VIII.

Neapel.

[292] Villa Angri. – Gesichtsrose. – Paul Joukowsky. – Neue Gesichtsrose. – Gleizès' ›Thalysia‹. – Freude an Neapel. – Unangenehmes mit A. Neumann. – Gedanke an Amerika. – Besuche des Konservatoriums – ›Lohengrin‹ in Rom. – Schicksal der Vivisektions-Petition im deutschen Reichstag. – Geburtstagsfeier. – Ausflug nach Amalfi.


Der graue Himmel, der fast unausgesetzt in der Heimat auf uns drückte, hat – wie meiner Gesundheit – so auch meinem geistigen Empfinden sich eingeprägt. So kann dieser so aufwandvolle Aufenthalt in Italien durchaus nur eine klimatische Bedeutung für mich haben: selbst dies unglaubliche Neapel, mit allem Leben und Treiben darin, kann für mich nur ein Schauspiel zum Zweck der Zerstreuung, des Vergessens sein.

Richard Wagner.


Posilipo, der Gramlöser, Sorgenstiller, der jedem Kummer, jeder Betrübnis ein Ziel und Ende setzt, – ein gutes Omen durfte für den Leidenden, einem rauhen Klima jäh Entflohenen in diesem schönen, nicht zu unrecht von jener vereinzelten Villa, dem ›Pausilypon‹ oder ›Sanssouci‹ eines berüchtigten altrömischen Schlemmers1 auf die ganze Ausdehnung des Vorsprunges übertragenen Namen zu liegen scheinen! Von Neapel aus mit einer ununterbrochenen Folge von Häusern und reizenden Villen bedeckt, faßt dieser mächtige Bergrücken den ganzen Golf nördlich ein, um nach Westen hin, bei seinem steilen Abfall zur Meeresebene, seine weitere Fortsetzung in den feenhaften kleinen Felseninseln Nisida und Procida, schließlich in dem dunkler gefärbten lieblichen Ischia zu finden. Im Osten – weit ausgebreitet mit seinen amphitheatralisch aufsteigenden weißen Häuserreihen und von fünf Kastellen, darunter dem romantischen St. Elmo und Capodimonte bewacht – die königliche Neapolis; im Westen in unbeschreiblicher Schönheit die weite Wasserfläche, von Sonnenstrahlen blitzend und in ewiger Bewegung sanft an [292] den Steindamm des Ufers rauschend; nach Süden hin, jenseit des spiegelglatten tiefblauen Golfes, in violetter Abtönung die majestätisch gelagerten Formen des doppelhäuptigen Vesuv, der gerade im ganzen Frühjahr 1880 in besonderer Tätigkeit war und tagsüber eine Rauchsäule, jeden Abend aber grellrote Feuergarben zum Himmel aufsteigen ließ und die schmalen, glühenden Bäche seiner Lava gleich flammenden Adern zur Tiefe hinabsandte. Noch weiter nach rechts Sorrent und das blaue Capri. Wie schon im Altertum der Posilip von den Villen der reichen Römer und Neapolitaner bekränzt war, so reiht sich hier heute Villa an Villa, alle in sinnreicher bezaubernder Lage. An ihnen vorüber schlängelt sich, sanft bis zur Höhe aufsteigend, die schöne Strada nuova del Posilipo, in stets neuen Formen und Verschiebungen das einzige Bild des Golfes von Neapel zeigend und durch ihre ›bebaute Wildheit‹ den Meister stets aufs neue entzückend! Eine der ersten, der Stadt am nächsten liegenden ist die auf hohem Terrassenaufbau gelegene Villa Angri. Das säulengeschmückte Haus inmitten seiner Pinien und Zypressen krönt die obere Höhe des Felsens; terrassenförmig steigen vom eisernen Gittertor der Villa die Gartenanlagen zu ihm empor, sich noch über die Villa höher hinausziehend bis zu den Weinbergen, die den Rücken des Felsens bedecken und deren starke Weinstockstämme, voll der schönsten Traubenblüten, sich friedlich mit Mandel- und Feigenbaum vertragen. Die wundervolle Lage des paradiesischen, alle mit Entzücken erfüllenden Aufenthaltes schien wie geschaffen, alle nordische Misere vergessen und überwinden zu helfen. Hier sollte seine Gesundheit sich neu befestigen und, mit wiedergewonnenem Wohlbefinden, auch sein großes künstlerisches Werk gedeihen. Die lieblich großartige nächste Umgebung des Hauses, der Felsenweg mit seinen mannigfach reizvollen Biegungen und Wendungen bis hinauf zu einer träumenden Palme, dem höchsten Punkte des Terrains der Villa, und den Weinbergen, die üppige Vegetation, der Garten mit seiner weitausschauenden Terrasse, der Blick auf die heitere, wie mit Diamanten übersäte Meeresfläche, auf Neapel und den Vesuv: alles dies war in seinem Zusammenwirken wohlgeeignet, noch in ferner Erinnerung belebend wiederzukehren, in seiner anmutvollen Gegenwart aber den wohlmendsten Einfluß auf Befinden und Stimmung auszuüben. Den Aufstieg zur Palme verglich er gern dem ›Garten der Mathilde‹, dem göttlich dichten Hain des irdischen Paradieses, wie ihn Dante im ›Fegefeuer‹ schildert; in welchem eine ewig reine Luft das Rauschen der sanft von ihr bewegten Wipfel lieblich in den Gesang der Vögel mitklingen läßt, womit diese den anbrechenden Morgen begrüßen, und der Dichter jener schönen blumenpflückenden Frau – als Vorbotin Beatricens – begegnet.

Leider hieß es trotz alledem im Beginn noch mehr ertragen als genießen: die ›Misere‹ war dem Fliehenden auf dem Fuße gefolgt, und bis zum Anfang Februar kehrte die Gesichtsrose zweimal wieder. Hatte doch auch in dieser [293] sonnig wohligen Umgebung noch kurz zuvor Frost und Schneefall geherrscht (S. 285), und trat im Verlaufe des Januar noch wiederholt große Kälte ein! Nicht allein machte sich die Rose wieder geltend, auch die soeben kaum dem Gelenkrheumatismus entronnene kleine Patientin hatte über neue Schmerzen zu klagen. Mit Unwillen empfand er den Unstern, der ihm den Genuß des herrlichsten Fleckens Erde im herrlichsten Lichte mißgönne und – während die wärmenden, alles erhellenden Strahlen der Sonne Neapels Land und Meer verklärten – ihn dazu nötigte, sein Antlitz in die vorgeschriebene widerwärtige Wattemaske zu hüllen. ›Ich weiß genau‹, sagte er, ›wann es schlechtes Wetter werden wird, nämlich wenn ich werde ausgehen dürfen.‹ Geduld, und wieder Geduld, das war die einzige Hilfe. Die guten Momente in diesem unerfreulichen Zustand waren die, in denen er sich aus den Gesprächen des Kanzlers Müller mit Goethe vorlesen ließ. Im ›Egmont‹, sagte er dabei, habe Goethe seine eigentliche Natur niedergelegt und zum Ausdruck gebracht: ein vornehmes Gewährenlassen; es könne zuweilen wie Kälte aussehen, und doch sei die Grundlage davon die größte Güte. Der Ausspruch über die Zeitungen2 entzückte ihn: ›ich will selbst das (»Bayreuther«) Tagblatt nicht mehr lesen‹, rief er aus. Daß ›in der Seifengasse dasselbe zu finden wäre, wie in der Weltgeschichte‹3 ergötzte ihn höchlich. Dagegen beklagte er die schiefe Auffassung des Gottesbegriffes, die Goethe nie losgeworden sei, die Vorstellung eines Gottes, der in oder hinter der Natur stecke, nach dem man nicht forschen solle, der aber doch da sei; eine Vorstellung, die ihm dann konsequenterweise Christus, Gottes Sohn, als ein ›höchst bedeutendes, aber problematisches Wesen‹ erscheinen ließe.4 ›Es wäre wohl schon der Mühe wert, den Begriff »Gott« festzustellen; aber wer soll es tun?‹ Er duldete aber nicht, daß in dieser Zeit der Entsagung auch die Seinigen gleich ihm das Haus hüten sollten; er nötigte sie dazu Spaziergänge und Ausflüge zu unternehmen und ließ sich dann ausführlich nach einem solchen gemeinsamen größeren Ausgang bis zum Golf von Bajae von allen Reizen der Natur und allen mannigfachen Begegnungen mit Menschen und Tieren, Eseln, Affen und Kamelen, berichten. Oder er freute sich, wenn die Kinder am Meere Muscheln suchten und entzückt [294] von allem, was sie gesehen, wieder heimkehrten. Aus der ihm zugesandten Schrift eines Vegetarianers (Robert Springer) interessierten ihn vorzugsweise die Auslassungen eines bis dahin ihm unbekannten Franzosen, Antoine Gleïzès. Er zitierte daraus den parabelartigen Zug von den zwei Reisenden, die auf verschiedenen Stätten der arabischen Wüste ihre Mahlzeit halten: der eine, von Datteln sich nährend, streut die Kerne aus; der andere, Lammfleisch verzehrend, läßt die Knochen zurück. Aus der Mahlzeit des einen entsteht ein lachender Palmenhain, der andere vermehrt durch die unfruchtbaren Überreste die Schauer der Verwesung. Die ›lieblich elegische Erscheinung‹ Gleïzès' sprach ihn schon aus diesen wenigen Anführungen unmittelbar an; er bestellte sich das Werk sogleich: es passe vortrefflich zu seinem jetzigen Vorhaben. Man brauche durchaus nicht anzunehmen, daß die vorgeschichtliche Menschheit von Hause aus boshaft gewesen sei, sondern mit dem Eintritt der Geschichte, mit dem Erlegen des ersten Tieres, sei sie so geworden. ›Die Weltgeschichte beginnt von da an, wo der Mensch zum Raubtier wird und das erste Tier umbringt, um sich davon zu nähren.‹ In den Gesprächen mit dem Kanzler v. Müller kam er auf das schöne Goethesche Wort von dem täglich sich und anderen zu erteilenden Absolutorium: ›das ist‹, rief er aus, ›die einzige Religion, – wie der Mensch wohl ohne sie auskäme! Ohne in sich zu gehen und sich wahrhaftig zu befragen, ob er dem andern nicht geschadet! Heute, wo sich einer zu Bett legt und den Bauch streicht, wenn er den andern ruiniert hat! Nur der Pfaff mit der Krause und dem Käppchen soll mir vom Halse bleiben! – Die Buddhisten büßen dadurch, daß sie öffentlich bekennen.‹

Manch heiteres Zusammensein gab es selbst in dieser unerfreulichen Übergangszeit mit Gersdorff; am 12. traf auch Stein von seinem Ferienurlaub ein. Er fand den Meister bleich aussehend, doch wich die bis her vorherrschende gedrückte Stimmung mehr und mehr, und er konnte zu ihm die scherzend hoffnungsvollen Worte sagen: ›ich bin nur alle acht Tage ernst‹. Dann kam es bei herrlichem Wetter zu einem ersten Ausgang, zunächst in die eigenen Gartenanlagen der Villa, bis zu dem lieblichen Platz unter der Palme, unter blühenden Rosen und Nelken, mit der Aussicht auf den Golf und Vesuv; oder er verbrachte den Nachmittag in dem schönen Gartenpavillon. Eine erste Ausfahrt in die Stadt im offenen Wagen ließ ihn wiederholt in lautes Entzücken ausbrechen und Neapel wegen seines Volkslebens hoch über Rom stellen. ›Neapel ist meine Stadt, hole der Teufel die Ruinen! Hier lebt alles! Ich kenne nur zwei Städte, die ihrem Lande entsprechen und ihrer Bevölkerung homogen sind: London und Neapel, – Paris gehört dem kosmopolitischen Gesindel!‹ Unter vielen drolligen Nöten suchte er zuerst einen Barbier auf; dann ging es zum Corso Vittore Emanuele, um dort seinem Arzt, Professor Schrön, der ihn seit seiner Ankunft schon [295] wiederholt in der Villa aufgesucht, einen Gegenbesuch zu machen. Auch erfreute es ihn, von der Mergellina aus5 im Tramway die Fahrt in die Stadt mit ihrem bunten Gewimmel zu machen, entweder allein oder in Gesellschaft Steins und Siegfrieds. Von einer solchen allein unternommenen Tramwayfahrt unter mannigfachen Beobachtungen kehrte er höchst befriedigt zu rück, außer etwa, daß ihm die Begegnung eines deutschen Schuldirektors die Laune etwas verdorben hatte. Er hob hervor, als wie unschicklich er es jedesmal empfände, daß unbekannte Leute ihn auf Grund einer durchaus einseitigen Bekanntschaft, bloß weil sie ihn erkannt hätten, so ohne weiteres anredeten; es wäre ihrerseits gewiß viel schicklicher, wenn sie ihn etwa als deutschen Landsmann ansprächen und das Weitere abwarteten. Nach allen Entsagungen der ersten vierzehn Tage der Zerstreuung bedürftig, entschloß er sich, zu einer Aufführung der ›Jüdin‹ das San Carlo-Theater zu besuchen Vieles erfreute ihn dabei: das Theater selbst als typische Erscheinung des eigentlichen ›Operntheaters‹ italienischer Herkunft, die vielen Schönheiten des Werkes, das Orchester, besonders die Leistungen der beiden englischen Hörner; dagegen erregten sein Entsetzen die Sänger und Darsteller, die gesamte Inszenierung, die beständige Inkongruenz der Musik und des Theatervorganges, nicht minder das beständige Schreien aus dem Souffleurkasten. Wohl sei sie tot, die große Oper, und mehr nur für die Gebildeten ein Gegenstand des Studiums; das besondere Werk aber, aus der Schule Mehuls und Cherubinis hervorgegangen, voller Leben und Feinfühligkeit und gar nicht jüdisch in seiner Tendenz, nur richtig gezeichnet. Es gehöre in die Zeit von ›Notre-Dame de Paris‹, wo so vieles Bedeutende produziert wurde; Halevy sei der erste musikalische Genremaler gewesen und habe mehr Gefühl gehabt als Cherubini: ›ich hatte ihn sehr gern; er war eine sehnsüchtig sinnliche Natur, aber faul‹. Und als ihm einige Tage darauf die Theaterdirektoren von San Carlo ihren Besuch machten, empfing er sie auf das freundlichste, setzte ihnen aber in seinem ausdrucksvollen Französisch die Schäden der jetzigen Oper auseinander: wie Rossini von seinen Sängern das Beste verlangt und wie sie sich in Wien vor seiner Strenge gefürchtet hätten, während Meyerbeer durch seine Schlaffheit alles verdorben hätte.

In seinen Unterredungen mit Heinrich von Stein waren die Probleme der Erziehung, des Sozialismus und der Religion die am häufigsten berührten Gegenstände. In bezug auf Volksbeglückung durch Erziehung rief er lebhaft aus: ›Wie kann man nur irgend von so etwas sprechen, wenn einem die Bettler die lahmen Hände entgegenstrecken?‹ Und als die Zeitungen einen Artikel über das mangelnde Gedeihen der ›Kindergärten‹ in Neapel brachten: ›was sollen neapolitanische Kinder da lernen? Die wissen einem gleich von [296] ihrer Geburt an das Portemonnaie aus der Tasche zu ziehen!‹ Schon von seinem ersten neapolitanischen Aufenthalt kannte er es gut genug, wie diese kleinen halbnackten, bronzefarbenen Burschen es insbesondere auf sein buntfarbiges seidenes Taschentuch abgesehen hatten, welches er mit einem Zipfel heraushängend in der hinteren Rocktasche zu tragen pflegte, und zürnte ihnen nie weiter darüber, – was ja auch nichts geholfen haben würde! Und ernsthaft fügte er dann hinzu: ›es ist ein herrlicher Gedanke, das Kind durch das Spiel zu belehren und Fröbel gewiß ein vortrefflicher Mann gewesen;6 aber wir sind ohne Macht, und man möge nur ja nicht glauben, der Sache durch solche Mittel beizukommen, geradeso wie durch den Vegetarianismus!‹ Durch einen Ausspruch Lassalles dazu veranlaßt, hob er nachdrücklich hervor, wie töricht es von dem vielberühmten Agitator gewesen sei, mit Hilfe des Staates, durch das allgemeine Stimmrecht, eine Förderung des Sozialismus anzustreben, da doch gerade der Staat als solcher, seinem Wesen nach, nur eine Garantie des Besitzes bedeute.7 Bei Diskussionen dieser Art geriet der Schüler Dührings unwillkürlich noch ab und zu auf die Pfade der von ihm so hochgehaltenen ›Wirklichkeits‹-Philosophie seines bisherigen geistigen Führers. In einem Gespräch über die Herrnhuter äußerte er sich, ganz im Dühringschen Sinne, dahin, daß dereinst die allgemeine Menschenliebe, ohne einen transszendentalen Glauben, noch kräftiger sein würde.8 Er brachte damit den Meister ganz außer sich: immer und immer habe man nur das kirchliche Christentum vor Augen und verwechsle dies mit dem Christentum an sich selbst. Vielmehr sei die Aufgabe die, die Gestalt Christi sich rein zu verklären, um an ihrem Beispiel und Vorbild ein gegebenes Band zu gewinnen Zwei parallele Richtungen gebe es in der ganzen Weltgeschichte: die eine, in herrischem Machttriebe auf das Recht des Stärkeren gestützt, nur auf Unterdrückung, Raub und Mord bedacht; die andere, ihr entgegengesetzte, als Reaktion gegen das blinde Wüten des Willens, den Machttrieb der Eroberer sich äußernd, finde in keiner anderen Gestalt, wie in derjenigen Christi, ihre erhaben ergreifende Verkörperung; alles was uns sonst noch in entsprechendem Sinne rührend entgegentrete, verhalte sich zu ihr bloß als Nachahmung.9 Er sprach sehr bewegt, nicht ganz mit seiner gewohnten Klarheit, die Stimme klang etwas angegriffen, und nachdem er sich, wie gewöhnlich nach anhaltender[297] eifriger Mitteilung, etwas entfernt hatte und dann wiedergekehrt war (vgl. S. 57, 153), sah er auffallend bleich aus; die Krankheit war noch nicht überwunden. Noch anderen Tages kam er auf dieses Abendgespräch zurück: das Wort ›transszendental‹ habe ihn so aufgebracht! ›Sie müssen es immer bekommen‹, sagte er, freundlich zu dem errötenden Stein gewandt.

