richten sein. Was mich persönlich betrifft, so entsinnen. [760] Sie sich, welche Rücksicht mich – einerseits! – bewog, Ihrem vor zwei Jahren mir gemachten Vorschlag eingehende Aufmerksamkeit zu widmen: ich selbst trug mich sehr ernstlich mit dem Projekt, um meinem Sohne dereinst ein kleines Vermögen hinterlassen zu können, auf ein amerikanisches Unternehmen, zu welchem ich von verschiedenen Seiten mit recht verlockenden Versicherungen eingeladen war, mich einzulassen. Dies habe ich nun, gewiß auch aus Rücksicht auf die mir wahrscheinlich unüberwindlichen Anstrengungen, aufgegeben. Daß ich Ihrem, gewissermaßen stellvertretenden Unternehmen, auch mit der Hoffnung auf einen verhältnismäßigen Ersatz der von mir fahrengelassenen Möglichkeit, zusehe, wird Sie nicht verwundern. Wenn jene Hoffnung sich aber auch nur in einem sehr geringen Grade erfüllen sollte, so werden Sie jedoch nicht annehmen, daß ich Ihnen, bei den großen Beschwernissen, mit denen Sie zu kämpfen haben, ohne Teilnahme auch für Sie folge. Nochmals – daher – wo ich kann, stehe ich Ihnen gern helfend zur Seite!‹4

Eine Folge von Abenden hindurch beschäftigte ihn im Zusammensein mit den Seinigen Schillers ›Don Carlos‹, und es war ihm, der gern zu diesem Werke zurückkehrte, eine Freude, die Feinheit und die meisterlichen Züge in dieser Jugendschöpfung zu verfolgen. Shakespearisch nannte er den Monolog des Königs im dritten Akte, und ›einzig‹ die Erregung des Prinzen, wie er sich zur Königin gerufen wähnt. Mit gleicher Befriedigung setzte er die Vorlesung des dritten, vierten, fünften Aktes fort, immer die Kraft der Idealität bewundernd, die sich darin offenbare und Schillers Eigentum sei: ›gewiß, das ist arische Idealität, das haben wir hervorgebracht!‹ Auch die ›Geschichte der Perser‹ von Gobineau beendete er nun, und las abends den Seinen die letzten Seiten derselben vor. So pries er auch die Raimundschen Volksstücke und empfand es als einen rechten Kontrast dazu, wenn in Berlin das Ballett ›Flick und Flock‹ zum 500 Male in steter Gegenwart des Kaisers gegeben wurde! Dazu der Versailler Geschmack des Königs von Bayern, in Bauten und Theaterstücken ein rechtes Bild dessen, wie es in Deutschland hergehe! In den ›Parsifal-Nachklängen‹ Dr. Bernhard Forsters erfreute ihn die lebhafte Erfassung eben jenes arischen Idealismus als leitender Idee seiner eigenen Werke, des Bühnenweihesestspiels als notwendiger Ergänzung der Nibelungentrilogie, der Wandlung Walhalls in den Graltempel; dagegen beängstigte es ihn, an einem neuen Zeugnis wiederum das Mißverstehen seiner weitreichenden Perspektiven in ›Religion und Kunst‹ zu vernehmen, wiederum das von ihm erschaute Ideal einer Erneuerung der Menschheit aus Ungeduld in ein kümmerliches ›morgen‹ hereingezerrt, die ›Linien nicht groß genug gezogen‹ zu sehen. Er hatte kein sehr großes [761] Vertrauen zu Försters kolonialem Unternehmen in Paraguay, und es mußte ihn fast erschrecken, daß die Anmeldungen dafür zahlreich vor sich gingen, Eltern ihm ihre Kinder anvertrauten usw. Auf maßvollem Wege, hatte er soeben noch an Stein geschrieben, sollte besonnen vorgeschritten werden, um – fern von der (in Staat und Kirche) erzielten Vollendung – das Reinmenschliche mit dem Ewignatürlichen in harmonischer Übereinstimmung zu erhalten. Jede Voreiligkeit ›müßte dem Versuche der Lösung dieser schwierigen Aufgabe große Gefahr bringen; je schärfer wir die Linien des Bildes der Zukunft zu ziehen uns veranlaßt sähen, desto unsicherer würden sie den natürlichen Verlauf der Dinge bezeichnen‹. Oder, wie es Heinrich von Stein in einem seiner Briefe an Wolzogen im Sinne dessen, was und wie er es vom Meister gelernt, auseinandersetzt: ›nicht die Ähre ohne Halm ernten wollen – sondern sorget allein dafür, an Eurem Teil, daß im Keime etwas geschieht, dafür aber etwas Reines, Echtes und Rechtes. Dann schafft ihr für jenen neuen Tag, und schon in dessen Licht; dieser wird dagegen für alles Einzelne (was ihr essen und trinken werdet usw.) selbst sorgen.‹5

Er war kein Freund der langen Abende und entbehrte ungern seine daheim seiner harrenden Bücher. Auch gedachte er seiner treuen Hunde, von denen ihm der Abschied so schwer gefallen war. Ob er wohl Marke wiedersehen werde? Er fürchtete immer, es werde ihm manches verheimlicht. Darüber beruhigt, knüpfte er doch die weiteren Gedanken daran: ob er überhaupt wieder nach Venedig, nach Italien kommen werde? Hier vermisse er viel, und doch graue ihm vor der Einsperrung im Norden.6 Schon in den letzten Januartagen begannen auf dem Markusforum und der angrenzenden Piazzetta die Vorbereitungen für die Karnevalsfeier, hier bunter, geistreicher, schöner, belebter als irgendwo in Italien. Wiederholt begab er sich bei wundervollem Wetter, wie es jetzt mehr vorzuherrschen begann, nach der Hauptstätte dieser Festtage: die Volksmenge, welche sich hier tummelte, war ihm nicht immer angenehm, und er begab sich dann mit den Seinen durch die Merceria nach dem Rialto, wo er, mit Vermeidung des Fleischerladens, der ihm erst kürzlich wieder einen entsetzlichen Eindruck hinterlassen, von der Seite aus seine Gondel bestieg. So hatte er schon für den 21. Januar die Massage ausgesetzt, dafür eine Partie auf den Markusplatz bestimmt und das gemeinschaftliche Mittagessen im Cappello Nero bestellt. Aber gerade für [762] diesen Tag hatte sich ein drückender Nebel auf Venedig gelagert, es war kalt und die bestellte Mahlzeit nicht rechtzeitig bereit. Die Stimmung drohte übel zu werden, aber da man ganz unter sich mit Joukowsky war, blieb jede weitere Aufreizung vermieden. Man wollte heim, wurde aber von dem entgegenströmenden Andrang wieder zurückgedrängt; da nach Angabe des Wirtes ungefähr 20000 Menschen auf dem Platze wären. Vom Fenster des Restaurants aus beobachtete man den Maskenzug mit seinen seltsam barocken Gestalten, von denen besonders eine den Meister regelmäßig grüßte und ihren Gruß ebenso regelmäßig erwidert erhielt. Die Kinder waren zuerst von ihm auf den Platz hinausgeschickt, kehrten aber wieder und sahen mit den Eltern vom Fenster aus dem Gewühle zu, der sich bewegenden und weiterschiebenden ›schwarzen Masse, in welcher fleischfarbene Flecke sich zeigten‹. Allmählich hatte sich dann auch eine bessere Stimmung eingestellt, so wenig erfreulich der Anblick im ganzen war: ›und doch‹, sagte er, ›wer nicht der Menge näherzukommen versucht, ist nicht viel wert.‹ Er betrachtete die Partie als gelungen: ›man müsse ihn nur immer tüchtig räsonnieren lassen, solche Ausbrüche, wie die heutigen, seien bei ihm die Vorboten der guten Laune‹.

Sehr geeignet bewährte sich bei solchen Gelegenheiten die Gegenwart des trefflichen Joukowsky, der in seinem Feingefühl unwillkürlich alles und jedes vermied, was aufreizen konnte, und dabei doch jene vornehme Freiheit in Unterhaltung und Bewegung sein eigen nannte, die dem Meister von so hohem Wert war. ›Sie sind mein Sohn‹, sagte er ihm einmal in unserer Gegenwart, ›mein nachgeborener Sohn aus der ersten Ehe.‹ Auch für seine künstlerischen Arbeiten zeigte er Interesse. ›Ich fing damals‹, so berichtet Joukowsky in seinen Aufzeichnungen, ›mein Bild des letzten Gondoliers an; Wagner hatte mich auf diese Idee gebracht, als er den Mann sah, der mich täglich von San Trovaso nach Vendramin fuhr. »Malen Sie ihn doch«, sagte er mir, »er sieht ja aus, wie ein kranker Adler.«‹ Von sonstigem gelegentlichen Verkehr während dieser letzten Januarwochen sind die Maler Passini und Ruben zu nennen, die dem Meister die heitersten Späße eingaben, außerdem Frau Pinelli und der russische Maler Wolkoff, mit welchem sich ernste Gespräche führen ließen, und dessen richtige Empfindung er rühmte. Ihm sang und spielte er einmal die Szene von Fafners Erscheinen vor Siegfried und Brünnhildes Erwachen vor. – Endlich aber stellte sich Levi, der soeben in Arco eine Kur gebraucht, zu achttägigem Verweilen in Venedig ein.