Auch die Redaktion der heimischen ›Bayreuther Blätter‹ drang mit ihren gelegentlichen Nöten bis in die paradiesische Villa Angri. So hatte der Berliner Kunsthistoriker Dr. Bernhard Förster in einem sonst trefflichen Vortrag über ›Richard Wagner als Begründer eines deutschen Nationalstils, mit vergleichenden Blicken auf die Kulturen anderer indogermanischer Nationen‹ darauf hingewiesen, daß unsere germanischen Vorfahren, kaum mit dem Römerreich in Verbindung getreten, ihre ureigne Religion zugunsten des Christentums, und noch dazu in der entstellten Form des Byzantinismus, aufgegeben hätten und damit sich selbst untreu geworden wären. Verboten und vernichtet sei dadurch der lebendige Glaube an die Insassen des heidnischen Götterhimmels, die Bewohner von Walhall, gewesen; aber was als Glaube verboten war, habe sich als Sage fortgesetzt; was der Priester nicht mehr lehren durfte, die Mutter am heimischen Herd ihren Kindern erzählt. In seinem mannhaften Bestreben, dem Arier zu geben, was des Ariers sei und seinem schöpferischen Geiste das ihm Gehörige zu vindizieren, war der Redner soweit gegangen, selbst die Evangelien allzu ausschließlich und in zu kräftig verwerfenden Worten in ihrem Inhalt als indische Weisheit anzusprechen;10 hatte dann aber, infolge der Streichung einiger weniger, dem Inhalt des Ganzen nach nebensächlicher Zeilen durch Wolzogen, sein Manuskript zurückgefordert, weit die Abweichungen der Auffassungen zu groß seien. Dieser Gegensatz gab Veranlassung zu einer in ihrer gedrängten Kürze dennoch inhaltreichsten brieflichen Mitteilung an Wolzogen (17. Januar).11 ›Es sollte mir leid tun, wenn wir Dr. Förster, aus dem Grunde einer Mißstimmung seinerseits, verlören. Allerdings muß ich Ihnen darin sehr recht geben, daß Sie gewisse Auslassungen aus dessen so verdankenswertem Aufsatze für die »Bayreuther Blätter« entfernt wünschten. Fast fürchte ich, es möge uns schwer werden, mit unseren Freunden und Gönnern zu einem Einverständnis darüber zu gelangen, was uns für alle Zukunft der wahrhaft erkannte, von aller alexandrinisch-judaisch-römischen-despotischen Verunstaltung gereinigte und erlöste, unvergleichlich erhaben einfache Erlöser in der historisch [298] erfaßbaren Gestalt des Jesus von Nazareth bedeutet und ist. Dennoch, indem wir Kirche, Priestertum, ja die ganze Erscheinung des Christus in der Geschichte schonungslos darangeben, sollen unsere Freunde immer wissen, daß dies um jenes Christus willen geschieht, den wir in seiner vollen Reinheit, seiner absoluten Unvergleichlichkeit und Kenntlichkeit wegen, uns erhalten wollen, um wie vielleicht die sonstigen erhabensten Produkte des menschlichen Kunst- und Wissensgeistes ihn mit hinüberzutragen in jene furchtbaren Zeiten, welche dem notwendigen Untergange alles jetzt Bestehenden folgen dürften. – Was wir daher gern der vollsten Schonungslosigkeit preisgeben, ist, was uns diesen Heiland schädigt und entstellt: deshalb bitten wir um feinfühlige Besonnenheit im Ausdruck, um nicht mit den Juden und für die Juden zu arbeiten. Demnach veranlassen Sie Entscheidung!‹12

Bereits um die Mitte Januar hatte Freund Gersdorff Neapel verlassen; dafür stellte sich bald darauf eine neue Bekanntschaft ein, in Person des jungen russischen Malers Paul v. Joukowsky, der vom Augenblick seines ersten Besuches in der Villa Angri an in dem kleinen fest abgeschlossenen, um den Meister versammelten Kreise mit seiner geistvollen, vornehm liebenswürdigen Persönlichkeit dauernd zu derjenigen intimen schönen Geselligkeit beitrug, die Wagner in seiner Umgebung stets gern hatte und deren er gewissermaßen zu seinem Wohlsein bedurfte. Als der Sohn des berühmten russischen Dichters und Erziehers Kaiser Alexanders II, stand er der russischen Kaiserfamilie von früh auf freundschaftlich nahe; seine Großmutter väterlicherseits war eine Tscherkessin, und etwas von diesem, durch eigentümliche Schönheit ausgezeichneten Völkertypus war seiner hochgewachsenen Erscheinung zu eigen. Dazu kam das distinguierte, Bescheidenheit mit Selbstbewußtsein, slawische Weichheit mit gesellschaftlicher Sicherheit verbindende Wesen, wie es hochgestellten Russen so wohl ansteht Sein Malertalent hatte er von seinem Großvater mütterlicherseits, dem livländischen Maler Gerhard von Reutern geerbt, der, nachdem er in der Leipziger Völkerschlacht den rechten Arm verloren, mit dem linken weiterarbeitete. Er hatte sein Atelier unten am Posilip, ungefähr zwanzig Minuten von der Villa Angri, wurde aber bald täglicher Gast des Hauses. In seiner bisherigen Bildung und Erziehung war er, ganz wie Heinrich von Stein, weit davon entfernt gewesen, ein bewußter ›Wagnerianer‹ zu sein: er hatte die 76er Festspiele als Zuhörer mit erlebt, sich aber mit den Gedanken des Reformators so wenig beschäftigt, daß er kaum je einen Blick in dessen Schriften geworfen. Doch war der Meister unter den Menschen, mit denen er während seines ganzen Lebens zu verkehren gehabt, immer nur auf zwei Gattungen getroffen: [299] die einen, die in ihm den weltberühmten Künstler bewunderten (und wieviel Kälte und Gleichgültigkeit lag oft in dieser Bewunderung!); die anderen, die ihn liebten. Paul Joukowsky gehörte zu dieser letzteren Gattung: er liebte den Meister. ›Freiwillige Abhängigkeit‹, sagte er mit Goethe, ›ist der schönste Zustand, und wie wäre der möglich ohne Liebe?‹ Noch in späterem Rückblick auf die drei Jahre, die er mit Richard Wagner und den Seinigen verleben durfte, fand er, daß dieses schöne Goethewort am erschöpfendsten die Stimmung wiedergebe, die ihn bei dem Gedenken an dieses Zusammensein ergreife. Obschon er den Vorzug genoß, schon von seinem früheren Münchener Aufenthalt her mit der Gemahlin des Meisters bekannt zu sein, war er ihm doch in Bayreuth nicht vorgestellt worden. ›Ich hielt es‹, so berichtete er uns selbst, ›für meine Pflicht, Frau Wagner (bei so naher Nachbarschaft) einen Besuch zu machen; sie teilte mir mit, daß der Meister die Gesichtsrose habe, lud mich aber ein, nach seiner Herstellung einmal am Abend wiederzukommen und sagte mir, mein Name sei ihm von Bayreuth her bekannt. Ich empfand eine gewisse Scheu, in die Nähe des großen Mannes zu kommen: so vieles hatte ich wie alle von der »Unberechenbarkeit« und »Schwierigkeit« seines Charakters gehört, daß ich glaubte, es sei klüger, ihn nur aus seinen wundervollen Werken zu kennen. Von ihm wiederum erfuhr ich späterhin, daß die Aussicht auf den Besuch eines Russen, mit dem er glaubte wieder nur französisch sprechen zu müssen, ihm gar nicht angenehm war. Als ich mich nun eines Abends (Sonntag, 18. Januar) in der Villa Angri meldete, kam alles ganz anders, als wir beide erwartet. Wiederhergestellt von der Rose, fand ich Wagner heiter angeregt und unendlich liebenswürdig und milde. Meine Kenntnis des Deutschen, welches meine Muttersprache ist,13 schien ihm eine angenehme Überraschung zu sein. Dieser Abend wird mir ewig unvergeßlich bleiben Blitzartig bildete sich zwischen uns ein Verhältnis der tiefsten Sympathie, welches bald zu dem Bedürfnis des täglichen Verkehrs führte. Immer wieder erfolgte von seiner und Frau Wagners Seite das liebenswürdige Wort: »Sie kommen doch bald wieder?«, was ich mir nicht zweimal sagen ließ.‹ Das Gespräch mit dem feingebildeten jungen Manne aus der höchsten russischen Aristokratie floß gleich vom ersten Anbeginn ungezwungen und lebhaft angenehm dahin, wie der Meister es liebte. Er entwickelte Joukowsky u.a. gleich am ersten Abend seine Ansichten über Rußland, indem er mit den Worten begann: ›Ich wüßte Rußland wohl zu helfen, aber niemand will mich befragen. Der Kaiser müßte selbst Petersburg anzünden, seine Residenz vorerst nach Odessa verlegen, um dann nach Konstantinopel zu gehen. Das ist der Weg, dann [300] erst kann es sich zeigen, was in dieser slawischen Rasse steckt. Aber dazu gehörte ein großer Kerl, und die entstehen jetzt nicht mehr.‹

›Wer Wagner nicht im engsten häuslichen Kreise gekannt hat‹, berichtet Joukowsky in seinen Erinnerungen,14 ›der macht sich keinen Begriff von seinem Gemüt, seiner Güte und seiner kindlichen Liebenswürdigkeit. Frau Wagner hatte ganz recht, als sie ihn einst dem Kinde mit der Weltkugel verglich, welches der heil Christophorus durch den Fluß trägt; er war ein Kind an Gemüt und trug eine Welt in seinem Innern. Ich war in Wahrheit in eine neue Welt versetzt, deren unendlicher Reichtum mir täglich aufging. Meine Stimmung in dieser Zeit war enthusiastische Liebe, mit der ich alles umfaßte, was dieses Haus enthielt. Ich war nie einem idealeren Familienleben begegnet. Frau Wagners ganzes Streben bestand einzig und allein in der beständigen Sorge, jede Art von Verstimmung von ihrem Manne fernzuhalten und ihm alle erdenklichen Freuden und Überraschungen zu bereiten Lieblich war das Verhältnis der Eltern zu den fünf Kindern, und alle fremden Elemente, welche mit diesem Hause in Berührung kamen, wurden unwiderstehlich in den Bann dieses Zaubers hineingezogen. Wenn ich andern ein deutliches Bild von der Stimmung geben wollte, die ich die »Wahnfried«-liche nenne, würde ich ihnen eines jener Bellinischen Bilder in Erinnerung zu bringen suchen, wo dieser herrliche Meister gewöhnlich die Madonna mit dem Christkind auf einen hohem Throne sitzend dargestellt hat, zu welchem keine Stufen hinausführen. Die hohen Wesen, die da oben sitzen, sind unerreichbar für die in tiefer Ruhe und Nachdenklichkeit um den Thron herumstehenden Heiligen. Diese sante Conversazioni Bellinis sind nichts anderes als Stimmung und bedeuten das ruhige und reine Glück der Zusammengehörigkeit.‹ Diese Zusammengehörigkeit wob alsbald ihr unsichtbares, aber um so fühlbareres Band zwischen der hoch oben auf dem Felsen thronenden Villa Angri und dem einsamen Bewohner der auf der mittleren Höhe unmittelbar am Golf belegenen Villa Postiglione. Es kam vor, daß Joukowsky, um den Meister zu erfreuen, seinen Diener Pepino mitbrachte, einen jener neapolitanischen Volkssänger, die durch die Naturgabe der reinen vollen melodischen Gesangsstimme, durch Vortrag und Leidenschaft entzücken und den er gütig aus Elend und Verkommenheit gezogen Wagner bewunderte u.a., wie dieser unausgebildete, eben deshalb aber auch nicht verbildete Sänger aus eigener Anlage die schwierige Kunst der richtigen Atemeinteilung ausübte; auch die von ihm vorgetragenen Volksmelodien waren einzig in ihrer wild zärtlichen, heiter einschmeichelnden, verführerisch sinnlichen Art. Und welchen Eindruck machte es dann, als der Sänger, der in München eine Aufführung des [301] ›Ringes‹ mit angehört, sich der Melodie der Rheintöchter zu erinnern suchte! Der Meister selbst half ihm ein, indem er sich an das Klavier setzte, und die ganze Schönheit der Natur entstand vor den ergriffenen Zuhörern: das bloße sinnlich begehrliche Tier mit seinem leidenschaftlichen Sehnen und Verlangen wandelte sich bei dieser Melodie in den unschuldigen Menschen. Auch empfand der Meister, Freude an der höchst merkwürdigen, wuchtig gedrungenen, schlichten und stolzen Erscheinung dieses Natursohnes, und er bemerkte, wie richtig die Wahrnehmung sei, daß die italienische Oper, auf dem Volksgesang basiert, nur entsetzlich sich verdorben habe.15

Wir bemerkten im voraus, wie wenig der liebenswürdige neue Hausfreund als durchaus naive Künstlernatur noch ›wagnerisch‹ geschult war, wie wenig er die seit Jahrzehnten schriftlich geäußerten weitreichenden Gedanken sich anzueignen bemüht hatte, so daß hieraus für den Meister die Geduldprobe entstand, auch in diesem Gebiete geistiger Mitteilung es immer wieder mit neu hinzutretenden Anfängern zu tun zu haben, längst Gesagtes wiederholen und längst widerlegte Irrtümer aufs neue anhören zu müssen. Bevor der singende Diener eingeführt war, hatte Joukowsky in der Unterhaltung der ›Franzosen‹ gedacht, welche einst beim ›Tannhäuser‹ seine Kunst ›ausgezischt‹ hätten, – ein traditionelles Mißverständnis, bis auf den heutigen Tag immer wieder von denjenigen sorgsam gepflegt, in deren Interesse es lag, die oder den wahren Urheber jenes Skandals absichtlich zu verschleiern, als ob nicht gerade aus den gebildeten Kreisen französischer Kultur er die verständnisvollsten Anhänger sich gewonnen, und im Pariser Publikum die größte Gerechtigkeit angetroffen hätte!16 Deshalb brach er mit furchtbarer Heftigkeit los: ›Nicht die Franzosen sind es, sondern die deutschen Juden! Und was sind die Juden? Wir sind es, wir Schwächlinge, die für alle Scheußlichkeiten nur Seufzer haben‹ usw. ›Bei aller kindlichen Güte des Genius‹, bemerkt daher Joukowsky, ›hatte man zuweilen das Gefühl, am Fuße eines Vulkans zu leben, so groß war seine Erregbarkeit. Eine unbedachte Äußerung konnte ihn in heftigen Zorn und tiefste Entrüstung versetzen.‹ Noch bei einer [302] späteren Unterhaltung kam er auf diesen Gegenstand zurück, wie prachtvoll das Pariser Publikum damals für ihn gekämpft habe, aber doch keine Macht gewesen sei gegen die Jockeys, gegen diesen Klub, welchem anzuhören unsere deutschen Gesandten sich zur Ehre rechneten. Und mit lebhaftem Eifer erging er sich über die ›Brutalität‹ dieser so sein sich dünkenden Gesellschaft. Andererseits entlockte ihm eine mißverständnisvolle Äußerung Daudets in einem seiner Bücher den Ausruf: ›Die Leute in Paris bilden sich ein, daß die ganze Welt sich um sie kümmere, z.B. von mir, daß ich immer eine aigreur gegen Paris hegte, weil ich dort keinen Erfolg gehabt! Das Beste bleibt, sich gar nicht um sie zu kümmern, außer da die übrige Welt so elend ist, sich das nicht selbst besorgen zu können für Kleider und Parfümerien!‹