Es war am Sonntag, den 4. Februar, vier Uhr nachmittags, daß ihn der Meister, dem er sich bereits angemeldet, von seinem Fenster aus in der Gondel vorfahren sah. Er stellte sich sogleich mit Joukowsky am Ende eines langen Ganges (oder der Zimmerflucht?) an der Tür hinter den Vorhängen [763] auf, um ihn beim Eintreten zu haschen; aber Levi ging zu unvermutet schnell zwischen ihnen durch. Es gab eine schöne Zeit des Zusammenseins, und gleich der erste Abend wurde auf behagliche Weise verplaudert. In der Schmeitznerschen ›Internationalen Monatsschrift‹ hatte ein Artikel über Nietzsches neues Buch, die ›fröhliche Wissenschaft‹, gestanden, und der Meister hineingeblickt, um sogleich seinen vollen Widerwillen dagegen kundzugeben. Alles, was darin Wert habe, sei von Schopenhauer entlehnt; schon die eine Photographie, die sie von ihm besessen, hätte genügen müssen, ihn als ›Gecken‹ zu kennzeichnen, als ein rechtes Beispiel für das ›Nicht-Sehen‹. Er habe keinen eigenen Gedanken, keinen Tropfen eigenes Blut in sich gehabt, alles habe ihm künstlich eingeflößt werden müssen. Levi seinerseits berichtete, Nietzsche habe ihm erst kürzlich einen ›jungen Mozart‹ empfohlen, einen absolut nichts könnenden Musiker! Dann setzte er sich auf Einladung Wagners an den Flügel, um aus der ›Egmont‹-Musik ›Klärchens Tod‹ zu spielen; dem Meister fielen dabei die gewissen ›kirchlichen‹ Akkorde auf, die ihn an das ›Brüder, überm Sternenzelt‹ erinnerten. Vielerlei über die Vorbereitungen zu den bevorstehenden Aufführungen dieses Sommers wurde durchgesprochen; auch die Besetzung, und er gab seine freudige Genugtuung über die Kundry der Frau Materna kund. Weiter erklärte er seinen Wunsch, zunächst den ›Tannhäuser‹ in Bayreuth zu geben: habe er diesen in seiner wirklichen Eigenart festgestellt, so habe er mehr erreicht, wie wenn er den ›Tristan‹ gegeben. Nachdenkliche Betrachtungen erregte das königliche Defizit und die ungeheuere Summe, die ihm sein Hoftheater koste; ganz ungerechnet die von ihm beliebten Separataussnhrungen, verschlinge es mit seinem Beamtenheer jährlich 500000 Mark: mit Vergnügen gedachte der Meister seines eigenen schlichten großen Theaters, an dem es gar keine ›Beamten‹ gebe und der ausgezeichnete Freund Groß alles allein besorge. Und herrliche tiefe Gedanken strömten ihm von den Lippen: wie es manchem als eine geheimnisvolle Weisheit der Natur erscheinen könne, daß sie in ihrer Sorge für die Gattung mit dem Individuum gleichgültig verfahre. ›Aber‹, fügte er hinzu, ›die Natur erhält das kräftige Beste, und die Menschen haben es von je zu zerstören versucht.‹ Auf der Gondelfahrt, bei Betrachtung der zahlreichen geschlossenen unbekannten Paläste, rief er: ›Das ist Eigentum! der Grund alles Verderbens! Proudhon hat die Sache noch viel zu materiell (von der äußeren Seite her aufgefaßt) denn die Rücksicht auf den Besitz bedinge bei weitem die meisten Eheschließungen, und dadurch die Degeneration der Rassen‹ (Wir sehen ihn bei diesem Worte schon in vollem Zuge zu den Gedankenverbindungen, die in ›Männliches und Weibliches‹ zum Ausdruck gelangen sollten!). Und wiederum gedachte er Heinses, der in seinen ›glücklichen Inseln‹ den Besitz ausschließe: seine Kolonisten hätten kein Eigentum, um allen davon unzertrennlichen Übelständen vorzubeugen (S. 696)! So besprach er noch an [764] seiner letzten Abendunterhaltung bei Tisch (12. Februar) alle die von der Gesellschaft getroffenen Vorkehrungen zum Schutz des Eigentums, die Gefängnisse, die Strafen, die englische Tretmühle (treadmill!) usw.

Trotz guter Nächte fühlte er sich doch in der Frühe dieser Tage immer sehr müde. So war dies auch am Dienstag, dem 6. Februar, an welchem die Karnevalstage ihren feierlichen Abschluß fanden, nachdem sie, als ein Volksfest im besten Sinne, durch den Zauber des Markusplatzes und die bis zum höchsten Grade gesteigerte Jubellust ihren letzten Höhepunkt erreicht. Am Vormittag war hier alles noch ganz still und gesetzt, der Meister saß bei herrlicher Luft in guter Stimmung auf der Bank unter den Arkaden des Dogenpalastes; während Frau Wagner den Gast zu einem hervorragend schönen Bilde des Moreto geführt hatte. Erst abends um 9 begann das eigentliche Fest auf dem großen weiten Platz, der während der Karnevalszeit nachts von dreihundertundfünfzig Gasflammen in zwei Reihen gewaltiger Erzkandelaber mit zauberhaften Lichtströmen übergossen war. Alle Masken, die sich bis dahin in der Umgebung, in der Merceria wie den benachbarten Campi tummelten und auf der Riva Züge organisierten, strömten dann in den Markusplatz ein, der im buchstäblichen Sinne in einem Strahlenmeer schwamm und einen feenhaft schönen Anblick gewährte. Nicht so sehr um seiner selbst, als um der Kinder willen, die es ihm auch durch ihre Heiterkeit lohnten, hatte er sich zur Festnacht auf den Platz begeben und eigens dafür im Cappello nero ein Hotelzimmer gemietet, um von dort aus dem Treiben zuzuschauen. Herrlich schön nahmen sich der Dom und der Dogenpalast in der Beleuchtung aus: sehr viel weniger erfreulich die ebenfalls hell erleuchtete, endlos gleichförmige Fassade der Prokuratien, die ihn von je in ihrer strengen Regelmäßigkeit abstießen. Er erinnerte sich, wie er dies schon bei seinem ersten hiesigen Aufenthalt (1858) dem Maler Rahl erklärt, wie langweilig, phantasie- und erfindungslos er sie fände, wie anders ein gotischer Dom zu ihm spräche, als diese nachgebildete Monotonie. Noch dazu sei er damals mit dem ›Tristan‹ beschäftigt gewesen, in welchem jede Faser voll Leben sei. Noch ganz spät ging er mit den Kindern auf den Tanzplatz, um ihnen das tollste Treiben des Volkes in der Nähe zu zeigen. Er führte Daniela am Arme und drängte sich mit ihr mitten durch das ärgste Maskengewühl. ›Sein Schritt war elastisch, ja jugendlich, der Kopf hoch gehoben; man sah ihm an, daß er, welcher der gemeinen Geselligkeit gern den Rücken kehrte, sich wohlfühlte unter dieser jubelnden Schar, gleichsam teilnahm an diesem, Faschingsschwank, der Unmaskierte unter dieser vermummten, kindischen Menge‹, so schildert ihn jemand, der ihm in diesem Gedränge begegnete.7 Daß ihm Siegfried dabei plötzlich verschwand, beunruhigte ihn keinen Augenblick, [765] da er seiner völlig sicher war, und wirklich fand sich dieser gar bald im Cappello nero wieder ein. Übrigens war der Eindruck dieses Umganges auf ihn selbst ein gemischter; denn gerade auf dem Tanzpodium, wo das Treiben am lebhaftesten sein sollte, traf er – nach seiner Schilderung nur ein paar arme Handwerksleute, die daselbst hupften, ohne recht zu wissen, weshalb. Dagegen nun der feierliche Trauerzug des ›Prinz Karneval‹, der auf der Riva sich organisiert und in geordneten Abteilungen der mannigfachsten Masken seinen Umzug um den Markusplatz hielt, bis zur Schlußzeremonie, bei welcher er unter den Klängen einer Melodie, die der Meister für alt und echt venezianisch erklärte, auf der Piazzetta bei den zwei berühmten Säulen den Verbrennungstod erleidet! Dann der Moment, wo es vom riesigen Uhrturm her Mitternacht schlägt und im gleichen Augenblick alle zahllosen Flammen erlöschen und Finsternis die eben noch frohe Menge umfängt! Der plötzliche Übergang vom Karneval zum Aschermittwoch, dessen mächtiger Kontrast seine Wirkung nie verfehlt! Es wird erzählt, daß er bei der um 1 Uhr erfolgten Rückkehr den alten Portier, der, da sein Herr außer Hause war, auch seinerseits das Bett noch nicht aufgesucht hatte, mit den freundlichen Worten: ›amico mio, il carnevale e andato‹ (›der Karneval ist zu Ende‹) auf die Schulter geklopft habe. ›Eine Szene, welche dieser, von Wagner sichtlich bevorzugte Diener nicht müde ward, immer wieder zu erzählen; so tief war der Eindruck, welchen sie durch den jählings darauf erfolgten Tod des Meisters auf den alten Mann hervorbrachte.‹8

Man war infolge des Vorausgegangenen an diesem Abend etwas spät auf; anderen Tages, am Aschermittwoch, unternahm er um 1 Uhr mit seiner Frau einen Ausflug nach der alten Insel San Michele, der prächtigen Totenstadt Venedigs (dem Cimetero) auf halbem Wege nach Murano;9 er fühlte sich aber unwohl und kehrte gleich wieder um. Beim Mittagstisch empfand er ein Unbehagen, welches er einer Erkältung zuschrieb, die er sich gestern zugezogen; gegen fünf Uhr legte er sich zu Bett und las in den Kaisergeschichten des Sueton. Der Arzt besuchte ihn, fand aber kein Fieber und äußerte sich beruhigend. Anderen Tages, nachdem Dr. Keppler ihn massiert, stand er auf und nahm das Mittagessen mit den Seinigen und Levi gemeinsam ein, um sich dann doch wieder zurückzuziehen und jede Aufregung zu meiden. Daß unter den eingelaufenen Briefen sich ein solcher von Scaria befand, der – vielleicht infolge der Reduktion der Anzahl der diesjährigen Aufführungen – allerlei [766] Schwierigkeiten erhob, wurde ihm schonend verschwiegen. Ein paar Tage nachher (am Montag) war Joukowsky unwohl gewesen, und er hatte ihn in seiner Wohnung in San Trovaso besucht;10 am Freitag wiederum war der Kapellmeister krank, und Joukowsky leistete ihm Gesellschaft! ›Wenn Joukowsky oder Levi den Schnupfen hat‹, sagte er humoristisch, ›dann ist es gleich ein großes Unglück; aber wenn ich krank bin, kümmert sich keiner darum.‹ In Wahrheit war aber seine völlig jugendliche Elastizität so groß und die Widerstandsfähigkeit seines Organismus gegen den inneren Feind so machtvoll entschieden, daß niemand, am wenigsten seine Ärzte, seinen Zustand für ernstlich gefährlich hielt, und Joukowsky selbst, der uns den obigen scherzhaften Ausspruch berichtete, fügte hinzu, sie hätten seine Klagen oft für Übertreibung gehalten. Von der auf den Sonnabend (10. Februar) fallenden Jubiläumsfeierlichkeit für Joukowskys Vater berichteten wir bereits, und wie hoch es der Meister aufnahm, daß er diesen in ganz Rußland festlich begangenen Tag bei ihnen in Venedig verbrachte. ›An diesem festlichen Tage bereiteten mir Wagners schöne und sinnige Überraschungen, die Bezug darauf hatten.‹ Der Meister hatte eine fingierte heitere Depesche in Reimen entworfen, die er sich bei Tisch überreichen ließ und mit herrlicher Wirkung vorlas. Einzig getrübt wurde die Heiterkeit dieses Festes durch die allgemeine Teilnahme an dem Schicksal des armen Levi, der erst am Sonntag wieder sich zeigte und am Montag (12. Februar) definitiv sich verabschiedete. Es hieß, er habe sich nicht allein in seinem Beruf übernommen, sondern sei auch gemütskrank. Eine seiner letzten Unterhaltungen mit Levi bezog sich darauf, daß dieser behauptete, in verschiedenen authentischen handschriftlichen Skizzen zu ›Fidelio‹ bei den Worten ›töt' erst sein Weib!‹ die Note h fürb gesehen zu haben. Der Meister erklärte darauf, Beethoven habe sich des öfteren verschrieben, und sprach sich gegen sog. ›Kühnheiten‹ auf das entschiedenste aus.11 ›Wenn ich noch einmal die Eroica aufführte, würde ich mir an jener Stelle (beim Eintritt des Es dur im Horn):