Leider war seine Gesundheit um diese Zeit noch keineswegs befestigt, die Rose drohte jeden Augenblick wiederzukehren und ein Ausbruch von Reizbarkeit, wie der eben geschilderte, gibt deutlich davon Zeugnis. Wohl lautete das Urteil Professor Schröns, nach einer gründlichen Untersuchung, tröstlich: er sei in seinem ganzen Organismus wie ein junger Mann; aber sein Befinden stimmte nicht zu diesem günstigen ärztlichen Befund. Eine Anzahl Medikamente an Pulvern und Pillen waren ihm zur Linderung mannigfacher Leiden verschrieben: ›Die Schachteln seh' ich wohl‹, sagte er dazu, ›allein mir fehlt der Glaube.‹ Um den 20. Januar trat wieder große Kälte ein, der Vesuv war in Schnee gehüllt, und es verstimmte ihn ernstlich zu hören, daß seit Menschengedenken in Neapel kein so harter Winter geherrscht habe, wie gerade in diesem Jahr, wo er sich vor den Bayreuther klimatischen Einflüssen hierher geflüchtet. Bei grauem Wetter machte er dennoch eines Nachmittags seine Tramwayfahrt zur Stadt und kehrte im offenen Wagen zurück, um sich mit Frösteln zu Bett zu legen: tags darauf war die Gesichtsrose wiederum in voller Blüte. Er blieb zu Bette, in einem lethargischen Zustand, der nur durch seinen Unmut unterbrochen wurde. Draußen stellte sich inzwischen wieder herrlichstes Wetter mit 23° Wärme ein er konnte es nicht genießen und dumpfe Träume erinnerten ihn, wie oft, wenn er leidend war (vielleicht im unbewußten Anschluß an die kurz zuvor geführten Gespräche), an die schrecklichste Zeit seines Lebens, das ›Pariser Tannhäuserjahr‹. Der parfümierte Geruch der Salben wirkte dazu mit; er rief ihm den Vorschlag Direktor Royers zurück: in der Venusbergszene bei dem ›sieh dort die Grotte‹ das Opernhaus auf einen Schlag mit Rosenduft zu füllen, ein Vorschlag, der ihm so widerwärtig gewesen sei, wie sonst der Duft ihm angenehm. So dauerte es tagelang, und als die Rose allmählich sich verzog, verstärkten sich die rheumatisch-katarrhalischen Leiden. Von neuem machte sich die Augenentzündung geltend, die ihn schon in Bayreuth (S. 286) im Gefolge der Rose geplagt hatte und die ihn jetzt zwang, während draußen die strahlende Sonne Neapels alles mit ihrem goldenen Schein übergoß, sich im verdunkelten [303] Zimmer zu halten und sich vorlesen zu lassen. Auch war er ungeduldig über das viele Medizinieren. Ein Gespräch mit Dr. Schrön über deutsche Zustände und die Verstärkung des deutschen Heeres um 60 bis 100000 Mann brachte ihm das ganze Elend Deutschlands mit seinem Militarismus und seiner Judenwirtschaft so nahe, daß er keinen anderen Gedanken mehr fassen mochte, als den der Auswanderung. Jene von ihm selbst so bezeichnete ›Unruhe des Genies‹ (S. 231) gibt sich darin kund, – ›immer etwas suchend, was es nirgends findet‹. Bereits malte seine rastlos tätige Phantasie es sich mit allen Einzelheiten aus, wie er, Europa im Rücken, in Minnesota – gegen Subskription einer Million Dollars – Theater, Schule und Haus gründen würde. Amerika sei der einzige Erdteil auf der Weltkarte, dessen Anblick ihm Vergnügen mache: ›was die Hellenen unter den Völkern Europas, das sei dieser Erdteil unter den Ländern!‹ Er ließ sich durch Stein eine Karte von Nordamerika bringen: ›Ja, die werden uns überflügeln! Wir sind ein zugrundegehendes Sammelsurium. Wo überhaupt gibt es noch Deutsche? Die heroischen Geschlechter sind bei der Völkerwanderung umgekommen, nur die Philister zurückgeblieben. Die Preußen sind da, um von Zeit zu Zeit die, Franzosen zu schlagen, wenn sie übermütig werden; trotzdem bleiben diese die Götter und Beherrscher der Welt!‹ Es ist ersichtlich, daß bei diesen Hoffnungen auf die ›neue Welt‹ ihm dennoch mehr das Bild des Weltteiles selbst als das seiner Bewohner vorschwebte. Unwillkürlich werden wir an jenen frühvernommenen Ausspruch seines Oheims Adolf Wagner erinnert: ›unser Weltteil ist eine überreife Frucht, welche ein Sturm abschütteln wird; nach Amerika geht der Zug der Geschichte‹.17 Noch war ihm der Gedanke Gobineaus nicht nahegetreten, daß die ganze gemischte Bevölkerung der vereinigten Staaten, so jung und zukunftsreich sie sich wähnt, in Wirklichkeit die alte Bevölkerung Europas ist. ›Auf der langen und schweren Reise, welche diese Auswanderer in ihr neues Vaterland führte, hat die Seeluft sie nicht umgestaltet: wie sie hier abgereist, sind sie dort angekommen; die Verlegung ihres Wohnsitzes von einem Punkte der Erde auf einen andern hat sie nicht regeneriert.‹18 Er behielt es sich vor, über sein amerikanisches Projekt an einen Kenner, wie Dr. Jenkins, zu schreiben, und war nur befriedigt, endlich wieder auf die Terrasse seines Hauses treten und sich des Schönen erfreuen zu können, das sich hier vor seinen Augen ausbreitete.

Aus den gesellschaftlichen Beziehungen dieser Periode wäre etwa, außer Joukowsky, der bald wie Stein ganz zur Familie gehörte, der Verkehr mit [304] dem Fürsten Ouroussow zu erwähnen, dem nachmaligen russischen Botschafter in Paris, Rom und schließlich Wien, der sich mit seiner Gemahlin, ehem. Frau von Abaza, zeitweilig in Neapel aufhielt.19 Bei ihm machte er sogar einmal (kurz vor der letzten Erkrankung) eine Gesellschaft mit. Unter den zahlreichen Bekanntschaften, die ihn bei dieser Gelegenheit schließlich in immer neuen Vorstellungen ziemlich gleichgültiger Personen ermüdeten, war der Fürst selbst, mit dem er auch fernerhin den Verkehr aufrecht erhielt, unstreitig die bedeutendste. Er bewies dies dadurch, daß er der einzige war, der ihn nicht in Unterhaltungen über Musik zu ziehen versuchte, während die anderen ihn über Raff usw. befragten, bis er schließlich erklärte, er sei ›kein Musiker‹ und könne ihnen über diese interessanten Dinge keinen Aufschluß geben. Nichtsdestoweniger war er den ganzen Abend über doch nach allen Seiten hin ungemein lebhaft und freundlich; und als man in einseitiger Bewunderung den Wohllaut italienischer Musik rühmte, ließ er sich sogar dazu herbei, das Thema mit Terzenbegleitung aus der ›Norma‹ auf dem Flügel anzuschlagen, um zu zeigen, wie man das Allerwehlantendste sehr gut hier vertrüge. Bei Tisch sprach er scherzend davon, daß er nicht wisse, weshalb ihm Rußland nicht längst eine Pension gestiftet; denn er sei immer dafür gewesen, daß die Russen Konstantinopel besetzten:20 statt dessen habe – der Sultan Patronatscheine genommen. ›C'était pour vous gagner‹, entgegnete der Fürst mit seinem Eingehen auf seinen Scherz. Mit der Fürstin Ouroussow und Gräfin Schulenburg stellte sich gelegentlich auch Graf Harry Arnim21 in Villa Angri ein, und der Meister fand den Schwergeprüften angenehm und rührend durch Krankheit und Melancholie;22 ohne daß es nach diesen [305] Richtungen hin zu irgendwelchem ferneren Umgang gekommen wäre War er doch nicht zu dem Zwecke nach Neapel geflüchtet, um sich in irgendwelchen zerstreuenden Verkehr mit einer Gesellschaft zu stürzen, die in Haß und Liebe, in Zuneigung und Abneigung doch nur ihren eigenen engen Interessen nachging Wenn er in diesem Sinne selbst von seiner ›Vereinsamung‹ gegenüber der Welt da draußen sprach, und daß außer seinen Allernächsten niemand zu ihm gehöre, so war dies keine Klage, vielmehr das ruhige Bekenntnis des bestehenden tatsächlichen Verhältnisses und es lag eine Befriedigung darin ausgedrückt: ›wir haben es vernünftig gemacht!‹ ›Wir haben nur füreinander gelebt‹, sagte er ein anderes Mal von der hochgesinnten Edelsten der Edlen, die, indem sie die ganze Welt hinter sich ließ, um ihm zu dienen, zu ihm zu gehören, das intellektuelle Genie eines kongenialen Verständnisses mit der höchsten sittlichen Kraft der Liebe verband, ›wir haben nur füreinander gelebt, und dabei ist für die andern etwas herausgekommen.‹

In seiner Lektüre hatte er auf die ›Gespräche mit Goethe‹ dessen Lebensbeschreibung durch Düntzer folgen lassen und freute sich dessen, in diesem guten einfachen Buche geringere Spuren der Affektation zu finden, welche gegenwärtig die deutsche Schreibweise verunziere. Er hob hervor, wie schön die weimarische Periode durch die praktische Tätigkeit gewesen sei; gewiß verdanke ihm der Weimarische Staat das, was Carlyle an ihm so gerühmt. Und das unter großen Schwierigkeiten, gehaßt vom Hofe, gezwungen die meisten aus der Administration hinauszuwerfen; er hätte nur des Verhältnisses mit Frau von Stein wegen ausgehalten, das er sonst hätte aufgeben müssen. Das einzige, was einem wohltäte, wäre die Freundschaft mit Schiller. Man empfände es, wie er trotz der ›ausgezeichneten‹ Menschen, mit denen er verkehrt, sich in ihrer Mitte fremd und einsam gefühlt. ›Über »Egmont« schütteln sie die Köpfe, »Tasso« wird kaum verstanden: nun tritt ihm ein volles Verständnis seitens eines Ebenbürtigen entgegen.‹ Und zwar sei Schiller durch seine Idealität viel sicherer gewesen, während Goethe immer ein experimentierendes Wesen blieb: ›immer neugierig, der reine Kindskopf mit seinem Klopfen und Tasten, aber mit einer ungeheuren Liebe zur Natur‹.23 Auch beschäftigte ihn Renans ›les églises‹; gleich die Vorrede sprach ihn an und er rühmte, daß es bei den Franzosen noch Menschen mit Geist gebe. Ihn interessierte die Erwähnung Marcions, der das ganze alte Testament für ein Werk des Teufels erklärte und es vom neuen habe trennen wollen. Er konstatierte mit Befriedigung die Übereinstimmung zwischen Renan und Gfrörer in der Auffassung [306] des Johanneischen Evangeliums; sowie andererseits die Tatsache daß dem ›Gräßlichsten in der Geschichte‹, der Kirche, schon in den zwei ersten Jahrhunderten ihrer Entstehung der arge Charakter der späteren Zeiten anhaftete. Und die Erwähnung dessen, daß Marc Aurel während seiner ganzen Regierung keine Kenntnis von dem entstehenden Christentum habe nehmen können, ließ ihn ausrufen: ›So wundre ich mich nicht, daß Kaiser Wilhelm und Bismarck keine Ahnung von meiner Idee haben; hätten sie den Sinn dafür, so hätten sie doch nicht die Zeit dazu!‹ Vor allem aber war es Gleizes' ›Thalysia‹,24 die in der Originalität ihrer Gedanken und der prophetisch begeisterten Art des Vortrages sogleich nach ihrem Eintreffen den vollen fesselnden Reiz auf ihn ausübte, den jeder Zartempfindende beim ersten Eindruck dieses merkwürdigen Buches empfängt, vollends der kühne schöpferische Dichtergeist, der von je vor keinem Radikalismus zurückschreckend für diese Empfängnis völlig vorbereitet an dasselbe herantrat, ja in seinem eigenen Gedankengang genau auf diesen entscheidenden Punkt gelangt war Wieder holt war ihm die Lehre von der reinen Pflanzenkost vom bloßen Nützlichkeitsstandpunkt nahegetreten; ja er hatte einst in Triebschen den jungen, Freund Nietzsche mit allem Eifer wohlmeinend davon abzubringen gesucht:25 hier aber handelte es sich doch um etwas anderes. Nämlich um die Frage, die ihm bereits in seinen letzten Erwägungen nahegetreten war: ob der Mensch in seinem ursprünglichen vorgeschichtlichen Zustande wirklich bereits als die blutvergießende reißende Bestie mit Notwendigkeit zu betrachten sei, oder ob sich die hypothetische Möglichkeit böte, sich in einem günstigen Klima einen früheren unschuldsvollen Zustand desselben vorzustellen, aus welchem er erst durch gewaltsame Konvulsionen und Revolutionen der ihn umgebenden Natur zu seiner späteren Entartung gelangt sei. ›Ein liebenswürdiges Wesen, dieser Gleïzès!‹ rief er aus, indem er dessen Ansicht zitierte, daß selbst unter den Tieren das gegenseitige Blutvergießen erst nach Entstehung der Wüsten sich ausgebildet, und der Tiger erst dadurch zum Raubtier geworden sei; wie denn in den feuchten Umgebungen der Kanadischen Seen den Panthern und Tigern verwandte tierische Geschlechter noch heute als Fruchtesser leben sollen Oder er führte daraus den Ausspruch Catos an: er gehe nicht gern mit Menschen um, deren Gaumen zarter sei als ihr Herz. Die Auffassung des hl. Abendmahles als eines durch die Überlieferung entstellten Symboles für die Enthaltung vom Tiermord und der damit zusammenhängenden Fleischnahrung, indem [307] zum Gedächtnis des Heilandes und als das Siegel des neuen Bundes Brot und Wein an die Stelle von Fleisch und Blut treten und künftig kein schuldloses Passahlamm mehr erwürgt werden sollte, nahm ihn auf das lebhafteste für sich ein.26

Nachdem die eigene Krankheit des Meisters kaum soweit überwunden war, daß er wieder die Wohltat der Sonne und der frischen Luft genießen konnte, trat unmittelbar darauf eine neue Prüfung ein, durch die Erkrankung der ältesten Tochter des Hauses an einem typhösen Fieber. ›Schlecht genug geht mir's‹, schreibt er unterm 11. Februar an Wolzogen, ›jetzt liegt Daniela am Typhus darnieder! Viele Grüße in Hast und Sorge!‹ Die tückische Krankheit zog sich durch mehrere Wochen hin und übte von neuem einen Druck auf die Stimmung der ganzen Wahnfried-Kolonie aus. Da eine anhaltend sorgsame Pflege vonnöten war, wurde eine Sœur de l'Espérance ins Haus berufen, die ihm durch ihre Heiterkeit, ihre Ruhe, ihre gleichmäßige Betätigung, ja die aus ihrem abgeschlossenen neugierdelosen Wesen sprechende Vornehmheit die achtungsvollste Sympathie abgewann. ›Wie eine volkstümliche Fürstin kommt sie mir vor!‹ rief er ein über das andere Mal aus, und: ›oh, wie beschämt einen diese Schwester!‹ Ihr ganzes Wesen, daß er als ›sittliche Genialität‹ bezeichnete, gab ihm viel über die Kirche zu denken, die noch fähig sei, in ihrem Schoß solche Erscheinungen zutage zu fördern. Für die Krankenstube sandte Joukowsky einen Zerstäuber neuester und vollkommenster Konstruktion, und der Meister erwiderte die Sendung durch einen launigen Reimspruch, der sich noch heute als liebevoll aufbewahrte Erinnerung im Besitz ihres Empfängers befindet. Das Geburtsfest der jüngsten Tochter Eva, welche mit diesem Tage in ihr vierzehntes Lebensjahr eintrat, fiel glücklicherweise schon in die Zeit einer langsam vorschreitenden Besserung, so daß er nachmittags im Atelier Joukowskys feierlich begangen werden konnte Pepino sang zur Feier des Tages zum Entzücken aller Anwesenden; Wagner selbst spielte am Klavier diejenigen melodischen Züge aus dem ›Ring‹, von denen er sich dachte, daß der Sänger sie von jener seiner einmaligen Anhörung des Werkes behalten haben könnte, und machte den Schluß mit dem Brautzug aus ›Lohengrin‹. Dem Geburtstag zu Ehren wurde sogar [308] abends der Versuch gemacht, mit den beiden Töchtern Blandine und Eva noch einmal ein italienisches Theater zu besuchen. Es war das Teatro Bellini, und man gab den ›Barbier‹; der hübsche Saal war erfreulich, die Aufführung aber durch völlige Abwesenheit jeder guten Tradition so trostlos, daß irgendwelche Versuche dieser Art, mit dem herrschenden italienischen Kunstgeist sich zu befreunden, als hoffnungslos aufgegeben wurden. Als kurz darauf die Nachricht von einem neuen Attentat auf den russischen Kaiser, durch eine Explosion im Winterpalais, die ganze Welt erfüllte, kam die Rede auf die russischen Zustände, wobei Joukowsky die Meinung aussprach, Peter der Große sei ein Mann von weitblickendem Verstande gewesen. Wagner leugnete dies entschieden: ›von enormem Willen, ja; aber nicht von großem Sinn: sonst hätte er seine Residenz nach Odessa, anstatt nach Petersburg verlegen und, statt mit den Schweden, mit den Türken Krieg führen müssen‹ (S. 300). Dagegen unterhielt es ihn zu erfahren, daß die Nihilisten dem Minister der Volksaufklärung, Tolstoi, geschrieben hätten: Se. Exzellenz möge nur ruhig ohne Eskorte ausgehen, sie sei ihres Lebens sicher; denn sie arbeite doch mit ihren törichten Verfügungen dem Nihilismus in die Hände. Zu starken Gegensätzen in der Auffassung der Dinge kam es zwischen ihm und dem jungen, Freunde bei der Beurteilung der italienischen Renaissance. ›Die ganze Renaissance mitsamt ihrer Malerei‹, rief er feurig, ›erkläre ich für eine Barbarei, trotz der großen Genies, die mitten darin lebten und wirkten, – auf welchem Grunde erhob sich ihre Kunst? Wie könnte sich diese auch nur entfernt mit der Aufführung einer Aeschyleischen Tragödie vergleichen, die ein Ausfluß des gesamten Volkslebens und ein Gottesdienst war?‹ Das Gespräch kam auf die Einnahme Roms durch Garibaldi, und er warf diesem vor, zu rücksichtsvoll gehandelt zu haben, indem er Ordre gab, die Leostadt nicht zu bombardieren. Joukowsky entgegnete: ›Aber Meister! mir sind die Kunstschätze des Vatikans, ja ein Bild von Raphael mehr wert, als ganze Generationen von Italienern und ihr Wohlergehen!‹ Ein unbedachtes Wort, wie dieses, reichte hin, um in dem großen Volksfreunde die ganze Flamme seines heiligen Zornes zu entzünden: ›Da haben wir die »Künstler«, die Ästheten!‹ Jene Kunst, so führte er nun des näheren aus, sei auf dem Grunde einer Fäulnis entstanden, welcher ein Ende zu machen der Trieb dieser Menschen gewesen sei; und wenn einmal Blut geflossen, dann noch Bilder schonen zu wollen, sei erbärmlich und lügenhaft. ›Ich würde mit Freuden alles, was ich geschaffen habe, dahingeben und vernichten, wenn ich hoffen könnte, daß dadurch Freiheit und Gerechtigkeit gefördert würden!‹ In höchster Erregung sprang er auf und entfernte sich, den jungen Freund tief erschüttert zurücklassend; er warf die Tür hinter sich zu und erschien den Abend nicht wieder. Daß er nach einer solchen, ihm selbst immer am meisten nachgehenden Explosion zeitweilig das Zimmer verließ, haben wir schon in [309] mehreren Fällen wahrgenommen (S. 57, 153, 298); es war seine Gewohnheit und er kehrte dann nach einer Weile beschwichtigt zurück. Daß ihm das diesmal nicht möglich war, bekundete deutlich, daß diese Auffassung des Verhältnisses von Leben und Kunst zu tief in sein Inneres eingriff und der naive Ausdruck einer solchen unseren ›Ästhetikern‹ nur allzugeläufigen Wertung beider Elemente gegeneinander mit seinem ganzen Wesen und dem Ernst seiner Kunst- und Lebensauffassung völlig unvereinbar war.