19. Das Ende

das as der zweiten Violine bestimmt in g umgeändert ausbitten.‹ Bekanntlich hatte er diese Änderung noch bei der letzten von ihm geleiteten Wiener Aufführung [767] der Eroica (12. Mai 1872) zum Entsetzen aller Buchstabengläubigen wirklich angeordnet.12

Wir fügen hier einen Bericht Dr. Kepplers über diese Tage ein, für dessen Exaktheit wir ihm die Verantwortung ganz überlassen müssen. Am Sonnabend abend habe er zwischen 6 und 7 Uhr den Meister infolge seiner Unterredungen mit Levi (ein Mißverständnis) infolge der Erkrankung Levis, die sehr verstimmend auf ihn wirkte, in ungewöhnlicher Erregung angetroffen, obschon dem Anschein nach wohler, als in der letztvergangenen Zeit. ›Ich glaube‹, habe der Meister gesagt, ›es dürfte meiner Stimmung zuträglich sein, während einiger Tage aus dem Einerlei meines hiesigen Lebens zu kommen und in Begleitung Siegfrieds einen kleinen Ausflug zu machen!‹Dr. Keppler stimmte dieser Ansicht vollkommen bei und riet Verona oder auch Bologna, beides in drei Stunden, also ohne Anstrengung von Venedig aus zu erreichen. Die Aussicht auf diese kleine Fahrt schien Wagner großes Vergnügen zu verursachen, und er unterhielt sich mit Dr. Keppler über die schöne Lage Veronas, den interessanten Charakter dieser Stadt und dgl. mehr. ›Gleich Montag will ich meine Anstalten zu diesem kleinen Ausfluge treffen.‹ Sonntag, den 11, regnete es nahezu den ganzen Tag, was den Meister wie gewöhnlich verstimmte; er verblieb während des größeren Teiles des Tages in seinem Arbeitszimmer und schien besonders beschäftigt. Am Nachmittag sah er wiederholt zum Fenster hinaus, konsultierte das Barometer und entschloß sich endlich für einen Gang zu Faß ins Freie, und zwar ohne Begleitung Allein es währte keine zehn Minuten, so kehrte er auch schon wieder heim, beide Hände auf die Brust gedrückt, wie jederzeit, wenn er Mangel an Luft litt, und in sichtlicher Verstimmung. Er klagte während dieses Tages bald über dieses, bald über jenes, und war ungewöhnlich reizbar. Gegen Abend wurde sein Befinden besser und auch seine Stimmung wieder eine normale.Dr. Keppler fand ihn im Vergleich zum vorhergehenden Tage erstaunlich wohl und freute sich dessen; der Puls war regelmäßig und die bedenkliche Erregtheit gewichen. Das Gespräch fiel abermals auf den geplanten Ausflug, dem Barometer gemäß würde sich das Wetter in den nächsten Tagen zum Bessern wenden und die Fahrt begünstigen.13 Was wir von den vorstehenden Einzelheiten kontrollieren konnten, entspricht annähernd der Wirklichkeit. Der Aufenthalt im Arbeitszimmer bezieht sich darauf, daß an diesem Tage die Arbeit ›Über das Weibliche im Menschlichen‹ tatsächlich von ihm angefangen wurde, und wir wissen [768] aus anderer Quelle, daß er um 12 sein Zimmer verlassen, mit der scherzenden Äußerung: er habe seine Arbeit begonnen und zwar so stark gepfeffert, daß Wolzogen sie wohl nicht werde drucken wollen. Den Aufsatz ›Heldentum und Christentum‹ halte er für sein Bestes, aber Gobineau, der so weit und scharf gesehen, habe dabei nicht genug in die Tiefe geblickt. Bekanntlich beginnt dieses hinterlassene Fragment mit einem Zitat aus ›Heldentum und Christentum‹ und der Erklärung des Rassenverfalles durch die nicht aus Liebe, sondern aus Rücksichten auf den Besitz geschlossenen Ehebündnisse. Hier lag für ihn die eigentliche, bei Gobineau noch vermißte Erkenntnis, die ›Tiefe‹ des Rassengeheimnisses, das Problem, an dessen nähere Betrachtung er zu schreiten im Begriffe stand. Er hoffte, sogleich im Eingang die Motive klar hingestellt zu haben. – Gleichsam als eine Nachfeier des gestrigen Joukowskyfestes, und auch in Ermangelung einer anderen Auswahl an Lektüre hatte er abends für die gemeinsame Lektüre Fouqués ›Undine‹ gewählt, in einem mit weißem Papier durchschossenen Exemplar, auf dessen dem Text gegenüber befindlichen leeren Seiten Joukowskys Vater einst seine russische Übersetzung der Fouquéschen Dichtung geschrieben. Über die zahlreichen darin vorkommenden Kleckse machte er manchen Scherz; die gereimten Stellen ließ er meistens aus, die Erzählung aber fesselte ihn mit ihrem eigentümlichen Reiz. ›Wagner war sehr ergriffen von der Poesie dieser Wasserwelt und erzählte am andern Morgen, daß er die ganze Nacht davon geträumt habe‹ (Joukowsky).

Am Montag verabschiedete sich Levi, der recht angegriffen schien und nun wieder nach München in sei nen Dienst zurück mußte. Der Meister hatte vormittags an seinem Aufsatz weiter gearbeitet; bei Tisch berichteten die Kinder und Joukowsky allerlei Drolliges von der letzten Soiree bei der Fürstin Hatzfeldt, was ihn amüsierte und zu den drastischesten Witzen und Anekdoten ermunterte, insbesondere alten Orchestergeschichten, über die er selbst nicht genug lachen konnte. Viel sprach er in diesen letzten Tagen von seiner Mutter. Am Nachmittag fuhr er mit der jüngsten Tochter Eva aus und erzählte bei seiner Heimkehr, daß er sie bei Lavena mit Schokolade bewirtet. Auch von Liszt war in diesen Tagen viel die Rede. Diesen hatte man mit der Aufforderung belästigt, für die ›Überschwemmten‹ ein Konzert zu veranstalten, und er sich in einem öffentlichen Briefe entschuldigt, daß ihm dies unmöglich sei. Er äußerte sich teilnehmend über die schlimme Lage Liszts, immer als Klavierspieler aufgefaßt zu werden, wie auch über das Schlimme einer solchen Laufbahn an sich, die eine solche Erregung über ihn gebracht, daß er nur zu den äußersten Gegenmitteln greifen konnte. Aber er habe sich schließlich als großer Mensch aus der schlimmen Sache gezogen. In einem weiteren, in der Zeitung abgedruckten Brief hatte er sich selbst, wie Wagner, in der Judenfrage zu rechtfertigen gesucht. Der Brief war nach [769] des Meisters Ansicht sehr gut geschrieben; doch bedauerte er, daß er sich überhaupt bewogen gefühlt habe ihn zu schreiben. Er hob hervor, daß es die Fürstin Carolyne sei, die ihn in all dieses Elend gebracht, und sagte zu Frau Wagner: ›Dein Vater geht aus lauter Chevalerie zugrunde.‹ Die Tischunterhaltung beim Abendbrot bezog sich hauptsächlich auf das Meer und seine Geschöpfe; weiterhin auf die raffinierten Erfindungen der Gesellschaft zum Schutze des Eigentums (S. 765). Dann wurde die gestrige Lektüre der ›Undine‹ wieder vorgenommen, deren ersten Teil er der heutigen Fortsetzung vorzog. Wieder kam ein langes Gedicht darin vor; er las auch dieses, fügte dann aber hinzu: ›das hätten wir uns ersparen können‹. Er war den ganzen Abend über sehr ruhig und mild, und sah herrlich aus. Frau Wagner reichte Joukowsky ihr Notizbuch, und dieser zeichnete schnell und schön auf ein Blatt desselben die Züge des Meisters, während er vorlas. Er wollte sich heute gar nicht von den Seinigen trennen: ›Kinderchen, bleibt doch noch‹, sagte er immer, und so wurde es sehr spät. Er bat sogar Joukowsky, die Nacht in Vendramin zuzubringen, was dieser aber nicht konnte. Vorher hatte er sich noch an das Klavier gesetzt und eine (zierlich auf ein schönes Blatt geschriebene) wundervolle Melodie gespielt, die er in diesen Tagen unter seinen Papieren gefunden, und die eigentlich in das für Frau Wagner bestimmte Exemplar des ›Parsifal‹-Klavierauszuges mit hatte eingebunden werden sollen; darauf ein paar Takte aus einem neu ihm eingefallenen Scherzo. Als gegen 11 Uhr sich alles getrennt hatte, spielte er noch – wohl durch eine unwillkürliche Ideenassoziation mit der vorausgegangenen Lektüre – den Schluß des ›Rheingold‹, die Klage der Rheintöchter mit ihrem ›Falsch und feig ist, was dort oben sich freut!‹ – ›Wie gut‹, fuhr er dann fort, ›daß wir schon zeitig es erkannt haben, daß es traulich und treu nur in der Tiefe ist!‹ Er sprach dann von den Undinen-Wesen, die sich nach einer Seele sehnen: ›ich bin ihnen gut, diesen Wesen der Tiefe, diesen sehnsüchtigen‹. Und vor dem Schlafengehen sagte er noch zu seiner Frau: ›wärst Du auch eine solche?‹ Er blieb dann noch lange auf, und sprach viel mit sich, als wenn er dichtete. Spät legte er sich zur Ruhe. – Es war der letzte Abend seines Lebens.