Dem guten Verhältnis zu dem außerordentlichen, seinem Herzen nahestehenden jungen Freunde tat ein solcher Zwischenfall natürlich nicht den geringsten Abbruch; im Gegenteil. Gerade um diese Zeit wurde Joukowsky für eine längere Zeit ein noch regelmäßigerer Gast des Hauses, als er es zuvor gewesen, da er sich eben damals an das lebensgroße Portrait der Gemahlin des Meisters machte, welches noch heute als ein edles Kunstwerk von erhabenem Ausdruck den Saal von Wahnfried ziert. Da die Sitzungen dafür in die Vormittagsstunden fielen, nahm er von jetzt ab täglich an dem gemeinsamen Frühstück der Familie teil und immer war seine Gegenwart dem Meister wert und angenehm. Mit Interesse verfolgte er die allmähliche Entstehung und Vollendung des Gemäldes, von dem er scherzend sagte, es würde die ›mater colorosa‹ werden und um dessentwillen er Joukowsky mit Wärme seinen ›Wohltäter‹ nannte; denn – ›kein Mensch will sonst meine Frau malen‹.27 Wiederholt war dieser damals auch mit dem Fürsten und der Fürstin Ouroussoff in der Villa Angri, bei welchen Gelegenheiten Wagner allerdings gezwungen war, gegen seine Neigung sich der französischen Sprache zu bedienen; doch war er trotzdem immer freundlich und heiter. Einmal spielte er für diese seine Gäste die russische Nationalhymne, im Anschluß daran den Kaisermarsch und endlich auch die Marseillaise.

Ganz zur Familie gehörig blieb auch Heinrich von Stein, den bald ein enges Freundschaftsbündnis, aus gleicher Verehrung und Begeisterung entsprungen, mit Paul von Joukowsky vereinigte. Gern folgte der Meister seiner regen geistigen Entwickelung und erfreute sich des stetigen Ernstes, der strengsten Gewissenhaftigkeit, mit denen er seine Aufgabe als Erzieher erfüllte. ›Seine ganze Person‹, sagt sein Biograph Poske mit Recht von ihm, ›war eben durch und durch Idee und trug deshalb trotz der glänzenden Vielseitigkeit seiner Begabung das Gepräge des Einfachen, Schlichten. So war ein unschöner Gedanke ihm nicht einmal als flüchtige Anwandelung möglich, und sein Trieb, den Dingen dieser Welt einen tieferen, edleren Sinn abzugewinnen, [310] begleitete ihn auf Schritt und Tritt und gab auch dem alltäglichen, harmlosen, ja scherzhaft plaudernden Gespräch mit ihm Gehalt und Würde.‹28 Es kam vor, daß er beim abendlichen Familienzusammensein, von Wagner dazu aufgefordert, den einen oder den andern seiner damals im Entstehen begriffenen, später in dem Bande ›Helden und Welt‹ vereinigten Dialoge, oder seine nach Form und Inhalt vollendeten Übertragungen einiger Gedichte von Giordano Bruno (aus den ›eroici furori‹) zum Vortrag brachte. Insbesondere war das Aktäon-Sonett: ›Die Doggen los!‹29 ein Liebling des Meisters: er fand den Vergleich mit Aktäon wundervoll und die Form des Sonettes darin äußerst glücklich zur Geltung kommend. Von den Dialogen hatte der zuerst verfaßte ›der junge Imperator‹ noch am wenigsten Objektivität, am meisten von jener jugendlich subjektiven Gefühlsüberschwänglichkeit, die er mit den Schriften aus Steins erster Periode teilt. ›Sehr deutlich bin ich mir bewußt‹, sagt der junge Dichter später rückblickend selbst von ihm, ›daß er ein erster Versuch war, durch eine künstlerische Tätigkeit an dem Leben teilzunehmen, in dessen weihevollen Kreis mich eine ernste Absicht, in ahnendem Unbewußtsein, gezogen hatte.‹ Die Stimmung aller danach war eine etwas schwere, und es geschah im Anschluß daran, daß Wagner selbst den Anwesenden das soeben erwähnte Aktäon-Sonett vortrug und ihm seinen vollen Beifall zollte. Da die Unterhaltung durch mehrfache Zitate aus Gleizes auf Indien gekommen war, erzählte er in ergreifender Weise den Inhalt seiner ›Sieger‹: dieses Werk werde er im hohen Alter schreiben. Es würde ›sanfter‹ sein als ›Parsifal‹, in diesem sei, durch das überall hereinragende Bild des blutenden Heilands am Kreuze, alles jäh und schroff. Ein anderes Mal war von Steins Dialog ›Alexander‹ die Rede, in welchen der junge Dichter damals, außer der Episode des Kleitos, auch noch die Gestalt der Thaïs und den Brand von Persepolis hineinverflochten hatte. Der Meister riet ihm von dieser Kombination sehr ab: es sei in solchen Fällen sehr gut, einen einzelnen Moment zu wählen und darin die ganze Physiognomie des Menschen zu zeigen. Er wies auf Shakespeare als Vorbild hin, wie dieser aus dem Bedürfnis heraus, den ganzen Menschen zu zeigen, z.B. die Beratungsszene zwischen Glendower, Percy und Mortimer so ausgedehnt habe, um dann andere Dinge ganz kurz abzumachen. ›Es sind keine politischen Schemen, die[311] er uns vorführt, sondern Menschen, wie es auch der Abschied Percys von seiner Frau und Mortimers von der seinigen zeigt.‹ Im Anschluß daran las er aus Heinrich V. die Szene der Werbung (vgl. S. 36) mit voller Freude an der kecken Anmut, mit welcher der Dichter hier seinen Liebling verherrliche, der hier in seiner vollen Liebenswürdigkeit hervortrete.

Mittlerweile war auch die zweite schwere Krankheits-Prüfung soweit überstanden, daß man mit der allmählich wieder genesenen und zu Kräften gelangten Patientin eine Fahrt nach Puzzuoli unternehmen konnte, um ihr die, auf kürzestem Wege nach der entgegengesetzten Seite des Posilip führende gerade Straße durch die Grotte, den noch aus den Römerzeiten stammenden zehn Minuten langen Tunnel zu zeigen, der vom Golf von Neapel durch die Tuffsteinmassen des Berges auf den schimmernden Golf von Puzzuoli hindurchführt, und hier eine neue berauschende Aussicht auf Meer und Land in den wechselreichsten Formen zu genießen. Endlich schienen die Krankheiten überwunden und die Möglichkeit geboten, sich der Freude an der herrlichen Natur und dem unerschöpflich buntbewegten Volksleben zu überlassen Jeder Ausgang bot jetzt Erheiterung und allein der Kontrast der täglichen Heimkehr aus dem tollsten städtischen Gewimmel in die erhabene Einsamkeit der meerkrönenden Villa die mächtigsten Eindrücke. Bereits in der Karnevalszeit (in den ersten Februartagen) hatte er, um den Kindern ein Bild von diesem, alle Begriffe übersteigenden Gesamteindruck von Stadt, Volk, Sonne und Himmel zu geben, eine Ausfahrt in zwei Wagen den Toledo entlang30 zum sog. ›Blumenwerfen‹ angeordnet. Durch das unbändigste Getümmel, durch allen Wirrwarr von Mutwillen und lautem Geschrei hindurch ging es die lange Straße hinauf mit vielem Vergnügen des Meisters an dieser ›einzigen großen Stadt‹. Auf der Rückfahrt stockte im Gedränge die Bewegung der Wagen, man konnte inmitten alles Volkstobens nicht vor- und nicht rückwärts und war dem bis zum Brutalen gesteigerten Werfen so ausgesetzt, daß er dabei seinen Hut verlor, Brille und Auge bedroht fand und in heftigen Unwillen geriet, der in dieser Situation doch nichts nützen konnte. Um so mehr beruhigte und erfreute es ihn, bei der Heimkehr von den im zweiten Wagen befindlichen Kindern zu hören, daß sie in alles mit größter Heiterkeit sich gefunden, selber entgegengeworfen und auf alle guten und bösen Späße eingegangen seien. Doch sagte er von dieser Fahrt, sie sei ›kein Erschautes, sondern ein Erlebtes gewesen‹ und ließ die frohe Jugend zum bald darauf folgenden großen Gala-Corso (9. Februar) unter [312] dem Schutze seiner Gemahlin allein an dem tollen Treiben teilnehmen. Ein anderes Mal unternahm er dafür mit ihnen einen Spaziergang zur Marine und improvisierte eine Kahnfahrt um die ›Donna Anna‹, die schwermütig pittoreske Ruine jener einst (im 17. Jahrhundert) für die schone ehrgeizige Geliebte des Vizekönigs Herzog von Medina errichteten fürstlichen Villa, die – kaum erbaut – das Schicksal ihrer Gebieterin teilen mußte und jetzt in ihrem Innern eine Glasfabrik barg. Das Schönste aber genoß man eigentlich immer in der eigenen nächsten Umgebung der Villa Angri mit ihren Pinien, Zypressen, blühenden Kakteen und Mandelbäumen, dem Spaziergang zur ›Palme‹ (S. 293) und dem Blick auf Golf und Vesuv. Wenn dann abends zwischen Vesuv und Monte S. Angelo der Abendhimmel in immer dunklerem Rot sich färbte, langsam feierlich der Mond hinter den Bergen hervorkam und mit seinen Silberstrahlen das Meer liebkoste, daß es, ruhig und glatt wie ein Spiegel, dennoch millionenfach zu funkeln und schimmern begann; wenn im weiten Umkreis die den Golf umsäumenden Höhen sich ausbreiteten, seitwärts der flimmernde Lichterkreis der Gaslaternen des langgezogenen Strandes von Neapel und hinter ihnen, malerisch aufgetürmt, die weißen Mauern der Stadt selbst; oder ein anderes Mal magisch durchleuchtete Wolkenschichten alle Berge verdeckten, blaues Meer und blauer Himmel in eines verschwammen, die Gegend eine ganz andere geworden schien, so daß man auf der Terrasse selbst wie im Äther, in den Wolken zu schweben vermeinte: dann rief er wohl die Seinen ins Freie hinaus und es überkam ihn in dieser außer der Welt gelegenen Traumwelt ein eigentümliches Heimatsgefühl. Und doch: ›hier oben die schönen Linien der Natur bewundern, und unter uns auf der Straße die bettelnden Menschen, die geschundenen Tiere zu wissen‹ – das war eine Vorstellung, die sich immer störend dazwischendrängte. ›So kann denn auch dieser so aufwandvolle Aufenthalt in Italien‹, schrieb, er an Feustel, ›durchaus nur eine klimatische Bedeutung für mich haben. Selbst dies unglaubliche Neapel, mit allem Leben und Treiben darin, kann für mich nur ein Schauspiel zum Zweck der Zerstreuung, des Vergessens sein; worin selbst es mich nicht einmal wahrhaft unterstützen kann, da sich das ganze Elend unserer Zivilisation in tausend Erscheinungen des Elends, der Roheit und des Lasters immer von neuem an mich herandrängt.‹31 Auf der Straße sah er einen sonnegebräunten, mit Bildern handelnden Knaben, dem das Brett mit den eingerahmten Bildern von seinem Kopf aufs Pflaster gefallen war: wie vernichtet stand er vor all den zerbrochenen Gläsern da. Die Verzweiflung des armen Burschen war so groß, daß er es gar nicht einmal merkte, wie ihm der Meister einige Franken reichte und erst ein nebenstehender Herr ihn darauf aufmerksam machen mußte. [313] Alsbald sah sich der freigebige Spender aber auch von einem Schwarm gieriger Bettler umringt und hatte sich ›mit Händen und Füßen durchzuschlagen‹, um nur den Heimweg antreten zu können.

Dazu wollte die ›atra cura‹ seines körperlichen Befindens, hinter dem entfliehenden Reiter auf seinem Rosse gekauert, ihn doch auch in diesem Paradies nicht verlassen. Es kam vor, daß er nachts im Bette aufrecht sitzend, warten mußte, bis seine Brustkrämpfe vorüber waren. Wenn er dann gegen Prof. Schrön über seine anhaltende Müdigkeit klagte, die ihn auch zur Arbeit nicht gelangen ließe, so erwiderte dieser: das müsse so sein; er werde aber wie regeneriert zurückkehren und erst daheim die wohltätige Wirkung seines hiesigen Verweilens empfinden. Da lachte dann der Meister und sagte: da will ich doch lieber auf der Stelle nach Hause, um die verheißene Wohltat gleich zu genießen. Ursprünglich war die Zeitgrenze für sein Verweilen in Neapel auf Ende April oder Anfang Mai von ihm angesetzt gewesen; auf das Zureden Dr. Schröns, es mit den Seebädern Neapels zu versuchen, aber entschloß er sich bereits in den ersten Tagen des März zu einer bedeutend verlängerten Dauer desselben. ›Für jetzt muß ich darauf bedacht sein, meinen hiesigen Aufenthalt zu verlängern, da mir von meinem ausgezeichneten Arzte zur völligen Wiederherstellung meiner Gesundheit sehr ernstlich der Gebrauch der hiesigen Seebäder, welche erst im Juni beginnen dürfen, anempfohlen ist. Meine hiesigen Krankheiten waren nichts als die Nachwehen der Bayreuther klimatischen Einflüsse. Jetzt sind wir klüger, verlassen kaum unsere Terrassen und Gärten, meiden möglichst den gar zu großen Lärmen der Stadt und Gesellschaft, und ergeben uns dagegen dem erquicklichsten Genuß einer Luft und einer Sonne, wie man sie auf Erden wohl selten wieder antrifft.‹32 Bald darauf (19. März) akkordierte er bestimmt mit dem Besitzer der Villa Angri bis Ende Oktober des laufenden Jahres 1880. Damit waren zugleich die nie ruhenden Ansprüche, welche außerhalb seiner großen Lebensaufgabe – der Förderung seines ›Parsifal‹ – unaufhörlich an ihn gerichtet wurden, ein für allemal erledigt. ›Soll ich zu irgendetwas taugen, so muß in der Wiederherstellung einer entsprechenden körperlichen Konstitution bei mir erst wieder der Grund dazu gelegt werden. Der ungeheure Aufwand unserer neapolitanischen Niederlassung würde vollkommen vergeudet sein, wenn ich ihn nicht nach Möglichkeit zu jenem Zwecke verwendete. Ich glaube nicht vor Ende [314] des Jahres nach Bayreuth zurückzukehren Einstweilen habe ich noch einigen Trödel mit ... Angelo Neumann. Es ist hübsch!‹

So schrieb er – 5. März – an Wolzogen, in den zuletzt angeführten Worten auf einen dieser Ansprüche hindeutend, der ihn durch Mißverständnisse aller Art, angeblich ›verloren gegangene‹ Briefe u. dgl. Monate hindurch immer wieder beunruhigte; während aus den nachträglich veröffentlichten Briefen selbst hervorgeht, daß nicht ein einziger, weder an Neumann noch an Seidl gerichteter, tatsächlich sein Ziel verfehlt hat, sondern es sich allein um eine Zerstreutheit Neumanns und seine Befangenheit in eigenen Plänen und Wünschen handelte. Wie er selbst berichtet, war ihm alles daran gelegen, auch den ›Tristan‹ seinem Leipziger Repertoire einzureihen und damit die sämtlichen Werke des Meisters vom ›Rienzi‹ bis zur ›Götterdämmerung‹ auf seinem Spielplan zu haben. Der vom 11. Februar aus Leipzig datierte Brief, in welchem er dieses sein Anliegen vorträgt, ist noch heute im Besitze Wolzogens wohlerhalten. Er sprach darin von den ›wahnsinnigen‹ Bedingungen Jägers und, da er auch über eine zuverlässige Isolde nicht verfügte, schlug er für die erste Einführung des Werkes ein Gastspiel des Voglschen Ehepaares vor. Diesen Brief sandte der Meister aus dem Grunde an Wolzogen, weit dieser an Ort und Stelle (in Bayreuth) durch dessen persönliches Freundschaftsverhältnis zu Jäger am ehesten eine Beseitigung des Hindernisses erzielen konnte, und fügte anläßlich jener zu hoch hinaufgeschraubten Bedingungen die Klage hinzu: ›ich fühle mich fast immer behindert, wenn ich für Jäger zu sorgen gedenke. Von Wien auch noch keinen Bescheid.‹33 Neumann erwiderte er: er sei vor allem sehr gegen die Aufführung des ›Tristan‹ als Gastspielvorstellung, ›namentlich mit dem ewigen Voglschen Ehepaare, welche ihre Sache gewiß vortrefflich machten, als scheinbare Monopolisten des »Tristan« der Verbreitung seines Werkes aber hinderlich seien‹ Er möge daher den ›Tristan‹ nicht eher geben, als bis er ihn mit eigenen Kräften gut geben könne; mit Jäger müsse es sich doch endlich machen. Unter diesen Umständen wurde er dem Leipziger ›Tristan‹-Unternehmen gern seine persönliche Beteiligung zuwenden: auch wäre ihm eine Verschiebung der Aufführungen (bis zum Spätherbst) sehr gelegen, da er der ihm notwendigen Seebäder wegen seinen Aufenthalt jedenfalls bedeutend würde verlängern müssen.34

Soweit wäre nun alles gut und in Ordnung gewesen; der ›Trödel‹ begann erst mit Neumanns Antwort auf diesen Brief, in welchem er das vom Meister vorausgesetzte und betriebene Engagement Jägers mit keinem Worte erwähnte und ihm nur darin beistimmte, daß er den ›Tristan‹ mit eigenen Kräften und nicht bloß mit Gastdarstellern geben wollte.35 Diesen Brief, [315] der u.a. auch von der in Aussicht genommenen Verschiebung der Aufführung bis in den Spätherbst gar nichts sagte, sondern nur das hervorhob, woran ihm selbst für seine Absichten gelegen war, schickte der Meister wiederum gleich nach Empfang an Seidl mit einem ebenfalls wohlerhaltenen Schreiben vom 5. März 1880, des Wortlauts: ›Da hab' ich einmal wieder einen sonderbaren Brief erhalten, auf den ich nicht antworte, weil er mir gar nichts sagt. Herrn Direktor N(eumann) habe ich, auf Ihre letzten Mitteilungen hin, geschrieben, er möge den »Tristan« nicht für ein Gastspiel, sondern für sein stehendes Repertoir zur Aufführung bringen, – wobei ich stets das endlich doch noch zustande zu bringende Engagement Jägers annahm. Da Sie selbst von einer Verhinderung der Aufführungen in den Sommermonaten meldeten, antwortete ich Herrn Neumann, daß mir diese Verzögerung passend wäre, da ich der Seebäder wegen noch den Sommer über in Neapel bleiben würde. Hier nun die Antwort des Direktors! Gar keine Erwähnung weder Jägers, noch der Hinausschiebung, bis ich kommen könnte. – Ich erteile die Bewilligung zur Aufführung des »Tristan« aber nicht, sobald ich nicht selbst dem Studium beiwohnen und – wie ich versprochen – das Werk selbst an den mir nötig dünkenden Stellen für das Leipziger Personale einrichten kann; und dies aus dem Grunde, weit ich will, daß Leipzig damit ausgezeichnet bestehen und vorangehen soll. – Seien Sie nun so gut, dies gehörigen Ortes mitzuteilen!‹36 Es war ihm sicher kein Vergnügen, dasselbe, was er Neumann bereits ausführlich geschrieben, Zug für Zug noch einmal zu wiederholen; nun aber meinte er die Angelegenheit desto gewisser geregelt und erledigt zu haben Indessen: der Mensch denkt und – ein anderes Wesen lenkt, das aber nicht eben immer ein weisheitsvoll höheres ist! Vergegenwärtigen wir uns die Schlage: den vorstehenden Brief empfängt der treffliche Seidl gewissermaßen unter unseren Augen; wir sehen, wie er ihn eröffnet und liest; ja indem wir ihn lesen, wie er oben wörtlich mitgeteilt ist, geschieht es gleichsam über seine Schultern hinweg. Jetzt begibt er sich zu Neumann und zeigt ihm den eben eingegangenen Brief; sie diskutieren dessen Inhalt gemeinschaftlich: die Sache ist ganz sicher und völlig in Ordnung. – Ja, wenn sie es wäre! Ströme fließen sonst nicht rückwärts, aber dieser ganze ins rechte Flußbett geleitete Strom soll doch noch einmal zu seinem Quell und Ursprung zurückfließen!

Es ist bemerkenswert, daß Wagner weder den einen noch den anderen Brief Neumanns in seinen Händen zurückhält: den einen schickt er an Wolzogen, den anderen an Seidl. Er kann sich das gestatten; er ist es nicht gewohnt, Briefe aufzubewahren und zu registrieren, da ihr Inhalt, soweit er von Belang ist, in unverlöschlicher Schrift und voller Klarheit des Zusammenhanges [316] in seinem Gedächtnis zurückbleibt. Anders geht es in einer Leipziger Theaterkanzlei her, wo alle Korrespondenzen genau in ihren entsprechenden Rubriken aufbewahrt werden, – merkwürdigerweise nur gerade dieser Brief nicht, der mithin als nicht eingetroffen, als unterwegs ›verloren‹ gilt. Über jeden Zweifel hinaus steht dabei fest, daß weder von Neumanns, noch gar von Seidls Seite ein böser Wille, eindolus malus – praesumptus oder manifestus – zu statuieren ist. Für Seidl wäre dies noch im Grabe eine tödliche Beleidigung seiner Ehre als Bayreuther Jünger; was Neumann betrifft, so scheinen nicht allein seine vielfachen anderweitigen Direktionspflichten, sondern namentlich seine allzu bestimmt fixierten Pläne und Wunsche ihn etwas verwirrt zu haben. Vielleicht gar hoffte er noch auf Nachgiebigkeit von seiten des Meisters? Er fuhr inzwischen mit seinen Vorbereitungen für den Leipziger ›Tristan‹ im Juni 1880 fort! – –

Und noch ein zweiter Anspruch aus der engeren Heimat Bayreuth bedrohte die schwererrungene Ruhe. Im Anschluß an seine eigene Schulidee war die Möglichkeit von ihm erwogen, im laufenden Sommer in Bayreuth selbst große Orchesterkonzerte aus Beethovens Werten zu veranstalten, natürlich unter der Voraussetzung seiner Rückkehr im Mai. Der bereits erwähnte Brief an Wolzogen (vom 5. März) berührt diese Angelegenheit, insofern sie von den sorgenden Freunden mit dem Gedeihen des Patronatvereins in Beziehung gesetzt wurden. ›Wären Konzerte gegen »Entree« auch nicht so bedenklich, und andererseits immer noch viel weniger wirkungsvoll als Sie sich vorstellen (habe ich nicht in den größten Städten Konzerte gegeben, waren die Aufführungen von 1876 nicht belehrend und erweckend genug?) – so legte für dieses Jahr die Natur ihr Veto ein. Da ich für meine Kur von einem vortrefflichen Arzte hier geleitet werde, bin ich entschlossen, meinen Aufenthalt in Neapel, wo gerade auf dem von mir bewohnten Teile des Posilipo die herrlichste Luft auch den Sommer über erfrischen soll, bis zur Erreichung meines (gesundheitlichen) Zweckes zu verwenden.‹ Es folgen die bereits zitierten Worte, die seine Rückkehr nach Bayreuth nicht vor Ende des Jahres in Aussicht stellen. ›Somit aber hoffe auch, desto sicherer wieder es in der Heimat aushalten zu können, und bin zu allem bereit – wenn – ja wenn? – Teurer Freund, – ich will bei dem »wenn« für heute abbrechen; denn es kommt mir zu traurig an, Ihnen meine absolute Hoffnungslosigkeit für die europäischen und namentlich die deutschen Zustände, so kurz hier ausdrücken zu sollen. Diese feste Überzeugung von dem stets nur wachsenden Verfall ist aber so stark, daß ich auf Rettung des in mir enthaltenen Samens bedacht, bereits sehr ernstlich an eine totale Übersiedelung nach Amerika denke, um ihn dort dem geretteten deutschen Boden-Elemente als fruchttreibend einzusenken.‹37 Erst tags zuvor (4. März) hatte er in der gleichen Sachen an[317] Feustel geschrieben: ›Aufrichtig gesagt, hat mich bis her der Gedanke abgeschreckt, in Amerika eben nur als Geldsucher mich von einem Spekulanten herumschleppen zu lassen, um – im besten Falle – schließlich mit einem kleinen Vermögen wieder zurückzukehren und – das Elend wieder von vorne anfangen zu lassen Hiergegen muß ich Ihnen anvertrauen, daß der Gedanke, mich mit meiner Familie, meiner Idee und meinen Werken für alle Zeit gänzlich in Amerika niederzulassen, sehr ernstlich in mir Wurzel faßt. Fast lasse ich es nur noch davon abhängen, wie die Amerikaner mein Anerbieten aufnehmen würden.‹38

Wir ersahen im vorstehenden, daß dieser Gedanke ihn schon seit Wochen beschäftigte. Hatte er es bereits bedauern zu müssen vermeint, nicht schon längst einen frischeren und kräftig treibenden Boden für die Zukunft seiner Werke, sowie seiner, Familie sich ausersehen zu haben, so konnte ihn seine tiefe Überzeugung vom Verfall der ihn umgebenden Kultur nur dazu antreiben, desto ernstlicher und entschiedener an diesen Ausweg zu denken, und sich damit der ihn immer peinlicher bedrückenden ›Fünfzehn-Mark-Steuer‹ seiner sogenannten ›Patrone‹, sowie andererseits dem demütigenden Bewußtsein zu entziehen, von den schlechten Aufführungen seiner Werke an den deutschen Theatern zu leben. Ein gelegentlicher Abendbesuch des amerikanischen Konsuls interessierte ihn lebhaft durch dessen Mitteilungen über sein Vaterland und die beständigen massenhaften Auswanderungen nach Amerika, aus Deutschland und Italien. Bei diesem Gespräch entwickelte er selbst eine merkwürdige, dem Gast auffallende Kenntnis der dortigen Zustände und sprach seine hohe Bewunderung für den Krieg zwischen den Nord- und Südstaaten aus. Auch sein Vorsatz, Dr. Jenkins, zu dem er Vertrauen hatte, in seine Pläne einzuweihen und sich von ihm eine Vermittelung, beziehungsweise nähere Orientierung über deren Ausführbarkeit zu erbitten, war bereits von ihm verwirklicht. Die Antwort lautete allerdings keineswegs ermunternd. Dr. Jenkins hatte, da er sich selbst wegen längerer Abwesenheit von seinem Vaterlande nicht sicher genug fühlte, um ausgiebig und zuverlässig darüber zu urteilen, sich mit hervorragenden amerikanischen Landsleuten in Berlin und Wien in Beziehung gesetzt; überall aber war ihm nur seine eigene Ansicht von der Sache bestätigt worden. Wenn sich der Meister dazu entschließen wollte, besuchsweise nach Amerika zu gehen, so dürfte er auf einen enthusiastischen Empfang rechnen, sich dabei aber doch wohl auf den ersten Blick überzeugen, daß es nicht der rechte Platz für ihn wäre Selbst in den gebildeten Kreisen sei die ganze Atmosphäre ihres Denkens und Empfindens so verschieden von derjenigen, an die er gewohnt sei, daß er in kürzester Frist gezwungen sein würde den Versuch aufzugeben, ein so gänzlich auf materiellen Erfolg gerichtetes [318] Publikum für eine ästhetische Kultur zu gewinnen. So der Amerikaner im Hinblick auf seine eigenen Landsleute! Trotzdem ließ der Meister sich sein Projekt noch auf längere Zeit hinaus nicht erschüttern; der Erbärmlichkeit der herrschenden deutschen Zustände gegenüber war es ihm eine Erleichterung, wenigstens an dem Phantasiebilde einer völligen Lossagung davon festzuhalten, und in mündlichen wie brieflichen Äußerungen diente es ihm wie ein befreiendes Sicherheitsventil zur Dämpfung seines Unmuts, als beruhigende Vorstellung, daß es außerhalb der engen Schranken dieser ihn umgebenden Welt, mit der er nichts gemein hatte, doch noch irgendwo eine gedeihlichere Möglichkeit geben müsse.

Zugleich mit seiner festen Entschließung für ein längeres Verweilen in Neapel kam auch diejenige Ruhe über ihn, die ihn trotz mancher physischen Bedrückung neue Lust zur Aufnahme seiner Arbeit gewinnen ließ; so daß er sich nach längerer Unterbrechung wieder an die ›Linien‹ seiner Partitur machte. Mehr als dieses bloße Linienziehen (S. 245 f.) hatte er sich für den hiesigen Kuraufenthalt nicht vorgesetzt; die Notenzeichen für die einzelnen am Rande bereits fertig aufgezeichneten Instrumente sollten erst daheim in Wahnfried in die leeren Takträume eingetragen werden. ›Wenn wir zurückkehren, so sperren wir uns ein, und da wird gearbeitet‹, sagte er, und war doch schon mitten in dieser Arbeit begriffen; denn wir wissen bereits, was das bloße Partiturliniieren für ihn bedeutete, und wie genau er dabei im voraus die einzelnen am Rande verzeichneten Instrumente im Sinn hatte, so daß er sich mit größter Liebe und Sorgfalt in diese geheimnisvollen Zauberlinien verlor. ›Ich könnte es machen, wie die jungen Komponisten von heute, denen es nicht darauf ankommt, wie ihre Partitur äußerlich aussieht; mir aber läßt es keine Ruhe: ich muß so lange kombinieren, bis auch das äußere Ansehen mich befriedigt.‹ Daneben erfüllten ihn unausgesetzt die Gedanken zu seiner großen Arbeit über die Affinitäten von Religion und Kunst. Um diese Zeit begab sich die älteste Tochter Daniela auf vier Wochen nach Rom, um dort unter dem Schutze Malwidas von Meysenbug sich in Muße mit den Kunstschätzen der ewigen Stadt vertraut zu machen. Das Wetter war herrlich, aber alles dürstete nach Regen; zeitweilig war der Vesuv vor Staubwirbeln nicht zu sehen, auch Sorrent und Capri nicht. Blumenbüschel, vom Sturm entwurzelt, lagen am Boden, und der Meister bewunderte die Üppigkeit der Natur, welche diese lieblichen Wesen, oft ganz lose herabhangend, in jedem Staubhäuflein zwischen den Steinen erblühen ließe, so daß es dem Sturm nur allzu leicht fiel, sie trotz aller Gegenwehr aus dem bischen Erdreich mit den Wurzeln herauszureißen. Aber das übermäßig helle Sonnenlicht blendete außerdem gar sehr; seine immer noch angegriffenen Augen hatten darunter zu leiden, und er vermißte auf diesem dürren Felsengrund die fränkischen Waldungen. Angesichts der ›grenzenlosen Wildheit‹ gedachte er auch sonst [319] gern der heimischen Natur, der deutschen Wiese, des Parks, des deutschen Waldes Einstweilen richtete er sich zur Erlangung eines gedämpfteren Lichtes ein anderes Stübchen zur Arbeit ein, durch Teilung eines größeren Raumes, indem er sich inmitten desselben in Zeltform eine Abteilung mit Oberlicht hineinsetzen ließ. Die Tapezierer hatten unter seinen Augen mehrere Tage zu tun, bis sie ihn ganz befriedigten, und er verließ deshalb wiederholt die Joukowskyschen Portrait-Sitzungen, um ›zu seinen Herren Kerlen‹ zu gehen. Als sie aber fertig waren, sagte er beim Abschied scherzend zu ihnen: ›wenn nun die Bourbonen wiederkämen, so könnten sie sagen, sie hätten bei ihm etwas gelernt.‹