Es ist bezeichnend, daß er sich bis in diese letzten Tage seine völlige Elastizität und Jugendlichkeit erhielt und die Krampfanfälle immer nur zeitweilig seine Rüstigkeit und Beweglichkeit lähmten. Als einmal Frau Wagner erkältet war und er seinen Ausgang zu Fuße durch die belebten Gäßchen allein machen mußte, sagte er zu ihr: es sei auch besser so; wenn es auch dumm sei, so schäme er sich doch, wenn er mit ihr gehe, seiner Anfälle und der Nötigung, langsam zu gehen. So wenig entsprach dieser Zwang seinem ganzen Wesen. Es gab für ihn kein allmähliches Altern und Dahinsiechen, und wenn Die, die ihn liebten, nach den vorhin angeführten Worten eines [770] so hingebenden Verehrers und Jüngers, wie Joukowsky, überhaupt in die Lage geraten konnten, seine Klagen für ›Übertreibungen‹ zu halten, so lag dies daran, daß er unter Umständen schon in der nächsten halben Stunde eben diese ›Klagen‹ selbst Lügen zu strafen schien. Seine Leiden bestanden in dem geheimen Ringkampf einer in sich gefunden Natur, die mit all ihren physischen und moralischen Hilfsmitteln dem unsichtbaren inneren Feinde widerstrebte und nur den andauernden Erschütterungen seines Organismus schließlich erlag. Selbst der behandelnde Arzt hatte bis zum letzten Augenblick keine eigentliche Besorgnis für ihn gehegt. Das einzige, was in diesen letzten Monaten seines Daseins an ihm auffiel, war die immer mehr an ihm vorwiegende Milde und Heiterkeit. Nicht allein diejenigen, die ihn täglich vor Augen hatten, spürten dies deutlich; sondern noch mehr, die ihn mit Unterbrechungen im Zwischenraum einiger Monate sahen. So Adolf Groß, der ihn zuerst im Dezember, dann im Januar besuchte, beidemal aus dringender Notwendigkeit und in Angelegenheiten, die ihn der Natur der Sache nach aufregen mußten. Das erstemal habe er ihn noch sehr erregt und heftig gefunden, das zweitemal nicht mehr. Er habe erklärt, er werde sich ›über nichts mehr ärgern‹. (Vgl. dazu den wörtlichen schriftlichen Ausdruck desselben Vorsatzes aus denselben Tagen auf S. 754.) Und so sei es auch wirklich gewesen; er habe sich über nichts mehr geärgert, sei nur noch ›Milde und Heiterkeit‹ gewesen. Noch ein fernerer Zug wurde uns hervorgehoben, der allerdings nicht erst bloß für diese letzte Lebenszeit seine Geltung hatte. Man habe nichts vor ihm verbergen können; er habe immer alles gewußt. Wenn Frau Wagner ihn mit irgend etwas überraschen wollte, so habe er in der Nacht davon geträumt und es ihr am Morgen gesagt. Fremden gegenüber geschah dies Durchschauen oft in völlig dämonischer Weise: er erkannte die schwachen Seiten seines jedesmaligen Gegenüber mit durchdringender Schärfe des Blickes, und so geschah es, daß er, ohne jemand damit kränken zu wollen, gerade die wundesten Punkte desselben berührte. Und war es nicht so seiner ganzen Zeit gegenüber, mit all ihrem prahlenden Selbstbewußtsein? War er nicht der Prophet, der alles vorausdachte, worauf andere erst in Jahrzehnten kamen? Sind nicht die Gedanken, mit denen er damals allein dastand, in späteren Zeiten – soweit dies bei den Gedanken des Genius überhaupt möglich ist – in gewissem Maße Gemeingut geworden? Oder er beglückwünschte jemand zu dessen, keineswegs publizierter und ihm daher völlig unbekannt gebliebener Verlobung. Dies war ihm, wenn wir nicht irren, gelegentlich eines Besuches des Dr. Strecker begegnet, der darüber höchst erstaunt war. So hatten die Kinder eben damals – in den Zeiten der allverbreiteten Photographie – den Gedanken gefaßt, bei dem eben in Venedig beliebten Holzschnittkünstler Begarel sich ihm zur Überraschung portraitieren zu lassen, und gerade am Dienstag den 13. Februar habe Daniela zum erstenmal [771] dazu sitzen sollen; da habe er kurz zuvor (am Montag?) gesagt: ›Kinderchen, ich werde euch in Holz schneiden lassen.‹ Natürlich lag es ihm durchaus fern, eine solche ihm zugedachte Überraschung auch nur mit entferntem Bewußtsein verderben zu wollen; aber seine Gedanken waren – im kleinen, wie sonst im großen – unbewußt denselben Weg gegangen und den ihrigen zuvorgekommen.


›Nun nahen wir uns‹, schreibt Joukowsky in seinen uns zur Verfügung gestellten vertraulichen Aufzeichnungen, ›dem grauenhaftesten Tage meines Lebens. Am 13. Februar kam ich, wie täglich um 3/42 Uhr, zum Mittagessen in den Palazzo Vendramin und fand zum ersten und einzigsten Mal Frau Wagner am Klavier. Sie spielte Siegfried Schuberts »Lob der Tränen« vor, und ihre eigenen Tränen flossen dabei. Wir plauderten ein wenig, bis gegen 2 Uhr der Diener Georg eintrat mit der Meldung: der gnädige Herr fühle sich nicht ganz wohl, wir möchten ruhig anfangen zu essen. Wir gingen zu Tisch; aber vorher getraute sich Frau Wagner noch einmal in des Meisters Arbeitszimmer und kam mit der Nachricht zurück: »Mein Mann hat seinen Krampf und zwar ein wenig stark; aber es war besser, daß ich ihn allein ließ.« Sie setzte sich mit uns zur Tafel, wir waren heiter und guter Dinge, wie immer. Plötzlich, mitten im Gespräch, hörten wir seine Glocke zweimal heftig läuten, worauf die Kammerjungfer bleich und aufgeregt zu uns hereinstürzte: »die gnädige Frau möchte gleich zum Herrn kommen«. Frau Wagner sprang sogleich von ihrem Platze auf und lief zu ihm, wobei sie sich noch in der Eile heftig an der Tür des Speisezimmers stieß. Die Kammerjungfer Betty schickte ihrerseits alsbald den Gondolier zum Arzt. Wir übrigen, anfänglich durch ihr verstörtes Wesen ganz entsetzt, sprachen noch darüber, wie schon öfters in ähnlichen Fällen Dienstboten durch leichtsinnige Redensarten einen unnützen Schrecken verursacht, und begaben uns nach beendetem Mittagsmahl in den Salon. Nach einiger Zeit (ungefähr um 3 Uhr) hörten wir, Dr. Keppler sei da, was uns vollständig beruhigte; denn ähnliches war schon oft vorgekommen. Unterdessen waren die bestellten Gondeln angelangt, die uns alle, nach des Meisters Anordnung, um 1/24 Uhr zum Maler Wolkoff bringen sollten, um dessen Haus zu besichtigen. Wir überlegten eben, ob wir die von Wagner selbst arrangierte Partie ohne seine und seiner Gemahlin Gegenwart ausführen sollten oder nicht. Als Daniela hinausging, um Wolkoff die Absage mitzuteilen, gab sie der Kammerjungfer den Auftrag, Dr. Keppler jedenfalls vor seinem Weggang zu uns zu führen; denn es wunderte uns, daß er so lange blieb. Sie schrieb die Zeilen an Wolkoff und begab sich mit den anderen in das, an des Meisters Arbeitszimmer stoßende Gemach, als Georg schluchzend eintrat und,[772] zu Daniela gewandt, sagte: »Ach, gnädiges Fräulein, der gnädige Herr ist tot.« Ich hatte nur noch Zeit, sie an den Händen zu fassen, da sie umsinken wollte. In Korridor und Küche erhoben sich Verzweiflungsrufe, die Leute stöhnten und schrien laut. Nach einigen Minuten heftigster Erschütterung kam Dr. Keppler auf uns zu: »es ist nichts zu machen«, sagte er zu den Kindern, »Ihr Herr Vater ist tot«. Eine Weile darauf rief er Siegfried und führte ihn in das Sterbezimmer; bald trug er ihn wieder heraus und legte ihn in sein Zimmer auf das Bett, wo sich auch die anderen Geschwister einfanden. Was wir alle in diesen Tagen erlebt und empfunden haben, gehört nicht vor die Öffentlichkeit.‹

Die ehrfurchtsvolle Scheu vor dem Ungeheuren, welche den Erzähler hier abbrechen läßt, waltet auch in uns, und doch dürfen wir uns ihr an dieser Stelle nicht hingeben. Vielmehr werden wir es versuchen, den ganzen Verlauf der Vorgänge jenes verhängnisvollen Dienstags auf Grund authentischer schriftlicher und mündlicher Mitteilungen, ohne Quellenangabe im einzelnen, der Reihe nach genau so wiederzugeben, wie wir ihn in Erfahrung gebracht.