Eines schönen Tages (9. März) meldete sich in Villa Angri ein junger deutscher Musiker, der damals 20jährige Engelbert Humperdinck Rheinländer von Geburt und Zögling des Kölner Konservatoriums, zum ersten Besuch. Mit einem kürzlich erhaltenen Reisestipendium aus der Berliner Mendelssohnstiftung war er im Winter 1879/80 von München nach Italien aufgebrochen, – ›zur Fortsetzung meiner musikalischen Studien, wie es in meiner Mendelssohn-Stipendiatenbestellung hieß, in Wahrheit jedoch, um offenen Auges, ungleich Tannhäuser, Land und Leute in Welschland kennen zu lernen‹. So berichtet er von sich selbst.39 Erst seit wenigen Tagen in Neapel, empfand er es selbst als eine ›unerhörte Keckheit‹, so aufs Geratewohl bis zu dem Wohnsitz des Meisters vorzudringen, ohne jede weitere Empfehlung als den auf seiner Visitkarte seinem Namen beigefügten klangvollen Titel eines ›Mitglied des Ordens vom Gral‹.40 In der Tat lautete die erste Auskunft durch den ihn empfangenden Diener: ›Der gnädige Herr ist für niemand zu sprechen‹, und halb enttäuscht, halb erleichtert, als wäre er soeben einer großen Gefahr entgangen – schlenderte der Ankömmling, nachdem er seine Karte zurückgelassen die blühenden Gartenanlagen hinab zur vielbelebten Posilipstraße, und schickte sich an das eiserne Gittertor der Villa zu öffnen, als er rasche Schritte und einen keuchenden Atem hinter sich vernahm: ›Der gnädige Herr läßt Sie bitten herauszukommen‹ ... ›In einer halben Minute‹, so fährt Humperdinck in seinen ›Erinnerungen‹ fort,41 ›war ich wieder oben, und eine weitere halbe Minute später stand ich in einem [320] weiten halbverdunkelten Gemach, in dessen Dämmerschein zwei große ernste Augen prüfend auf mir ruhten. Ich verbeugte mich, so gut ich's bei dem Anstandslehrer der Münchener Musikschule gelernt hatte; dann löste sich die Strenge in den Gesichtszügen des Meisters in ein gütig wohlwollendes Lächeln auf. »Was machen Sie denn hier in Neapel, Sie Gralsritter? Wie kommen Sie nach Italien, und gleich so weit?« Ich erklärte in kurzen Worten Zweck und Anlaß meiner Italienfahrt sowie die Einrichtung des Reisestipendiums, von dem er Näheres zu hören wünschte. »Wie merkwürdig!« rief er aus. »Was kann denn heutzutage noch ein Musiker für seine Kunst in Italien profitieren? Tempi passati! Bei uns daheim gibt es doch wahrlich genug zu schaffen und zu lernen. Und wie sehr, ach wie sehr könnten wir da drüben so eine Art Stipendium gebrauchen, das uns instand setzte, den Festspielbesuch möglichst allgemein zu machen oder doch zu erleichtern!« Der Meister versank in Schweigen. Dann fragte er mich nach meinen weiteren Plänen. Ich sagte ihm, daß ich auf dem Sprunge nach Sizilien sei. »Nun, das ist recht von Ihnen. Sehen Sie sich alles an, was sehenswert ist, Palermo nicht zu vergessen Dort soll man ja ganz gut aufgehoben sein Wahrscheinlich komme ich auch noch einmal dahin. Und wenn Sie zurückkehren, kommen Sie wieder herauf zu mir; vielleicht können Sie dann etwas ganz Neues hier oben kennen lernen.« Die Unterredung wurde unterbrochen durch den Eintritt der Gattin des Meisters; ich wurde vorgestellt und sodann in freundlichster Weise entlassen. »Also auf Wiedersehen im Mai!«‹

Der weitere Verlauf des Frühjahrs brachte im Monat März viel kaltes und graues Wetter und lenkte seine Gedanken wiederholt auf den blühenden Garten von Wahnfried, der nun vereinsamt zurückgeblieben war und niemand mit seiner Pracht erfreuen konnte. Im Gedenken an seine nordische Häuslichkeit und ihre Ausschmückung unternahm er auch einmal in Begleitung seiner Gattin, Joukowskys und Steins eine Fahrt in die Stadt zu dortigen Antiquaren, um schöne alte Decken und Stoffe zu besichtigen, u.a. zu einem alten israelitischen Trödler in der Strada di Constantinopoli, der eine große Auswahl der herrlichsten Erzeugnisse dieser Art zur Verfügung stellte, leider zu ganz unerschwinglichen Luxuspreisen. Der Meister gab unter diesen Umständen die Sache auf, während Frau Wagner, um ihn dennoch durch ein günstigeres Resultat zu erfreuen, mit Joukowsky die Suche noch weiter fortsetzte. Sie gerieten bei dieser unvergeßlichen Expedition in das unbeschreiblich neapolitanische Gewirr enger und winkliger Straßen, in welche sie der Wagen nicht begleiten konnte, sondern auf einem angrenzenden größeren Platz zurückbleiben mußte, und wo die Decken ihnen aus den höheren Stockwerken der eng aneinander gedrückten Häuser an Stricken in Körben herabgelassen wurden. Hier gelang es ihnen denn einiges hervorragend Schöne an reichgestickten Seidenstoffen zum Schmucke Wahnfrieds zu erwerben, die für den nächstkommenden [321] 22. Mai als Geburtstagsüberraschung dienen sollten und von denen der eine noch heute im großen Saale über der mittleren Tür seinen Platz hat. Behufs Erweiterung seiner Kenntnis des neapolitanischen Volkscharakters nahm er auf Einladung des Prof. Holtzendorff auch einmal an einer öffentlichen Gerichtssitzung im Tribunale della Vicaria teil, vor dessen Assisen der Prozeß eines Mörders aus Eifersucht verhandelt wurde. Von dem bös aussehenden jugendlichen Angeklagten sagte er, er habe auf seinem erhöhten Sitz, von der Wache umgeben, wie ein König auf hohem Throne, wie die inkarnierte Majestät des Verbrechens ausgesehen; die erste Zeugin, der Gegenstand jener doppelseitigen Leidenschaft, kennzeichnete sich in Erscheinung und Auftreten durch Schönheit, Energie, Beredsamkeit und Schamlosigkeit. Dagegen bereitete ihm die in Rom bevorstehende erstmalige Aufführung des ›Lohengrin‹ schon im voraus viel Ärgernis, durch die sich wiederholenden dringenden Einladungen, ihr persönlich beizuwohnen.

Einen ersten Besuch seiner temperamentvollen italienischen Verlegerin Frau Lucca42 hatte er schon vor einiger Zeit empfangen, und mit Vergnügen an ihrer Persönlichkeit, die mit dem eruptiven Überschwang des Südens zugleich dessen eigentümliche, dem Deutschen so auffällig abgehende Sicherheit der Form verband. Er versprach ihr dabei schon seine Assistenz zu den Proben, aber die darauffolgende ungünstige weitere Entwickelung seiner Gesundheitsverhältnisse mußte diesen Gedanken zurücktreten lassen. Nun suchte sie ihn, in Anknüpfung an dieses Gespräch, von neuem in Villa Angri auf, in Begleitung des Dichters Pietro Cossa,43 für den er schon früher sein Interesse bekundet hatte. Da von einer Mitwirkung an den Proben abgesehen werden mußte, suchte die lebhafte Frau ihn wenigstens zur persönlichen Anwesenheit bei der ersten Aufführung mit aller ihr zu Gebote stehenden Beredsamkeit zu bewegen. Vergeblich war es, ihrem stürmischen Wesen mit dem ernsten Hinweis auf das Sinn- und Zwecklose einer solchen Schaustellung seiner Person und die unerläßliche Notwendigkeit einer Schonung seiner Gesundheit zu entgegnen. Während Cossa mit sichtlicher Intelligenz seinen Ausführungen lauschte, die unter dem unverständig geräuschvollen Drängen der enthusiastischen Verehrerin leider immer heftiger abwehrend sich gestalteten, erfüllte es den Meister selbst mit Ärger und mit Kummer zugleich, sich über so nichtige Mißverständnisse ereifern zu müssen. Es war gerade Gründonnerstag und er hatte eigentlich die Absicht gehabt, einer Einladung des Herzogs von Bagnara, als Präsidenten des Conservatorio di Musica folgend, in die Kirche zu fahren, um das von den Zöglingen dieser Anstalt vorgetragene [322]Miserere‹ von Bachs großem italienischen Zeitgenossen Leo44 zu hören. Die Stimmung, ja die rein physische Möglichkeit dazu war ihm über der geschilderten Szene und ihrer üblen Nachwirkung auf sein Befinden fast schon vergangen. Nichtsdestoweniger entschied er sich noch im letzten Augenblick dazu, den Wagen nicht abzubestellen, sondern seinen ursprünglichen Vorsatz auszuführen. Es war ein wundervoller Abend; während man längs der Chiaja dahinfuhr, entfaltete der Vollmond seine schönste Pracht und ›liebäugelte‹, nach des Meisters Wort, mit dem Vesuv. Dann gab es noch den geräuschvollen von Menschen wimmelnden Toledo entlang eine endlose Fahrt, bis man durch eine enge Gasse in den hohen Gang eines geräumigen Hofes und dann in die schön gewölbte Kapelle gelangte. Der Herzog mit seiner anmutigen Gemahlin waren zu seinem Empfange bereit; da aber der Gottesdienst, das eintönige Absingen der Psalmen und das Ab- und Zuströmen der Frommen, die an diesem Tage und Abend nach alter neapolitanischer Sitte ununterbrochen aus einer Kirche in die andere sich begeben, noch eine reichliche Stunde dauern sollte, wurde er vom Präsidenten und den übrigen Herren des Vorstandes erst noch in die Räume des Conservatorio geführt. Dann erst begann, in der mystischen Dunkelheit der Kapelle, das gewaltige ›Miserere‹, wie ein mächtiger Dom sich aufbauend, streng gefugt, mit erhabener Notwendigkeit; jede Modulation ungeheuer wirksam, weil durch die Konsequenz der Stimmführung bedingt. ›Die verschiedenen Stimmen, ursprünglich nur bestimmt, den untergelegten harmonischen Akkord mit der Note der Melodie zugleich zu Gehör zu bringen, erhielten in jenen ganz unvergleichlichen Meisterwerken der italienischen Kirchenmusik eine frei und ausdrucksvoll fortschreitende Entwickelung, so daß mit Hilfe der kontrapunktischen Kunst jede dieser, der eigentlichen Melodie (dem sog. Canto fermo) untergelegten Stimmen mit selbständigem Ausdruck sich bewegte, wodurch, eben in den Werken der hochgeweihtesten Meister, ein solcher kirchlicher Gesang in seinem Vortrage eine so wunderbare, das Herz bis in das tiefste Innere erregende Wirkung hervorbrachte, daß durchaus keine ähnliche Wirkung irgendeiner anderen Kunst sich ihr vergleichen kann.‹45 Über die ›furchtbar erhabene Wirkung‹, als einer ›erhabensten ganz unpersönlichen Kunst‹, sprach sich der Meister nach der Anhörung mit den Worten aus: es sei dies ›die eigentliche Musik, neben welcher alles andere nur Spielerei wäre‹. Die Aufführungen litt [323] unter den Pausen, die sich der Kapellmeister der Sicherheit wegen zu machen genötigt fand; dagegen ließ ihn der rührend naive Klang der Knabenstimmen im voraus an ›Parsi fal‹ denken. Am Schlusse führte der freundliche Herzog des Meisters Gemahlin zu ihrem Wagen zurück, den Meister selbst aber die liebreizende Herzogin, die ihm, von ihren schönen Kindern umgeben, ungemein gefiel. Die Heimfahrt vollzog sich unter allerlei Volkstumult und Zischen der Passanten, da am Gründonnerstag die Hauptverkehrsader Neapels, der Toledo, von Mittag an ausschließlich den Fußgängern gehört,46 und die Häuser schimmerten im Mondschein gleich Palästen der tausendundeinen Nacht. Man hielt in der wegen ihres ›Wiener Biers‹ zuweilen von dem Meister besuchten deutschen Wirtschaft von Dreher,47 um das Abendbrot zu nehmen, wo die allzugewohnte Roheit des Angaffens, insbesondere durch deutsche Landsleute, etwas Unbehagen schuf, dennoch aber die gute Laune nicht verdarb, und noch lange über den Abend hinaus wirkte der eben empfangene mächtige Eindruck nach. Am Ostersonntag stellte sich der Herzog von Bagnara mit mehreren Herren des Konservatoriums auf Villa Angri ein, und der Meister, in seinem Wollen stets kühn über alles Bestehende hinweggreifend, bewies auch bei dieser Gelegenheit wieder, wie er überall Anknüpfungspunkte fand, um dieses Bestehende, wo sich etwas Lebendes darin regte und er damit in Berührung trat, einer höheren Bestimmung und reineren Ausbildung zuzuführen. So empfahl er den Herren die Begründung einer ›Opernschule‹. ›Die italienische Oper beherrsche noch die Welt und wurde sie noch auf lange hinaus beherrschen. Seine Werke könne man nur in Deutschland kennen lernen, und so würde es ein lohnendes Unternehmen sein, von hier, vom Konservatorium aus eine Opernschule zu bilden, wo auf gutes Ensemble und korrekte Aufführungen gedrungen würde. Man würde dann auch die übermütigen Anforderungen der Sänger und Sängerinnen los.‹ Einstweilen stellte er den Herren auf ihre Einladung bei nächster Gelegenheit einen Besuch des Konservatoriums in bestimmte Aussicht.

Von Rom aus erfolgte immer noch Einladung auf Einladung, in Form von Zuschriften und Deputationen; gar zu gern hätte man dort den weltberühmten Meister, da er doch einmal in Italien weilte, zu der Aufführungen seines [324] Werkes anwesend gehabt. In einem Schreiben an den Sindaco von Rom beantwortete er dankend die an ihn ergangene Einladung des Municipiums, unter Hinweis auf seine der Schonung bedürftige Gesundheit. Am 3. April ging die Aufführung des ›Lohengrin‹ im Apollotheater ohne sein Beisein, dafür aber in Gegenwart der ganzen aristokratischen und musikalischen Welt unter ungeheurer Erregung und grenzenlosen Ausbrüchen des allgemeinen Enthusiasmus vonstatten. Bereits nach dem ersten, dann nach dem zweiten Akte entsandte ihm Frau Lucca telegraphische Berichte über den Erfolg ohnegleichen. ›Ah, quel bonheur! j'ai réussi!‹ rief er in heiterer Ironie dazu aus und fügte dann, nach den ersten scherzhaften Erörterungen dieses neuen italienischen Triumphes hinzu: ›Gott, sind wir undankbar! Ich muß an Gasperini denken, welcher mir sagte, ich sei unmöglich zu befriedigen. Wenn Rossini, so sagte er, ein gutes Beefsteak bekommt, so freut er sich und dankt Gott dafür; Sie beachten so etwas gar nicht‹ In Wahrheit hatte es für ihn mit den Beifallsbezeigungen der Öffentlichkeit immer dieselbe Bewandtnis gehabt: nie war ihm an Ruhm und Ehren, stets nur an der Güte der Aufführung gelegen gewesen. Was konnten ihm, dem in seiner langen Künstlerlaufbahn auch nicht ein einziges Mal die Möglichkeit einer von ihm geleiteten korrekten Aufführung seines Werkes sich dargeboten hatte, die aus einer ganz fremden Welt in seine Einsamkeit herüberdringenden, auf so viel Mißverständnissen beruhenden Akklamationen eines römischen Opernpublikums sagen? Und doch, als jeder Tag ihm neue Zeichen des großen Eindruckes, Briefe, Sendungen, Photographien, Beglückwünschungen, Danksagungen, Depeschen von Künstlerbanketten mit begeisterten Huldigungen ins Haus brachte, konnte er sich all diesen Bezeugungen einer tief erregten Empfindung, die sein Werk selbst in dieser fremden Welt hervorgerufen, nicht verschließen. Er erinnerte sich dessen, wie er einst seinen ›Tristan‹ für italienische Sänger bestimmt hatte48 und stellte es sich vor, daß er dieses Werk hier sehr gut einmal einstudieren und aufführen könnte. Und selbst der persönliche Eindruck eines Besuches, den ihm nach den ersten acht bis zehn Aufführungen – seine römische ›Ortrud‹, Mme. Stella Bonheur, machte, war ein durchaus günstiger. Er freute sich ihrer gesamten Erscheinung, der angenehmen lebhaften Art, mit welcher sie von den Aufführungen und der guten energischen Frau Lucca berichtete, und der unwillkürliche Vergleich dieser echt italienischen Künstlernatur mit seinen eigenen deutschen Sängern und Darstellern fiel keineswegs in hervorragender Weise zugunsten dieser letzteren aus.