Bereits in der Frühe des 13. Februar, als er sich von der Nachtruhe erhob, sprach er zu seinem Diener Georg die bezeichnenden Worte: ›heute muß ich mich in acht nehmen‹. Trotzdem nahm er das Morgenfrühstück noch, wie immer, mit seiner Frau ein; dann begab er sich auf sein Zimmer: man möchte ihn heute nicht stören, er wolle arbeiten. Die Arbeit, die ihn beschäftigte, war die Abhandlung ›über das Weibliche im Menschlichen‹. Draußen regnete es in Strömen, und der Himmel zeigte ein undurchdringliches Gran. Da er bis zum Mittagessen nicht in seinen Gedanken unterbrochen werden wollte, kam niemand zu ihm; die Vormittagstunden vergingen eine nach der anderen, ohne daß er nach der Dienerschaft geschellt oder einen Wunsch geäußert hätte. Er ging dabei seiner Gewohnheit gemäß im Zimmer auf und ab, und setzte sich dazwischen an den Schreibetisch. Es ist nicht ganz genau festzustellen, wann der Krampf seinen ersten Beginn nahm. Als er gegen 2 Uhr den Diener Georg abschickte, war er schon im Ringen mit dem Anfall, worauf sein Auftrag hinweist: er sei nicht ganz wohl, man möge ohne ihn zu speisen anfangen. Als Frau Wagner zu ihm eintrat, schickte er sie zunächst von sich fort, um seinen Krampfanfall, wie er es gewohnt war, allein zu bewältigen; sie ließ aber Betty Bürkel im angrenzenden Schlafzimmer (neben dem Arbeits- und Ankleideraum des Meisters) zurück, falls er doch etwas bedürfte. Die treue Dienerin vernahm ein sich steigerndes heftiges Aufstoßen und Stöhnen; er saß an seinem Schreibetisch, hatte die Kappe vor sich liegen und schien den Ausgang – wie so oft – ruhig abwarten zu wollen. So furchtbar jedoch, wie diesesmal, berichtete sie später, habe er noch nie geächzt und gestöhnt. Plötzlich zog er heftig die Klingel, und als [773] Betty Bürkel hereinstürzte, rief er, vor Schmerzen kaum der Sprache mächtig: ›Meine Frau und der Doktor!‹ Verstört und zitternd richtete sie den Befehl aus, und Frau Wagner eilte zu ihm. Sie fand ihn bereits im heftigsten Ringen: immer gewaltsamer hatte der Krampf sich entwickelt, und er konnte ihn weder durch Niederdrücken, noch auch durch Einnehmen eines scharfen Medikamentes abschwächen. Die ihm sonst in ähnlichem Fall wohltätigen warmen Umschläge wies er diesmal zurück, und seine Ausrufe eines großen Schmerzes und schwerer Beklemmung waren mehr ein Stöhnen als ein Sprechen zu nennen. Während dieser Kämpfe muß wohl in seinem Herzen ein Blutgefäß gesprungen sein, dessen Ruptur dann den Tod herbeiführte. Ermattet ließ er sich in der Abteilung des Zimmers, welche sein Ankleideraum war, auf ein kleines Bänkchen nieder. Frau Wagner saß neben ihm, er an sie gelehnt; der Diener Georg hatte ihn vorher von einigen lästigen Kleidungsstücken befreit; während des Aufräumens fiel die schöne, ihm von seiner Gemahlin geschenkte Taschenuhr, tief sinnig bedeutungsvoll geziert, aus der Westentasche auf den Teppich, und er rief von seinem Sitz aus die Worte, die seine letzten sein sollten: ›Meine Uhr!‹ Danach schloß er ermattet die Augen; sein letzter Blick, der nur Milde, Güte, Frieden war, wurde von ihr, deren Blicke den seinen begegneten, aufgenommen. Georg wollte wahrgenommen haben, daß er zweimal mit den Schultern aufgezuckt habe, was die edle hohe Frau an seiner Seite, die nur besorgt war, daß lautlose Ruhe seinen Schlummer begleitete, nicht bemerken konnte. Noch hütete sie diesen sanften Schlummer, aber er war bereits in ahnungslosem, Frieden für ewig entschlafen. Doktor Keppler trat ein, fühlte, daß der Puls nicht mehr schlug, sagte aber laut: ›es ist noch nicht alle Hoffnung aufzugeben‹. Erst hierdurch kam es der Meisterin zum Bewußtsein, was vor sich gegangen war. Keppler bespritzte und rieb den Körper; nach fruchtlosen Mühen trug er ihn auf das im gleichen Zimmer befindliche Ruhebett; die von ihm Verlassene sank in wortloser Betäubung zu seinen Füßen nieder, fest seine Knie umklammernd.

Die nun folgenden Stunden und Tage sind bis in die kleinsten Züge fest in der Erinnerung der Angehörigen eingeprägt; aber hier gilt mit Recht das Wort Joukowskys: was wir alle dabei erlebt und empfunden haben, gehört nicht vor die Öffentlichkeit. Es gibt Heiligtümer, an welche nicht gerührt werden darf und soll. ›Ich kann Ihnen, teurer Meister‹, schreibt Joukowsky eine Woche später an Liszt, ›keinen Bericht über die letzten in Venedig verbrachten Tage geben; unsere Gefühle teilten sich nur zwischen unserem Schmerz und der äußersten Befürchtung, auch Ihre Frau Tochter zu verlieren.‹14 Der tränenstarre Blick der verwaisten Kinder, überwältigt von andächtigen[774] Schauern, folgte den einzig auf ihn gerichteten Augen der Mutter. Es war zwischen 5 und 6 Uhr; durch die rosa Gardinen fiel ein mattes Dämmerlicht und warf einen sanften Schein auf das geliebte bleiche Antlitz; sein Kopf war zurückgeneigt, die Augen fest geschlossen, durch die Lider hindurch aber vermeinte man das gütige Lächeln auf den Seinen ruhend wahrzunehmen, der seine Mund war halb geöffnet, als verlange er nach Luft, die Hände ruhten zu beiden Seiten der Gestalt. Die verschiedenen weltlichen Pflichten übernahm Daniela, indem sie zunächst zur Fürstin Hatzfeldt schickte und die nötigsten Telegramme versandte: an Adolf Groß (als Vormund); an Herrn von Bürkel, für den König; an E. v. Michalowich für Liszt; an Tascas für das Gravinasche Paar. Mittlerweile hatte sich das Gerücht überallhin durch die Stadt verbreitet; die Freunde wurden durch Joukowsky empfangen, die Fürstin Hatzfeldt durch Daniela. Draußen wütender Sturm und Regen, Depeschen von allen Seiten die Stille unterbrechend; nur zu der erhabenen edlen Frau drangen sie nicht; sie weilte die ganze Nacht auf den Mittwoch bei dem erstarrten Leichnam, immer leise ihm zuflüsternd, was die unsäglich tiefe Empfindung ihrer Liebe ihr in der Stunde des Scheidens eingeben konnte. ›Nicht allein sollte er die erste Nacht im Reiche des Todes zubringen – nicht allein – sie wollte über ihn wachen, solange man ihr seine irdische Hülle noch nicht entrissen, in das geliebte Antlitz blicken, solange sie noch dieses Anblickes teilhaftig werden konnte. Und die ganze lange Nacht blieb sie ihm zur Seite, allein bei ihm, ohne zu sprechen, ohne einen Tropfen Labung zu sich zu nehmen; sie kannte nur die eine Pflicht, bei ihm zu bleiben, der sie im Leben so namenlos, so unveränderlich geliebt, dessen großes tiefes Herz sie so voll und ganz besessen!‹ Fünfundzwanzig volle Stunden war sie nicht von ihm loszureißen; erst am Mittwoch gegen 5 Uhr gelang es Dr. Keppler sie hinwegzutragen. Er hatte ihr vorher versprechen müssen, sie sicherlich zu rufen, wenn er den Leichnam waschen und balsamieren würde, erklärte aber gleich darauf, dies würde ganz unmöglich sein.

Intwischen war allen denen, die ihre Reise nach dem Orte der Trauer angekündigt, energisch abbestellt: sie sollten nicht kommen, weder Liszt, noch der junge Graf Gravina, bloß die beiden Groß, Mann und Frau, von Bayreuth. Die Dienerschaft war mit Packen beschäftigt, Konsul, Bankier, Fremde und Freunde kamen und gingen, viel Fragen, viel Rennen, schwer zu ertragen. Nachmittags erschienen wiederum die Freunde Fürstin Hatzfeldt und der Maler Passini, letzterer, um mit allen Kräften es durchzusetzen, daß der Bildhauer Benvenuti dazu gelange, die Totenmaske in Gips abzunehmen. Hierfür war ein großer Widerstand zu überwinden, da Frau Wagner es nicht wünschte;15 am Ende kam es doch dazu, nachdem zuvor Dr. Keppler [775] mit Hilfe seines Assistenten den Leichnam in Siegfrieds Zimmer getragen und die Einbalsamierung vorbereitet hatte.

In der Frühe des folgenden Tages – Donnerstag, 15. Februar – kam um 6 Uhr das Ehepaar Groß, tief erschüttert und gleich, wie es ihre Art war, liebevoll tatkräftig in alles eingreifend. Während Frau Groß sich der Kinder annahm, besorgte Adolf Groß mit Passini und dem Bankier Reithmeyer wichtige und schwere Gänge. So z.B. war die Frage wegen des Sarges (auf Frau Wagners Wunsch mit Glasdeckel), der aus Wien kommen sollte, und tausenderlei anderes zu besprechen und zu bestimmen. Die Dulderin selbst widerstrebte zuerst einem Wiedersehen; dann lud sie die teuren Freunde doch zu sich ein; beide knieten vor ihr nieder, und sie erklärte Groß, daß sie ihn nach dem Willen ihres Mannes zum Vormund ihrer Kinder mache. Tief ergriffen verließen sie die schwer Leidende, deren einziger Wunsch es war, alles Fremde von dem Dahingeschiedenen fernzuhalten. So hatte sie gebeten, an Wolzogen zu schreiben, daß bei der Bestattung bloß sie und die Kinder gegenwärtig sein dürften; auch wünschte sie in einem Sonderzug allein mit dem Sarge zu reisen, ohne weiteres Publikum im gleichen Zuge, was eine Unmöglichkeit war, worüber Dr. Keppler sie jedoch noch im unklaren ließ. Dumpf und schwer verging dieser Vormittag für alle Angehörigen; die für den folgenden Morgen verhoffte Abreise war mehr als fraglich; Großens treue Sorge fand alles in Konfusion, dazu hatte er beständig damit zu tun, Zeitungsschreiber, Abgesandte von Magistrat und Konservatorium von den Trauernden abzuhalten. Um 3 Uhr sollte Dr. Keppler kommen, um den Leichnam zu waschen, vollends zu balsamieren und anzukleiden. Schon vorher hatte Frau Wagner sich durch ihre Töchter ihr schönes langes blondes Haar abschneiden lassen, das er so sehr geliebt, um es dem Toten auf die Brust in den Sarg zu legen. Dann ließ sie sich in das Sterbezimmer führen, und die Kinder nebst Frau Marie Groß waren ihr dabei behilflich, die zuletzt von ihm getragenen oder berührten Gegenstände, die Kappe, die Kravatte, bis zur letzten Nadel aufzunehmen und einzupacken, während sie selbst darauf wartete, zum Waschen und Ankleiden ins Nebenzimmer abberufen zu werden, wo sie schon Stimmen hörte. Es war schwer sie zu beruhigen, denn Dr. Keppler durfte sie erst rufen, wenn die Leiche fertig balsamiert und gekleidet war, was eine Arbeit von mehreren Stunden erforderte, und auch dann durfte sie den Toten wegen der scharfen Giftstoffe [776] nicht berühren, nur auf wenige Augenblicke sehen. ›Froh war ich‹, erzählt Daniela, ›als Passini mich zwang an die Luft zu gehen, um mich mit ihm auf die Eisenbahnstation zu begeben, wo allerlei zu besorgen war. Wir besichtigten dort den Salonwagen; er telegraphierte nach dem Sarge, der noch nicht eingetroffen war, und führte mich auf Umwegen wieder nach Hause. Wir gelangten schwer ins Haus, es war‹ (wegen des beständigen unerhörten Zudranges von außen) ›alles verriegelt; wir mußten auf den Boden der Bardischen Wohnung und dann wieder hinuntersteigen. Die Vorstellung, daß auch Mama gestorben sei, und der Geruch des Balsamierens, der das ganze Haus erfüllte, betäubten mich; als ich mich wieder gefaßt hatte, stand Hans Richter da und umarmte mich. Er war sogleich aus Wien herübergeeilt. Joukowsky half Keppler bei der Arbeit – es war dunkel geworden, wir saßen im Sterbezimmer um Mama. Sie war ruhig, aber voll tiefen Jammers; Keppler hatte ihr gesagt, daß er sein gegebenes Wort nicht einlösen könnte. Endlich, endlich, es war zwischen 6 und 7 Uhr, öffnete er die Tür, das Zimmer war erleuchtet, Papa lag auf dem Tische in seinem schwarzen Atlasgewand, unverändert, so schien es uns, wir sahen ihn nur von fern. Keppler führte Mama hinein, sie legte ihre Haare (in einem roten Plüschsäckchen eingeschlossen) auf seine Brust und kniete zu seinen Füßen nieder. Nach Ablauf von zwei Minuten näherte sich ihr Dr. Keppler, um sie mit fortzunehmen – sie leistete ihm Widerstand. Nach 6–8 Minuten wurde er sehr aufgeregt, Groß bat sie auf das flehentlichste sich zu entfernen, sie folgte ihm.‹ Es war wegen der Befürchtung einer Vergiftung mit dem stark arsenhaltigen Balsam, daß man eine nochmalige Berührung des Leichnams durch ihre Hand oder ihren Mund befürchtete; man verschloß daher sorgfältig die zwei Türen des Zimmers von außen, ohne zu bemerken, daß sie inzwischen ungesehen durch eine dritte Tür (die zur Stube Georgs führte) wieder eingetreten und nun mit eingeschlossen war. Sie beruhigte den erregten Arzt damit, daß sie erklärte, sie habe nichts getan, was unrecht wäre: ›Ich habe nur mit Ihm allein sein wollen; nun gehe ich nicht wieder hinein‹, ließ sich von ihm versprechen, sie zu rufen, wenn er morgen den Sarg schlösse, und sich dann zu Bett bringen.