Seine Lektüre des Gleïzèsschen Buches und seine warme Bewunderung dieses begeisterten Verkündigers seiner Lehre brachte ihn wiederholt auch auf den Gedanken einer praktischen Ausübung derselben durch die Annahme einer [325] unblutigen Diät. ›Du weißt nicht‹, sagte er einmal über Tische, zu seiner Frau gewendet, ›wie tief mich diese Angelegenheit beschäftigt.‹ So war einst – im Gegensatz zur herrschenden alttestamentarisch-pfäffischen Auffassung des Verhältnisses des Menschen zur Tierwelt die Naherückung der uralt indischen Lehre von ihrer beiderseitigen Wesensidentität, durch Schopenhauer, als eine direkte Wohltat von ihm empfunden worden, so daß er völlig froh war, diesem von je bei ihm so stark ausgeprägten. ›Mitgefühl mit den so schändlich von uns mißbrauchten und mißhandelten Tieren ohne Scham sich hinzugeben und nicht mehr nach Sophismen zur Beschönigung der Schlechtigkeit der Menschen in diesem Bezuge suchen zu müssen‹.49 So nahmen jetzt die sinnigen Einfälle und phantasievollen Hypothesen des liebenswürdigen Franzosen seinen empfänglichen Geist mit derselben Unwiderstehlichkeit gefangen, die sie über die Schwäche so mancher einzelnen Argumentation hinaus auf jeden feinempfindenden Geist ausüben, der sich nicht in stumpfer und phantasieloser Verleugnung des Wirklichen über die Schrecknisse hinwegsetzt, welche die Grundlage unseres täglichen Daseins, insbesondere unserer glänzenden Festmähler bilden. Aus so manchen seiner damaligen Äußerungen geht hervor, daß er für seine Person bestrebt war, sich von dem Angelhaken des Fleischgenusses loszulösen, an welchem unsere ganze zivilisierte Ernährung hängt. Und doch konnte er nicht im Sinne haben, experimentweise ein Vegetarianer ›auf Zeit‹ zu werden, wie es so viele vor ihm und nach ihm versucht haben. Aber er erklärte, mit großen Plänen umzugehen; er wolle nur erst mit dem Arzt ernstlich sprechen. Er erzählte die Geschichte jenes griechischen Malers (Protogenes), der noch im vorgerückten Alter, um die Frische zu einer großen Aufgabe wiederzugewinnen, sich des Fleischgenusses enthielt und nun im Lauf von sieben Jahren jenes Bild malte, um dessentwillen der Städteeroberer Demetrius die Belagerung der Stadt Rhodus aufgab, da er sich (wie später Garibaldi vor Rom) nicht zu einem Angriff mit seinen zerstörenden Schleudermaschinen von der Seite entschließen konnte, wo, wie er wußte, jenes Gemälde sich befand. Er sprach sich dahin aus, daß bei seinem angeborenen, durch sein ganzes Leben ihm eigenen Widerwillen gegen Obst, nichts ihm so gut bekommen dürfte als die Milch- und Gemüsekost und viele seiner Beschwerden vielleicht auf die Fleischnahrung zurückzuführen wären. Er befragte Dr. Schrön über die Möglichkeiten einer praktischen Adoption der Lehren des Vegetarianismus, und dieser erklärte sich nicht absolut dagegen. Bei alledem möchten wir daran zweifeln, ob es damals in Villa Angri zu irgendwelchen diätetischen Experimenten dieser Art gekommen sei: das ihm vorschwebende Problem wurde von ihm selbst ungleich tiefer gefaßt, als daß es sich in einer bloßen Veränderung der Speisekarte hätte erschöpfen können. Höchstens seine [326] Vorliebe für Reis, die wir ihn wiederholt aussprechen hörten, wäre in diesem Zusammenhang zu erwähnen.

Im Märzheft der ›Bayreuther Blätter‹ erfreuten ihn, nächst den gediegenen, in edler Form seine eigenen Lehren wiedergebenden ›Betrachtungen über den musikalischen Stil der Gegenwart in Deutschland‹ von Rubinstein, auch die aus Carlyles Schriften durch Wolzogen zusammengestellten Aphorismen über das Musikalische in der Poesie und über Heldenverehrung. Es sei doch ganz einzig, äußerte er sich, was hier über die Musik gesagt sei. Und dabei blicke doch immer etwas Dilettantisches hindurch, sowohl bei Carlyle, wie auch bei ›meinem guten Gleizes‹, selbst bei Goethe, wenn er von ›Gott‹ spräche (S. 294), weil die philosophische Erziehung fehle. ›Schiller war schon nicht dilettantisch in diesen Dingen.‹ Und als er abends einmal einige Szenen aus dem Schluß von ›Heinrich IV.‹ vorgelesen, rief er, ganz überwältigt von der hohen Künstlerschaft: ›Bei Goethe sieht man den großen Dichter, wie er seinen Stoff anordnet, wie er ihn gestaltet; bei Shakespeare kann man davon nichts sehen, er bleibt unbegreiflich; ihm ähnlich ist nur Homer. Deshalb ist auch den Menschen der Gedanke angekommen, es habe kein Homer existiert, ja auch kein Shakespeare.‹ Bald waren es Szenen aus ›König Johann‹, bald aus ›Lear‹ oder ›Othello‹, aus ›Hamlet‹, ›Maß für Maß‹ oder ›Timon von Athen‹, aus denen die Größe des Dichters immer neu zu ihm sprach, die er dann in lebhafter Rede auseinandersetzte. In keinem anderen Stücke Shakespeares käme, wie in ›Maß für Maß‹, das Erhabene der Sittlichkeit zum Ausdruck. Die Milde des Fürsten habe etwas unsäglich Rührendes, Isabella sei in den beiden Szenen mit Angelo göttlich und die Schlußszene aufgebaut, wie ein polyphones Werk. ›Timon von Athen‹ schiene ihm u.a. auch in den Szenen mit dem Maler, dem Dichter und dem Zyniker etwas ›sehr Persönliches‹ zu enthalten: der Stoff ließe auch nicht die Möglichkeit einer Versöhnung zu; die Menschen seien darin in ihrer ganzen Schlechtigkeit erkannt. – In den ›Nouvelles Neapolitaines‹ von Marc Monnier interessierte ihn vor allem die Darstellung der Camorra, ein Gegenstand, über den er sich mit Prof. Schrön eingehend unterhalten und von diesem aus eigener Kenntnis die überraschendsten Aufklärungen empfangen hatte. Auch auf Renans ›Leben Jesu‹ griff er wohl wieder einmal zurück und trug daraus das ganze 17. Kapitel ›de l'établissement définitif de la doctrine für l'avènement du Royaume de Dieu‹ vor, welches wiederum einen großen Eindruck machte. Er verglich Renan mit David Strauß und faßte den Gegensatz zwischen beiden in den einen Satz zusammen: ›er liebt Jesus, während Strauß keine Spur von dieser Liebe hat‹. Als von einem Lenbachschen Stilleben die Rede war, auf welchem dieser ein ebengeschlachtetes Huhn gemalt, rief er aus: ›So sind die Maler! alles ist ihnen Objekt des Sehens und der Augenergötzung. Aber auch die Dichter, [327] allen voran Homer, seien grausam; grausam in seiner Schilderung der rauchenden Eingeweide der Erschlagenen, grausam in der Schilderung des Heldentums in seiner Herzlosigkeit. Und in diese Welt der rücksichtslosen Grausamkeit kommt nun so ein Wesen wie Jesus, das ganz Herz ist! Am größten ist er in seiner Bitterkeit, wenn sein ganzer Zorn ausbricht: er wird den Sohn von seinem Vater, die Tochter von ihrer Mutter trennen – da zeigt er sich göttlich!‹ Es ist nicht möglich, diese Worte und Gedanken durch ihre bloße Reproduktion mit der Intensität wiederzugeben, die sie in seinem Munde hatten, als unmittelbare Wesensäußerung ebendesselben Genius, der in seinen künstlerischen Werken die Tiefen unserer Seele erschüttert (vgl. S. 202 f.). Hier wie dort ist es die ureigene tiefe Empfindung von der Sache, das innere Erlebnis, das sich in den Kunstwerken äußert und das seinen Gedanken und Worten die lebendige Anschaulichkeit verlieh, durch welche sie wiederum die Empfindung des Hörers hinriß. Abends spielte Rubinstein die Sonate op. 111. Schon während des Vortrages rief er zu wiederholten Malen aus: ›Das ist himmlisch!‹ und am Schluß sagte er: ›Das ist meine ganze Lehre! Der erste Satz ist der Wille in seinem Schmerz und heroischen Begehren; der andere ist der besänftigte Wille, wie der Mensch ihn haben wird, wann er vernünftig geworden ist!‹ ›Vegetarianer!‹ rief er ergänzend dazu aus und zeigte mit der Anführung dieses Wortes in diesem Zusammenhang, was alles er darin zusammendrängte: die ganze noch in ihm schlummernde Gedankenfolge von ›Religion und Kunst‹, ein fernabliegendes Ideal menschlicher Entwickelung, himmelweit von dem verschieden, was man sich heute unter dem Begriffe des Vegetarismus als einer gesundheitfördernden Ernährungsweise vorstellt.

Wir nannten soeben Rubinstein, der um die Mitte April direkt von Bayreuth in Neapel eingetroffen war. Die gemeinschaftlichen Bachstudien hatten in ihm mancherlei Frucht getragen, nicht allein für seine künstlerische Ausbildung, sondern auch für seine Betätigung im Bayreuther Sinne. So hatte er nach dem, durch Bülow gegebenen Vorbilde einheitlicher Konzertprogramme50 den Mut der Überzeugung gehabt, in der Reichshauptstadt im Laufe von sechs Matineen (15. Januar bis 15. Februar) das ganze Wohltemperierte Klavier, d.h. die gesamten 48 Präludien desselben nebst dazu gehörigen Fugen, zum Vortrag zu bringen. Er habe sich damit, so lautete einer der wohlgesinntesten Berichte über das kühne Unternehmen, kecken [328] Schrittes bis hart an die Grenze des Menschenmöglichen begeben. ›Als mildernder Umstand wurde geltend gemacht, daß Richard Wagner sich für das Problem interessiere; als erschwerend kam andererseits in Betracht, daß Herr Rubinstein durch seinen mörderischen Schumann-Artikel (S. 223 f.) sich die Sympathien der Berliner eher verscherzt als gesichert hatte. Unbekümmert begann der Bayreuther Bach-Apostel am 15. Januar seine Missionspredigten am Bechstein. Die Subskription, geleitet von einflußreichster Hand,51 konnte naturgemäß kein zahlreiches Publikum herbeizaubern, aber ein ständiges hat sie wenigstens dem Bach-Priester zugeführt, in welchem der feingebildete Dilettantismus überwog. Die Musiker von Fach waren schwach vertreten (!), die Presse nahm anfangs mehr flüchtig als eingehend, in kühler Reserve weder fördernd noch ablehnend von dem Experimente Notiz; dann schwieg sie, und die »öffentliche Meinung« hatte Bachs Wohltemperiertes Klavier schon nicht mehr auf ihrer Tagesordnung, als die kleine Gemeinde im großen Saale des Architektenhauses erst an den gewaltigen Schöpfungen des zweiten Teiles sich erbaute.‹52 Auch war es schön von ihm, daß er den Reinertrag seines außerordentlichen Unternehmens nicht nach Art sonstiger Konzertgeber als Taschengeld für seine privaten Zwecke bestimmte, sondern wiederum nach dem Vorbilde Bülows! ihn dem Bayreuther Fonds überwies, worauf Wagner selbst in einem an ihn gerichteten Schreiben anspielt: ›wollen Sie nun die ganze Zeit in Bayreuth überdauern? Oder machen Sie Ausflüge nach Charkow‹ (Rubinsteins Geburtsstadt) – ›oder Neapel? Hier würden Sie allerdings Wunder zu sehen bekommen, aber wenn Sie allerdings alle Berliner Gewinne in den Bayreuther Fonds stecken!?‹53 Das Datum dieses Briefes (6. April), mit dem Datum seiner Ankunft in Neapel (14. April) zusammengehalten, ergibt, daß er gleich nach Empfang desselben sich zum Aufbruch in den Süden angeschickt habe, wie denn auch, direkt von Bayreuth in Neapel angekommen, sein erster Gang der Villa Angri galt. In demselben Briefe erwähnt der Meister u.a., die Mitteilungen des jungen Freundes seien ihm gewiß interessant gewesen; denn er sehe daraus, daß sich jener immer noch ›unter dem schützenden Zauber der Hoffnung befinde‹. [329] ›Das gehört zu Ihrem Glauben und, da Sie jung sind, können Sie ja noch manches erleben.‹54 ›Rubinstein habe sich‹, so sagte er ein anderes Mal von ihm, ›einen festen Glauben gebildet: die Möglichkeit, durch den deutschen Geist erlöst zu werden. Er will selig werden, wie der Strömkarl. Deshalb sei es ihm so schrecklich, wenn er ihn (Wagner) selbst am Gedeihen dieses deutschen Geistes zweifeln sehe‹ Wie es aber nach allem Vorausgegangenen mit den Hoffnungen bestellt war, die des Künstlers Vaterland, an dem er mit allen Fasern seines Wesens hing, ihm übriggelassen, das haben wir ja zur Genüge gesehen ›Meine Hoffnungslosigkeit für Deutschland und seine Zustände ist vollständig; und hiermit ist etwas gesagt, denn als ich dereinst mit vollem Bewußtsein in die mir eigene entschiedene Richtung eintrat, schrieb ich auf meine Fahne: »mit Deutschland stehen oder fallen«!‹55 Darüber konnte denn jemand, dem der eingeborene Optimismus seiner Rasse so tief im Blute steckte, wie gerade diesem jungen Verehrer, bei seiner Ankunft wohl etwas ›erschrocken‹ sein. Ihm blieb die arische Fähigkeit fremd: ›wider die Hoffnung zu hoffen‹ (Gobineau); für ihn gab es nur zweierlei: Hoffen oder Verzweifeln. – – –

Auch Dr. Jenkins, der in seinem Auskunftsbriefe einen baldigen persönlichen Besuch in Aussicht gestellt, war kurz zuvor (1. April) in Neapel eingetroffen, und das in ihrem bisherigen Briefwechsel behandelte Thema konnte nun mündlich erörtert werden. Leider mit derselben völligen Aussichtslosigkeit darauf, daß der Meister gerade da drüben. Das finden werde, was ihm die eigene Heimat versagte. Auch war es ja immer nur die Liebe zu seinem Vaterlande, die ihn dessen tiefe Versunkenheit so schmerzlich empfinden ließ.56 Als einige Tage vor dem Jenkinsschen Besuch ein französischer Verehrer es sich erlaubte, geräuschvoll über Elsaß und Bismarck loszuziehen, und den Wunsch aussprach, Elsaß neutral und Metz als Bundesfestung zu sehen, erwiderte er ihm in leidenschaftlicher Bewegung: ›Ich bin nicht für den jetzigen Zustand der Dinge eingenommen; ich finde ihn so schlimm als nur denkbar und erwarte von den Deutschen so wenig, daß, wenn ich zehn Jahre jünger wäre, ich bestimmt nach Amerika zöge. Doch, wenn man mir mit den Empfindlichkeiten der Herren Franzosen kommt, und daß sie es nicht ertragen können, daß eine Provinz, die uns zur Zeit, wo wir uns für unseren Glauben verbluteten, von einem übermütigen Despoten entrissen worden ist, wieder an uns komme, da sage ich: hole sie alle der Teufel, und die Franzosen müssen noch einmal geschlagen werden.‹

[330] Der Monat April brachte insofern eine Wendung zum Bessern, als endlich das kalte und graue Wetter nachließ; man konnte wieder an Ausflüge denken. So unternahm er mit der ganzen Familie eine Wagenfahrt nach der Sejansgrotte; es war aber noch windig. Eigens für die Kinder hatte er vor Rubinsteins Eintreffen – im Anschluß an die Aufführung, die sie (S. 291) in München auf der Durchreise gehört – den ›Tannhäuser‹ am Klavier durchgenommen. Er war mit ihrem Zuhören sehr zufrieden und sagte, er würde dies öfters tun; es sei gut, wenn Kinder eine Aufführung gesehen, die Eindrücke ihnen wieder wachzurufen. Er freute sich der wohligen Natur Siegfrieds, welcher alles leicht wurde. ›Das ist unser Protektor, der Lord Protektor!‹ rief er einmal, als er ihn im Garten umherspringen sah, und erging sich oft mit ihm im Wechselpfeifen, sei es im Herabgehen von der Villa, wenn der Knabe sich am Fenster seiner Stube befand; oder wenn er sein Aqua di Leone trinkend zur Palme spazieren ging und ihn dort oben in den Weinbergen mit dem Gärtner Lorenzo beim ›Gärtnern‹ antraf, wo sie sich während seiner Promenade durch die üppigen Rebenpflanzungen gegenseitig nicht sehen konnten. ›Es ist doch hübsch‹, rief er aus, wenn er nachher davon erzählte, ›früher war es ein Papagei, der mir antwortete, und jetzt ist es ein Sohn!‹ Ja, ganz Neapel wurde hoch oben auf der thronenden Villa vernehmlich, wenn an schönen Abenden auf der Terrasse Siegfried mit seinem ungewöhnlichen Nachahmungsvermögen die Rufe der verschiedenartigen Straßenverkäufer täuschend vergegenwärtigte. Nur ungern hatte er die älteste Tochter nach Rom entlassen und war um so beglückter, als sie nach fünfwöchiger Abwesenheit (am 11. April) eintraf und sich in ihrer Entwickelung neuerdings wieder vorgeschritten zeigte. Wie tief beglückt fühlte er sich als Patriarch in diesem auserlesenen Familienkreise! Ganz in diesen Kreis hinein verwachsen war durch täglichen Umgang die hohe blonde Erscheinung Heinrichs von Stein, immer ernst und auch im Verkehr mit den Töchtern des Hauses zum Didaktischen geneigt; ein Zug, der dem seinen Beobachtungssinn der jüngeren Geschwister nicht entging. Als er einmal im Gespräch mit Daniela von Bülow ein philosophisches Problem an dem anschaulichen Bilde einer – am nächsten Busch blühenden Rose mit den einleitenden Worten erörterte: ›die Rose ist einfach, und doch höchst sonderbar‹, entstand von der im Auffassen und zeichnerischen Wiedergeben hervorragend geschickten Hand der fünfzehnjährigen Isolde eine kleine, charakteristische Zeichnung mit jenen zufällig von ihr gehörten, aus dem Zusammenhang gerissenen Worten als Unterschrift. Auch die täglichen Sitzungen für Joukowskys immer wachsendes, größer und reicher durchgebildetes Portrait der edlen hohen Gestalt der Meisterin, in jenem von Wagner in allen Einzelheiten angeordneten und vorgezeichneten prächtigen Hausgewande, dem ›Maharadsha‹, nahmen ihren regelmäßigen Fortgang, und wenn dabei Wagner [331] nicht jedesmal während ihres ganzen Verlaufes anwesend war, unterließ er es doch nie, mit einer anregenden Bemerkung, einem zündenden Witz und Scherz, oder dem ungestümen Ausdruck der Begeisterung über eine soeben von ihm gelesene Szene Shakespeares, in das Zimmer zu treten und ihnen eine Zeitlang Gesellschaft zu leisten, bis zu dem, die ganze Familie gesellig vereinigenden Frühstück.