In der Frühe des 16. Februar (Freitag) war der schwere, prächtige, oben mit einem Kruzifix, an der Seite mit vier Löwenköpfen geschmückte Bronze-Sarkophag, im Innern mit einem hermetischen Metalleinsatz samt Glasausschnitt versehen, in Vendramin eingetroffen; die Einsargung erfolgte um die Mittagszeit, und nun berief Dr. Keppler seinem Versprechen gemäß die tief gebeugte Leidtragende in den Raum. Der innere Glasverschluß war bereits über die irdische Hülle des Toten gelegt und wurde in ihrer Gegenwart angelötet; sie selbst half dann beim Verschluß des äußeren Sarges mit, dessen Schlüssel sie an ihrem Halse befestigte. Noch glaubte niemand an die [777] Möglichkeit, heute von Venedig fortzukommen, aber es war durch die Umsicht der Freunde doch alles soweit vorbereitet. Um 1/212 war mit der Abfertigung von Kisten und Koffern der Anfang gemacht, welche auf speziellen Gondeln nach dem Bahnhof gebracht wurden; verschiedene Möbelstücke, welche dem besonderen Gebrauch des Verewigten gedient hatten und jetzt als teure Reliquien behandelt wurden, nahmen eine Gondel für sich ein und sollten in einem Personenwagen mitgenommen werden, um gleichzeitig mit der Familie den Weg nach dem Norden zurückzulegen. Um 1 Uhr wurde der Sarg durch den Saal gebracht, ihm folgten Hans Richter, Joukowsky, Keppler, die Maler Passini und Ruben, Graf Contin und Prof. Frontali; in ehrfurchtsvollem Schweigen trugen sie ihn die breite Treppe hinab zur Gondel. Inzwischen war die hohe Frau angekleidet und in die vorderen Räume begleitet worden, wo sie von allen Abschied nahm; dann stieg sie, von Frau Marie Groß und Siegfried geführt, die Stufen zur Gondel hinab. Ihre tiefverschleierte, hochgewachsene, sonst so aufrechte Gestalt schien völlig gebrochen. Ihr folgte Passini mit Daniela, die Herren Joukowsky und Ruben führten die beiden jüngeren Töchter, Isolde und Eva. In tiefster Stille durchschritten die Leidtragenden die ehrerbietig Platz machende, vom Schmerze der Trauernden sichtlich ergriffene Menge. Lautlos betraten sie die schwarzgedeckten Gondeln, lautlos glitten die Fahrzeuge die ausgedehnte Wasserfläche des Canal Grande entlang, vor ihnen das Schifflein mit dem – reich mit Lorbeer und Palmen geschmückten Sarkophag. Die strahlendste Sonne schien ihrem Fortgang, sich in der blaugrünen durchwärmten Wasserflut spiegelnd; schwermütig neigten die Bäume vom Garten des Vendraminpalastes ihre vom Winde sanft bewegten Zweige, als wollten auch sie, an deren Anblick er so oft sich erfreut, ihm ihren Scheidegruß nachwehen.

Am Bahnhof angelangt, fanden sie diesen durch die Sorge des trefflichen Adolf Groß gegen das Publikum abgesperrt und nur einige Spitzen der Behörden zugegen, die es sich nicht nehmen ließen, dem großen Toten durch diese ihre Anwesenheit eine letzte Ehre zu erweisen. Der schwarz dekorierte Totenwagen, den die Wiener Firma, die den Sarg geliefert,16 nach Venedig gesandt hatte, stand zur Aufnahme der Leiche bereit; an diesen schloß sich der Salonwagen, in welchem die Familie Platz nahm; beide Wagen wurden an den um 2 Uhr abgehenden Schnellzug angehängt; erst von Vicenza aus sollte der Trauerkondukt über Verona, Ala, Kufstein, München mittelst vorausbestellten Extrazuges die Weiterfahrt nach Bayreuth fortsetzen. Großens geleiteten Frau Wagner zum Salonwagen, wo man sie in einem kleinen Kupee neben[778] dem größeren Raum des Salonwagens auf ein Ruhebett legte, die kleine Bank, auf welcher der Verstorbene eingeschlummert war, stand neben ihr. Die Kinder nebst den Freunden Joukowsky und Richter nahmen in dem größeren Raume Platz, die Vorhänge waren zugezogen. Dr. Keppler fuhr – über die nächste Station Vicenza hinaus – bis Verona ebenfalls mit, und verabschiedete sich erst dort. Frau Marie Groß begab sich jede halbe Stunde zu der Leidenden, um nach ihrem Befinden zu sehen; anfangs war ihr auch das zuviel, sie wollte allein sein, später ließ sie sie sogar holen. Das betäubende Rütteln des Eisenbahnwagens war ihnen allen wohltätig, schrecklich das Anhalten. In Innsbruck, wo die Kinder und Freunde wegen des etwas längeren Verweilens ausstiegen, trafen sie auf Levi und Porges, – Levi, der sie ja erst soeben (am 12. Februar, S. 769) verlassen! Die Leidtragende, die nun seit drei Tagen nichts mehr als etwas Bouillon oder Marsala zur nötigsten Stärkung zu sich genommen, genoß hier ein wenig Milch; von Fürstin Hatzfeldt und Passini waren telegraphische Anfragen über ihr Befinden da. In Kufstein fand sich Herr von Bürkel ein, mit einem Brief des Königs, den einstweilen Daniela entgegennahm. An der bayerischen Grenze wurde auf der Station eine Ansprache so laut gehalten, daß es bis zu den Ohren der hohen Leidenden drang; auf allen Stationen wurden Kränze gebracht, und Groß hatte Mühe, die Wege telegraphisch soweit vorzubereiten, daß man nicht überall Reden hielt oder musikalische Demonstrationen veranstaltete, was für die Schwererschütterte, die lautlos auf dem Ruhebette lag, tödlich hätte werden können. Glücklicherweise zeigten sich all diese Gesangvereine und sonstigen Beileidbezeigenden gutwillig genug, von ihren Veranstaltungen wenigstens so lange abzulassen, als der Zug hielt. Am Sonnabend, 17. Februar, drei Uhr nachmittags traf der Zug in München ein, wo er durch eine lange Reihe niedergesenkter Fackeln von ›Münchener Künstlern‹ hindurchfuhr. Man hatte dort vorher den Trauermarsch aus der ›Eroica‹ gespielt, die Ankommenden bekamen davon nichts mehr zu hören, und auch während ihres Aufenthaltes schwieg die Musik. Eine ungeheure Volksmenge mit Fackeln und Blumen füllte den Bahnhof an; die Neugier war so groß, daß die Leute sogar an die Fenster des Salonwagens stiegen, um die Schwerkranke in ihrem Leiden zu sehen, bis der Wagen vom nächsten Schienenstrang weggerückt wurde. Die Kinder verließen den Wagen, um mit den begleitenden Freunden – und der hier angetroffenen Familie Staff – in einem kleinen reservierten Salon das Mittagsmahl einzunehmen; auch die Leidende nahm wieder etwas Milch zu sich. Gegen vier Uhr setzte der Zug sich wieder in Bewegung, man hörte gerade noch den ersten Trompetenstoß der Trauermusik aus der ›Götterdämmerung‹. ›Wer will sein Ohr vor der Musik verschließen, wenn sie durch die dickesten Mauern zu uns dringt?‹ hatte er noch vor wenigen Jahren geschrieben, der nun stumm in die rauhe [779] Heimat zurückgeleitet wurde. ›Wo und wann wird aber nicht Musik bei uns gemacht? Kündigt den Weltuntergang an, und es wird ein großes Extra-Konzert dazu arrangiert!‹17 Der ›Weltuntergang‹ war nun im buchstäblichsten Sinne da, und das ›Extra-Konzert‹ blieb nicht aus ...

Stunde um Stunde verging im eintönigen Rasseln der Wagenräder, es wurde dunkel, der Abend senkte sich herab, die Nacht brach ein. Welche Fahrt war je so trostlos traurig! Um 111/2 Uhr rollte der aus dem Salonwagen, mehreren Kupees 1. und 2. Klasse, dem Leichen- und Blumenwagen bestehende Train auf dem ersten Geleise des Bayreuther Bahnhofes ein; kein Sang und Klang ertönte; Totenstille herrschte in der wartenden Menge. Dann wurden die Kupees geöffnet, ihnen entstiegen die Herren v. Bürkel, Levi, Porges, Heckel aus Mannheim, Adolf Groß und Joukowsky, Hans Richter, der Generaladjutant des Königs Graf Pappenheim und zahlreiche andere Begleiter. Erst nachdem die Feuerwehr Spalier gebildet, traten Feustel, Groß und Muncker an den Salonwagen der Familie, und als diese dem Wagen entstieg und vorüberschritt, entblößte die ganze Versammlung schweigend das Haupt. Der Wunsch der Leidenden wäre es gewesen, den Sarg, der das ihr Teuerste barg, und zu dem sie den Schlüssel am Halse trug, zu sich in ihr Zimmer gebracht zu sehen; das war nun wieder aus vielen Gründen nicht möglich. Der Wagen mit dem Sarge blieb im Mondlicht auf dem Rangiergeleise des Bahnhofs stehen; Bayreuther Bürger von der freiwilligen Feuerwehr bildeten eine Ehrenwache davor. Noch einen Schreck gab es, bevor sie im Schlafzimmer ihrer Töchter gebettet wurde; sie vermißte ihre beiden Trauringe. Der gute Joukowsky lief noch in später Nacht auf den Bahnhof zurück, um dort Nachforschungen anzustellen; sie fanden sich aber zu Hause auf dem Fußboden wieder, von ihren durch viertägiges Fasten gänzlich abgemagerten Händen waren sie herabgeglitten. In der Sonntagfrühe wurden durch die Kinder die näheren Freunde empfangen: Ritters, Heinrich von Stein, Wolzogens, Levi, Fritz Brandt u.a.m., dgl. die Abgesandten des Königs, des Großherzogs von Weimar, des Herzogs von Meiningen. Zu Mittag waren Hans Richter, Levi, Stein, Joukowsky, Ritters bei den verwaisten Kindern: es sei ein eigentümlicher Eindruck gewesen, berichtete uns Stein, Siegfried zum ersten Male auf dem Platz seines Vaters sitzen zu sehen. Alle Kinder hätten sich gut gehalten, seien gefaßt, selbst heiter gewesen; unschätzbar war ihnen dazu die Gegenwart Richters, der sie mit seinen lebhaften Erzählungen und Anekdoten zerstreute. Oben lag, wie ein von dieser Welt bereits abgeschiedener körperloser Geist die von allen Geliebte und Verehrte; erst nachmittags wurde sie angekleidet, um dem Erscheinen des Sarges am Gartentor entgegensehen zu können.

[780] Die öffentliche Trauerfeier, zu der sich die Teilnehmer aus aller Herren Ländern eingefunden hatten, begann in den Nachmittagsstunden. Die Nacht- und Morgenzüge hatten zahlreiche Freunde und Verehrer, Deputationen der Wagnervereine, Vertreter von Intendanzen, Stadttheatern und Orchestern, eine ungeheure Menge von ›Journalisten‹ und ›Berichterstattern‹ aus allen größeren deutschen Städten mit sich gebracht, auch das Landvolk der umgebenden Orte war in großen Scharen aus Neugier zusammengeströmt. Wenn man von einem hochgelegenen Platze auf die breite Straße hinabsah, so erblickte man Kopf an Kopf eine Menge, die sich drückte, schob und drängte. An der Nordwestecke des Bahnhofsgebäudes war eine Art von improvisiertem Rednerpodium, eine Estrade von mehreren Stufen aufgeschlagen; hohe Masten mit schwarzem Trauerschmuck begrenzten in großem Halbkreise den Platz, von Stange zu Stange zog sich ein breiter Florstreifen, und an jedem derselben befand sich ein Schild, auf welchem ein Werk des Meisters verzeichnet war, vom ›Rienzi‹ bis zum ›Parsifal‹. Nur eines dieser Schilder war weiß und unbezeichnet geblieben, wie zum Anzeichen dessen, daß er in voller schöpferischer Geisteskraft hingeschieden sei. Die Feuerwehr hielt die andrängende Menge zurück. Vor der Estrade waren schwarze Bretter für die Niederlegung von Kränzen hergerichtet, deren immer noch mehr gebracht wurden, obgleich bereits bei der gestrigen Ankunft der Sarg unter der Zahl der Blumenspenden jeder Art fast verschwand. Generaladjutant Graf Pappenheim brachte einen neuen Kranz im Namen des Königs. Es schlug vier Uhr, die offiziell angekündigte Stunde der Trauerfeierlichkeiten. Die Feuerwehr hob nun den Sarg aus dem Gepäckwagen und trug ihn auf das vierbespannte, offene Gefährt des Leichenkonduktes, welches zu der wenige Schritt entfernten Estrade fuhr. Die Kapelle eines Bayreuther Chevauxlegers-Regiments stimmte die Klänge der Siegfried-Trauermusik aus der ›Götterdämmerung‹ an; alles war erschüttert; kein Auge blieb trocken; man hörte lautes Schluchzen. Hierauf bestieg Bürgermeister Muncker die Tribüne zu ungefähr folgender Ansprache: ›Hier an dieser Stelle haben wir im vorigen Herbst von dem geliebten Meister Abschied genommen, haben ihn nach seinem lieben Italien ziehen sehen, in der Hoffnung, ihn im Frühjahr neu gestärkt wieder begrüßen zu können. Und nun, da er wieder zu uns zurückkehrt, müssen wir auf ewig von ihm Abschied nehmen. Es ist ja bestimmt in Gottes Rat, daß man vom Liebsten, was man hat, muß scheiden. Und es hat auf der ganzen Welt keinen Mann gegeben, an dem ich und meine Mitbürger mit solcher Liebe gehangen haben, die das Glück hatten, von ihm als Freunde geachtet und würdig erkannt zu werden, Mitarbeiter an dem großen Werke zu sein, durch das Bayreuth zur Stätte der erhabenen Kunst geworden ist! Was ich ihm zu Beginn der vorjährigen Festspiele öffentlich gelobt habe: ihm und seiner heiligen Sache[781] zu dienen, solange mir Gott das Leben erhält, das habe ich aus dem Herzen aller meiner Freunde gesprochen. Ihm können wir nicht mehr dienen, wir er zeigen ihm jetzt den letzten Liebesdienst; aber seinem großen Werke und Denen, die ihm auf Erden das Liebste waren, treu zu bleiben unser ganzes Leben lang, das sei unser heutiges Gelöbnis! – Wer des Todes Nacht liebend erschaut, dem ist, wie Dein »Tristan« uns kündet, aller Glanz der Erde eitler Staub. Erhaben bist Du nun, Du im Leben so oft angefeindeter Geist, über allem Irdischen; verklärt leuchtet Dein Bild uns und den kommenden Geschlechtern. Nun hast Du, dem die südlichen Gefilde den ersehnten Frühling nicht mehr brachten, dort den ewigen Frieden gefunden; nimm, teurer Meister, unsere letzte Liebesgabe, ruhe sanft bei uns!‹ Nach dieser Ansprache schritten alle die verschiedenen Deputationen an dem Sarge vorbei, indem sie ihre Kränze an ihm niederlegten. Dann ergriff Feustel mit tief ergriffener Stimme das Wort: ›Ein Fürst ist heimgegangen, ein weithin sichtbarer, hochaufgerichteter Thron in den weiten unbegrenzten Gebieten des Geistes und der Kunst ist verwaist. Wir suchen nach einem Ausdruck für unsere Trauer; aber das Wort ist arm, der Tiefe unserer Empfindung gegenüber matt und ungenügend. Ich will deshalb von den Pflichten reden, die ein solcher Toter uns auferlegt. Eine spätere Zeit wird es kaum erklärlich finden, wie schwer man es einem solchen großen Manne gemacht hat, seinen Zielen näherzukommen Niemand steigt in solche Regionen, ohne von Neid und sonstigen bösen Leidenschaften begleitet zu werden. Was er gewollt, wurde vielfach bezweifelt und heruntergezogen; was er hier erreicht, von der Welt in wachsendem Staunen und allmählicher Begeisterung entgegengenommen. Für uns hier ist es eine heilige Pflicht, dem Angedenken die geweihte Stätte würdig zu erhalten, wo der Verewigte seine vollste und weitestreichende Wirksamkeit entfaltet hat. Die Aufführung des, Parsifal, in diesem Jahre ist die würdigste Gedenkfeier für den Verewigten. Bei dieser Musik, bei dieser Handlung, die die erbarmende und erlösende Liebe in so wundervoller, ergreifender Weise verkünden, werden dem Andenken des großen Meisters viele Tränen fließen; es wird eine Wallfahrt der Pietät und des Dankes werden. Wenn ich diesen heißen Dank auch hier ausspreche, so tue ich es nicht nur in eigenem Namen, sondern auch im Namen derer, die dem Meister im Leben helfend nahestanden; wir alle wollen Dir, großer Meister, fortan dienen! Für mich darf ich noch aussprechen, daß ich, wenn meine Stunde schlägt, das Bewußtsein mit hinwegnehmen will, ein treuer Hüter Deines geistigen Eigentums, ein treuer Helfer und Berater der Deinen gewesen zu sein. Ruhe sanft und in Frieden! Heißgeliebter, Vielbeweinter, Unersetzlicher!‹

Nach diesen Ansprachen trug zunächst noch ein Gesangverein jenen Trauerchor vor, den einst der Meister zur Bestattungsfeier Karl Maria von [782] Webers in Dresden gedichtet und komponiert.18 Dann rangierte sich der langgestreckte Zug der Hunderte und aber Hunderte von Teilnehmern; zu beiden Seiten die tausendköpfige Menschenmenge; in den mit Crêpe umflorten Gaslaternen waren schon seit gestern Abend die Flammen entzündet geblieben Voran der riesige Kranz der Künstler Münchens, von drei Männern als Trauerherolden an Stangen getragen, hierauf die Kapelle des 7. Infanterieregiments, Blumenwagen und offene Equipagen mit Kränzen. Dem vierspännigen Leichenwagen schritt die gesamte – protestantische – Geistlichkeit Bayreuths voran, zu beiden Seiten Fackelträger, Verwaltungsräte und persönliche Freunde; dicht hinter dem Sarg schritten die Vertreter des Königs, des Großherzogs von Sachsen-Weimar und des regierenden Herzogs von Sachsen-Meiningen, Freunde des Hauses, Künstler und Deputationen der Wagnervereine, des Offizierkorps der Garnison, die Gemeindevertretung und die Bürgerschaft. So bewegte sich der Zug vom Bahnhofsplatze aus unter Trauermarschklängen durch die dichtbevölkerten Straßen, am alten markgräflichen Opernhause vorüber zwischen den lebenden Mauern der Volksmenge, die sich auf beiden Seiten des Trottoirs und zum Teil des Pflasters staute. Die Fenster der angrenzenden Häuser waren von unten an bis in die obersten Stockwerke Kopf an Kopf dicht angefüllt, sogar die Dächer und die oberen Flächen der steinernen Pfeiler an den Pforten von Menschen besetzt. Kein Haus ohne schwarze Fahne, die florumzogenen Laternen in den hellen Tag der Trauer hineinbrennend; der volle Chor der Glocken ›die helleren wie gellender Jammerschrei, die dunkleren wie ein Versuch dumpfen Trostes hineintönend‹ Beim Herannahen an das Trauerhaus schwieg die Musik; Punkt fünf Uhr kam der Zug vor dem schwarzdekorierten Gartentor von Wahnfried an, wo der Sarg unter Mithilfe von Freunden aus dem Wagen auf die Tragbahre gehoben wurde: innerhalb des Tores wurde die Bahre niedergestellt und das Bahrtuch mit großem weißem Kreuz auf schwarzem Grunde über den Sarg gebreitet. Alle Kränze und Blumen blieben zurück, um nach dem Festspielhause gebracht zu werden; nur die beiden Kränze des Königs lagen auf dem Sarge und wurden ihm später vorangetragen. Bis zum Tor kamen die Kinder dem Sarge entgegen, Siegfried von Adolf Groß geführt, die drei Töchter einander fest an den Händen haltend, mit ihnen Ritters. Von dem Trauerzuge war nur einem engeren Kreise der Eintritt bewilligt: von ihnen trugen zwölf der nächsten Freunde (sechs auf jeder Seite)19 die Bahre; die vier Kinder ergriffen die herabhängenden Enden des schwarzen Bahrtuches. So bewegte sich der Zug vom Wagen bis zur Gruft über den kiesbedeckten Weg durch [783] die Allee; voran schritt ein Chorknabe mit dem Kruzifix, darauf 2 Geistliche, neben dem Zug die beiden Hunde Marke und Froh. Im Wohnhause war niemand sichtbar, die Vorhänge der meisten Fenster herabgelassen. Rechts um das Haus, am ›Hühnerhause‹ vorbei, bog der Trauerzug unter leise fallendem Schnee; an der Grabstätte angelangt, sprach der Geistliche, Dekan Casselmann, seine übliche Einsegnungsrede mit Hinweglassung aller Beziehungen auf die Größe, die Bedeutung, das Wirken des Dahingeschiedenen, ›einfach als Christ dem abgeschiedenen Bruder und dessen hinterlassenen Teuren gegenüber‹ – es läßt sich nicht leugnen, daß diese Ansprache eben deshalb dem Gefühl schier unerträglich ward.20 Dann weihte er die Stätte im Namen der Kirche zu einer christlichen Begräbnisstätte, sprach den Segen und schloß mit einem Gebete. Die Kinder waren vor dem offenen Grabe zum stummen Gebete niedergekniet; kein Wort war mehr vernehmbar; nur das tiefe Schluchzen der Anwesenden. Da sprangen die zwei schönen Bernhardinerhunde Marke und Froh, die den Zug so treulich begleitet, hinzu; sichtlich beunruhigt durch die ungewohnte Stellung der knienden Kinder, umschmeichelten sie dieselben, als ob sie ihnen tröstend beistehen wollten, sie fort und fort liebkosend und mit ihren Bewegungen fast niederreißend.21 Die Dämmerung senkte sich herab, die Freunde entfernten sich, die Kinder blieben allein zurück, des Erscheinens ihrer durch die Freunde Groß herbeigeführten Mutter gewärtig. Erst in ihrer Gegenwart wurde die Bahre unmittelbar an die Öffnung der Gruft getragen und in die Wölbung hinabgesenkt. Nachdem sie lange in der Tiefe verweilt, wurde sie von den Kindern wieder ins Haus zurückgeführt, der Eingang zur Gruft vermauert und die obere Öffnung mit dem großen Stein geschlossen, der sie bereits seit Jahren deckte. Täglich brachte sie nun eine Stunde, von 2 bis 3 Uhr, auf dem Grabe zu. Im übrigen lag die hohe Trauernde in voller Abgeschiedenheit vom Leben, allein mit dem Geiste des Dahingeschiedenen, auf ihrem Lager noch tagelang ohne Nahrung da; sie war erschreckend abgemagert, ihre Augen noch einmal so groß als sonst. Mit den Kindern, in deren Zimmer sie auch schlief, in ununterbrochen zärtlichster Verbindung, hatte sie sonst ausschließlich nur noch mit dem Großschen Paar verkehrt und keinen der Freunde (auch Stein und Joukowsky nicht) vor sich gelassen. Sie gehörte der Welt nicht mehr an. Wie ein über- oder außerweltliches Wesen blieb sie nur den Allernächsten zugänglich. ›Sie lebt, das [784] ist die Hauptsache‹, schreibt Joukowsky in einem Briefe vom 20. Februar an Liszt; ›sie schläft ein wenig, sie nimmt täglich ein wenig Milch oder Rotwein: aber sie hat seit acht Tagen nichts gegessen. Sie sieht absolut niemand außer den Kindern, mit ihnen verkehrt sie ruhig, heiter und sanft. Ich glaube, daß sie sich darein gesägt hat zu leben. Auf alle Fälle ist das mehr, als wir seit einer Woche zu hoffen wagten. Sie hat unsere lange und schreckliche Reise besser ertragen, als wir es erwarten konnten. Hoffen wir jetzt, daß die Ruhe in die so unermeßlich betrübten Herzen herabsteigen möge. Die Kinder sind bewunderungswürdig und ein Beispiel für uns alle.‹22

Sie hatte den Tod nicht gesucht, mit keiner bewußten Absicht ihm die Tore weit offen gehalten. Aber sein tiefdunkelster Schatten hatte über ihr geschwebt, die Nacht des Grabes, dem sie ihr Liebstes, ihr Höchstes hatte hingeben müssen, war ihr vertraut geworden; und nur aus dieser Tiefe konnte sie allmählich zum Leben und seinen hohen Aufgaben wieder auftauchen. Die erhabenste Liebe hatte sie den befreienden Armen des Todes nahe zugeführt, sie führte sie aber auch ins Leben zurück.

Fußnoten

1 Henry Perl, ›Richard Wagner in Venedig‹, S. 60/63 (stark verkürzt).


2 Siehe Nachlaßband ›Entwürfe, Gedanken, Fragmente‹, S. 110.


3 ›Richard Wagner an seine Künstler‹, S. 368.


4 A. Neumann, ›Erinnerungen an Richard Wagner‹, S. 272/73.


5 Heinrich von Stein, ›Briefwechsel mit H. v. Wolzogen‹ (Leipzig, Xenien-Verlag, 1910) S. 82.


6 Zu Joukowsky sagte er einmal: ›Sie haben gelacht, wie ich gesagt habe, ich wäre der unglücklichste Mensch, daß ich mein Haus in solch einem S..klima gebaut habe, und es für einen bloßen Scherz gehalten; und doch ist es so.‹ Er könne sich kaum vorstellen, daß einst Siegfried es ganz dort werde aushalten können, und so sei er am Schluß seines Lebens immer wie im Neubeginn.


7 H. Perl, ›Richard Wagner in Venedig‹, S. 110.


8 Ebendaselbst, S. 111.


9 Angeblich habe er, da ihm nur bei dem prächtigen Wetter an einer größeren Wasserfahrt gelegen war, seinem ersten Gondolier Luigi, der in solchen Fällen sein Berater gewesen sein soll (?), die Frage gestellt: ›Wohin fahren die Venezianer heute?‹ und die Antwort erhalten. ›Nach San Michele, gnädiger Herr!‹ So heißt es in der mehrerwähnten Studie von H. Perl (S. 112), alles weitere dort über diesen Ausflug Berichtete aber fällt in sich zusammen, weil er – wie oben erzählt – gar nicht zustande kam.


10 Dort hatte ihm in Joukowskys Atelier dessen angefangenes Bild des Gondoliers mit seiner Mutter (S. 763) sehr gefallen. Aber Joukowskys Wohnung war ihm zu weit, und er wünschte, Frau Wagner möchte bei den Bardis um eine Nordstube im Vendramin für ihn bitten, in der er sein Atelier einrichten könnte.


11 Vgl. Gesammelte Schriften X, S. 242/43 (›Über die Anwendung der Musik auf das Drama‹).


12 Daß Hans Richter diese nach des Meisters Angaben in den Stimmen getroffene Änderung hinterher wieder beseitigte, zog ihm bekanntlich das besondere Lob Hanslicks zu (Siehe dessen Buch: ›Konzerte, Komponisten und Virtuosen 1870–85‹, S. 142). Zur Sache vgl. übrigens auch: Berlioz ›à travers chants‹ (Paris 1862), S. 21f.


13 H. Perl, ›Richard Wagner in Venedig‹, S. 113/15.


14 ›Briefe an Franz Liszt‹ III, S. 399.


15 ›Im Laufe des Nachmittags‹, erzählte uns Frau Geheimrat Thode, ›hatten mich wiederum die Künstler wegen der Totenmaske hart bedrängt; Passini gab es wohl auf, aber Wolkoff verletzte mich sehr durch sein unerbittliches Urteil über meinen »Egoismus« ich mußte ihm Schweigen hart gebieten und widerstand all seinen Vorstellungen. Als aber am Abend Dr. Keppler mir klar und ruhig sagte: »ich beginge ein Unrecht; Mama würde es mir selbst nicht danken, wie erst die Freunde und Jünger!« – da gab ich nach und ließ es zu, wohnte auch dem Gips-Abgießen bei, ohne jedoch Mama etwas davon zu sagen.‹


16 Die Leichenbestattungsgesellschaft ›Concordia‹ in Wien, deren offizieller Abgesandter, Freiherr Casimir von Schönfeld, den Sarkophag in ihrem Auftrag nach Venedig gebracht und mit dem Gondoliere Luigi gemeinsam den toten Meister dahinein gebettet hatte.


17 Gesammelte Schriften X, S. 42 (›Zur Einführung in das Jahr 1880‹).


18 Band II des vorliegenden Werkes, S. 105. 109.


19 Bürgermeister Muncker, Feustel, Groß, Standthartner, Niemann, Porges, Levi, Richter, Wolzogen, Joukowsky, Anton Seidl, Wilhelmj.


20 ›Konfessionelle Priester konnten einen Geist nicht verstehen, dessen Christentum keinen kirchlichen Beigeschmack hatte und ganz allein in der Persönlichkeit des Heilandes und seiner Worte wurzelte‹ (Friedrich Hofmann, ›Richard Wagners Fahrt zum Grabe‹).


21 ›Daß am Grabe Wagners die Tiere nicht fehlten, war eine sinnvolle Fügung; erinnerten sie doch die Umstehenden daran, daß der Tote in seinem großen Herzen Tier und Mensch mit gleicher Liebe umschloß, daß er im Mitleiden mit jeder Kreatur den stärksten Zug seines moralischen Wesens erkannte und in diesem auch den Quell seiner Kunst vermutete‹ (Ebendaselbst).


22 ›Briefe hervorragender Zeitgenossen an Franz Liszt‹ III, S. 397/99.


Quelle:
Glasenapp, Carl Friedrich: Das Leben Richard Wagners in 6 Büchern. Band 6, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1905, S. 756-786.
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