›Täglicher Gast‹, so berichtet Joukowsky, ›war auch Rubinstein, ein tüchtiger Musiker und begeisterter Verehrer des Meisters, der manchmal am Abend Beethovens letzte Sonaten spielte. Von sonstigen Besuchen erinnere ich mich noch des Fürsten Rudolf Liechtenstein mit seiner Gemahlin. Meine Schwester, Frau von Wöhrmann, mit Mann und Sohn waren (seit Anfang März) auch in der Villa Postiglione eingetroffen und wir hatten die Freude, die ganze Familie Wagner einstmals an unserem Mittagstisch zu bewirten. Wagner war an diesem Tage unbeschreiblich liebenswürdig und heiter gestimmt. Nach dem Essen fragte er meine Schwester: »Nun sagen Sie mal, was lieben Sie denn am meisten von meinen Sachen?« Meine Schwester, überhaupt schon unendlich erregt durch die Anwesenheit des Schöpfers so vieler Wunderwerke, antwortete unter einem Strom von Tränen: »die Meistersinger!« – »Ich auch!« rief ihr der Meister zu.‹ Wiederum erfreute er sich bei diesem Anlaß des herrlichen Gesanges von Pepino, welcher diesmal noch durch einen anderen Sänger und einen Geiger unterstützt war. Mit Pepino ging er ein förmliches Duett ein und rief: ›wenn diese Leute nur ein Genie fänden, um alle ihre Gaben zu verwerten!‹ Das Liechtensteinsche Paar weilte damals zu seiner Erholung im Süden, zunächst nicht in Neapel selbst, sondern in dessen Umgebung; nachdem der erste Abend mit ihnen unter heiterem Geplauder vergangen war, forderte der Meister sie auf, die Nacht in seiner Villa zuzubringen und gab ihnen anderen Tages mit den Seinen das Geleit über den Golf bis Torre del Greco, unterhalb des Vesuv. Während der vier Wochen ihres Aufenthaltes waren sie häufig zu Mittag oder Abend Gäste der Villa Angri; wobei es mit dem alten Wiener Freunde57 zu manchen leichten, angenehmen Plaudereien kam, dazwischen aber auch zu sehr ernsten Ausführungen Wagners über die herrschenden sozialen Zustände Deutschlands, vornehmlich das Überhandnehmen der Juden. Von Bismarck bemerkte er: es sei eine Kraft, von welcher man angenommen habe, sie stehe im Dienste des deutschen Geistes, nun sei aber leider der deutsche Geist ausgeblieben. Ein anderes Mal nahm Fürst Liechtenstein auch am Familien-Whist teil, woran sich eine Vorlesung des bereits erwähnten Kapitel XVII aus Renan (S. 327) durch den Meister anschloß, nebst beifälligem Kommentar. Weiterhin erwähnt Joukowsky unter den Besuchern der Villa auch den, Wagner von [332] je ergebenen Herzog Georg von Meiningen58 nebst seiner, mit Frau Wagner altbefreundeten Gemahlin. Der Meister freute sich dieses wahrhaft kunstgebildeten deutschen Fürsten man erinnere sich an sein ›es gibt nur einen Herzog‹59 – er begrüßte ihn auf das herzlichste und lud ihn beim Abschied zum Abend ein, mit Joukowsky und dessen Angehörigen. An diesem Abend spielte Rubinstein sein Tonbild aus der ›Walküre‹: ›Wotans Abschied‹; dann nahm der Meister selbst am Flügel Platz und brachte, eigens für seinen hochgeschätzten Gast, das Vorspiel zu ›Parsifal‹ zu Gehör, es mit bedeutungsvollen Worten erläuternd. Als Herzog Georg seine Spannung auf die bevorstehende Aufführung ausdrückte, sagte Wagner: ›ich habe das Werk ein Bühnenweihfestspiel genannt; es ist undenkbar auf unseren Theatern und ist sehr kühn; doch wenn man so leichtfertig mit unseren religiösen Geheimnissen umgeht, sehe ich nicht ein, warum man sie nicht im höchsten Sinne verwerten sollte.‹ Die Persönlichkeit dieses seines fürstlichen Gönners war ihm von je überaus sympathisch: er sehe gar nicht aus, wie ein moderner Mensch, sondern wie Wotan, wie Barbarossa; unter allen gegenwärtigen Fürsten sei er der einzige, der an seinen vorchristlichen Ursprung erinnere, und mache ihm den Eindruck eines direkten Abkömmlings von Wittekind.

Dann wieder graue Tage, üble Nächte. Unter diesen Umständen war es ein nicht geringes Opfer an die so freundlich sich gestaltenden neapolitanischen Beziehungen, daß er am 21. April sich entschloß, der dringenden Einladung der Herren vom Konservatorium nachgebend, dieser Anstalt die Ehre eines gleichsam offiziellen Besuches zu erweisen, in deren Räumen ihm ein schöner warmer Empfang zuteil ward. Am Eingang des Hauses begrüßte ihn der Vorstand, mit seinem Präsidenten, dem Herzog von Bagnara, an der Spitze. In dem großen, zu Konzertzwecken dienenden Musiksaal waren in feierlicher Erwartung sämtliche Schüler versammelt; eine dreifache Begrüßungssalve empfing bei seinem Eintritt den deutschen Meister. Dann vereinigten sich 250 Stimmen in dem Vortrag eines merkwürdigen Stückes Programmmusik aus dem 16 Jahrhundert, der ›Schlacht von Marignano‹ des vlämischen Meisters Jannequin;60 hierauf folgte u.a. der Vortrag einer Violin Sonate von Corelli, von acht Geigen in trefflichem Zusammenspiel mit tadelloser Präzision unisono vorgetragen. Der gefeierte Gast, heißt es in einem gleichzeitigen Bericht, habe über die vorzüglichen Leistungen seine uneingeschränkte Befriedigung geäußert und dann auch das Archiv mit seinen reichen [333] Autographenschätzen besucht. Die ›uneingeschränkte Befriedigung‹ bezog sich aber jedenfalls nicht mit auf die am Schluß zum besten gegebene, von Zöglingen des Konservatoriums aufgeführte ›Operette‹. An diese knüpft er tags darauf (22. April) in seinem Dankesschreiben an den Herzog von Bagnara die entscheidenden Fragen an: ›Wie lehrt man junge Künstler nicht lediglich nach der Gunst des Publikums haschen, d.h. wie verhindert man z.B., daß die Sänger unaufhörlich an die Rampe treten, um ihre Gefühle ins Publikum hinein zu deklamieren? Wie lehrt man angehende Komponisten, sich streng an ihren Gegenstand zu halten und nicht etwa ein Idyll mit einem heroischen oder tragischen Orchestersatze zu begleiten? Wie kann man vor allem das Streben nach Wirkungen mit Hilfe solcher Mittel vermeiden, die der großen dramatischen Kunst gänzlich fremd sind? Wie prägt man solchen reichbegabten jungen Naturen auf unauslöschliche Weise das Gefühl des Schönen ein? Auf diese, durch die mir von sämtlichen Teilnehmern der Aufführung eingeflößte Sympathie mir eingegebenen Fragen habe ich die Antwort gesucht, und ich kann sagen, daß sie mich von dem Augenblick an beschäftigt, seitdem ich den schönen Kreis verlassen habe, in welchem ich eine so gastliche als schmeichelhafte Aufnahme gefunden habe. Doch sehen Sie selbst, Herr Herzog, wohin meine Betrachtungen mich geführt haben.‹ Es folgt hierauf der ausgeführte Plan einer ›Opernschule‹ für das Konservatorium von Neapel. ›Nur ein ernstes, tiefes und anhaltendes Studium eines Meisterwerkes von Mozart, etwa der »Hochzeit des Figaro«, würde nach meinem Dafürhalten geeignet sein, die Schüler des Gesanges und der dramatischen Komposition auf den Weg zu leiten, den Sie in der Vokal-Komposition von denselben befolgt zu sehen wünschen. Eine korrekte Deklamation, ein wahrer Ausdruck der Melodie, eine genaue Kenntnis der Mittel zum Instrumentieren und ihrer entsprechenden Anwendung wurden naturgemäß aus diesem Studium sich ergeben; und wenn eines Tages das Konservatorium eine gute Aufführung des genannten Meisterwerkes veranstaltete, so würde es damit nicht allein den Theatern eine Wohltat erweisen, sondern es würde seiner Aufgabe entsprechen, seine Schüler, durch die Darbietung großer Beispiele und indem man sie durch eine lebendige Darstellung der Schöpfungen großer Meister gleichsam zu deren Mitarbeitern macht, vor dem herrschenden Verfall zu bewahren Alle die schlechten Gewohnheiten, von denen unsere Theater strotzen, wie z.B. die Gewohnheit unserer Künstler, alles zu vergessen was auf der Bühne vorgeht, um sich mit dem Publikum zu beschäftigen und durch eine mehr oder weniger herausgeschriene Schlußkadenz dessen Beifall herauszufordern alle diese Gewohnheiten würden von Schülern, denen man ausschließlich Werke in dem Stil und der Rangordnung des soeben von mir genannten vermittelt haben würde, nicht angenommen werden. In bezug auf das tragische Genre würde ich zunächst die beiden »Iphigenien« von Gluck [334] und schließlich die »Vestalin« von Spontini empfehlen. Erst nachdem diese Werke gut eingeübt, probiert, analysiert und ihrem ganzen Werte nach erkannt und begriffen worden, dürften die Schüler des Konservatoriums den Versuch einer eigenen Komposition machen; denn erst dann könnte man gewiß sein, sie nicht in jene Übertreibungen und in jene Manier verfallen zu sehen, welche heutzutage unsere Bühne entehren und infolge deren wir nur noch von Hörensagen jene großen Sänger kennen, die einst den Ruhm Italiens ausmachten. Auch in der Kunst gibt es, wie im Leben, eine gute Gesellschaft, und es ist die Pflicht der Eltern und Erzieher, die ihnen anvertrauten Zöglinge nur in diese gute Gesellschaft einzuführen, bis diese selbst das Wahre vom Falschen zu unterscheiden fähig und dadurch gerüstet sind, den Versuchungen zu äußerlicher Effekthascherei zu entgehen. Ob sie nachher mit dem in Berührung kommen, was ich die musikalische Bohème nennen möchte, verschlägt wenig; denn sind sie einmal imstande, deren Hervorbringungen richtig zu beurteilen, so werden sie aus dieser Berührung die Fähigkeit zu einer genauen Unterscheidung dessen, was die Massen herabzieht, und des wahrhaft Guten gewinnen. Es ist des Konservatoriums von Neapel, seiner vornehmen Überlieferungen und seiner gegenwärtigen vorzüglichen Mitglieder würdig, das Beispiel einer strengen Beobachtung wahrer Kunstübung zu geben und durch die Vermittelung seiner Zöglinge dem italienischen Publikum nicht dasjenige darzubieten, was es in unseren Theatern zu finden gewohnt ist, sondern Das, was man gerade dort nicht findet: den Stil!‹

Mit dieser Mahnung an eine des angesehensten italienischen Institutes würdige Aufgabe entrichtete er, als Gegengabe für allen gastlichen Empfang, das Gastgeschenk des Genius, ein ausgestreutes Samenkorn, das unter den gegebenen Umständen sehr wohl auf einen günstigeren Boden hätte fallen und von seinem Ausgangspunkte Neapel einen völlig neuen Aufschwung der italienischen Kunstübung und dramatisch-musikalischen Produktion hätte bewirken können. Wenn es nicht dazu kam, wenn die neuitalienische Schule während des letzten Vierteljahrhunderts in immer rasenderem Tempo der Decadence eben jenen Effekthaschereien nachgestrebt, ja sie zu ihrem eigentlichen Inhalt gemacht hat, so ist dies nicht die Schuld des deutschen Meisters gewesen, der mit der obigen Aufforderung dem italienischen Kunstgeist sein noch unerfülltes Vermächtnis hinterlassen hat.

Wir haben die Leipziger ›Tristan‹-Angelegenheit (S. 315 ff.) bis auf den Punkt verfolgt, auf welchem sich Wagner genötigt sah, brieflich schon einmal Gesagtes noch einmal ausführlich und mit erneuter Motivierung seiner Beschlüsse zu wiederholen. Die Sache schien damit erledigt; ein ganzer Monat war seitdem verflossen; aber immer und immer bekam er in den Zeitungen noch von einer für diesen Sommer in Leipzig geplanten Aufführung des [335] ›Tristan‹ und von seiner eigenen Anwesenheit zu derselben zu lesen. Das machte ihn endlich stutzig; ja der hierin bekundete Leichtsinn konnte ihn in einem gewissen Sinne erbittern, da er zum Gedeihen des Werkes ganz bestimmte Anpassungsmaßnahmen für dasselbe in bezug auf das Leipziger Personal im Sinne hatte und nur er zu beurteilen imstande war, welchen Gefahren ohne diese Anpassung die geplante Aufführung ausgesetzt war. So blieb ihm nichts übrig, als in dieser seinerseits vollkommen geordneten Angelegenheit noch einmal mit einer brieflichen Erkundigung sich an Seidl zu wenden und zehn Tage später (16. April) zu seiner Überraschung zu erfahren, sein Brief an Seidl, dessen Eröffnung nebst darangeknüpfter Beratung seines Inhaltes mit Direktor Neumann wir im obigen gleichsam persönlich als Zeugen beigewohnt haben, sei – überhaupt gar nicht in dessen Hände gelangt! ›Das ist eine böse Sache mit dem »verloren gegangenen« Briefe‹, schrieb er an Seidl; ›sie ist mir von hier aus nur einmal noch begegnet, nämlich mit Direktor Jauner in Wien, der ebenfalls einen zu entscheidender Antwort auffordernden Brief »nicht erhalten« hatte. Sonst sind alle Briefe immer richtig angekommen. Kurz und gut: ich habe im Sommer die hiesigen Seebäder zu gebrauchen, und komme erst Anfang Dezember nach Bayreuth zurück. Dies zeigte ich in dem »verloren gegangenen« Briefe vor etwa zwei Monaten an. Eine Aufführung des »Tristan« in Leipzig ohne meine Mitwirkung lasse ich nicht zu, da ich hierzu meine guten – leider »verloren gegangenen« – Gründe habe. Entweder nimmt nun Herr Neumann hierauf schuldige Rücksicht, und verlegt die Aufführung des »Tristan« bis zu der Zeit der mir möglichen Mitwirkung, oder ich erkläre öffentlich und – womöglich – unter gerichtlicher Mitwirkung, meine Verwahrung und Warnung.‹ Hierauf nun wieder Befremden und Empfindlichkeit Neumanns und dadurch gegebene Veranlassung, auch diesem ausführlich zu erwidern (letzteres unter dem Datum des 24. April),61 – kurz, durch volle acht Wochen war diese ärgerliche Angelegenheit nicht aus der Welt zu schaffen!

Ende April war der junge Humperdinck von seinem sizilianischen Ausfluge zurückgekehrt und stellte sich am 2. Mai nachmittags in Villa Angri ein. Er wurde freundlichst empfangen, der Meister machte mit ihm einen herrlichen Spaziergang durch den Park, wo er sich mit den graziösen Lazerten unterhielt, die im Sonnenschein beweglich durchs Gesträuch und über die Kieswege schlüpften. Er hielt sie durch Pfeifen im Weghuschen auf und sie sahen ihn dann mit klugen Augen an. Er lud ihn für den andern Tag, [336] Montag, 3. Mai, dazu ein, mit ihm und Rubinstein einen Besuch im Konservatorium zu machen, wohin er abermals eine Einladung erhalten hatte. Dies war sein letzter Besuch im Konservatorium,62 obgleich bald darauf eine Deputation von drei italienischen Herzögen bei ihm erschien, um ihm seine Ernennung zum Ehrenmitglied der Philharmonischen Gesellschaft zur Kenntnis zu bringen. Er empfing die Herren, nahm die ihm dargebrachte Huldigung mit allem gebührenden Dank entgegen, sagte aber doch nachher halb lächelnd, halb ärgerlich: ›man glaubt hier in einem Hain von Orangen zu wandeln, und man wandelt in einem Hain von Mißverständnissen.‹ Mit seinem Brief an den Herzog von Bagnara hatte er alles getan, was ihm an Anregung für die italienischen Musikverhältnisse am Herzen lag; lieber als eine jede Ehrenmitgliedschaft wäre ihm die Mitteilung gewesen, daß man mit der Verwirklichung seiner weitreichenden Gedanken Ernst gemacht und ihm deren baldige Ausführung angekündigt hätte.

Zu ferneren Besuchen in Villa Angri auf das freundlichste eingeladen, fand sich Humperdinck von jetzt ab häufiger nachmittags oder abends ein, wobei er nicht selten mit Martin Plüddemann aus Kolberg zusammentraf, der im Frühjahr in Begleitung ›dreier frischer, fröhlicher Gesellen‹ eine Reise nach Italien unternommen hatte, mit Neapel als Ziel- und Endpunkt. ›Ich verbrachte‹, so erzählt Plüddemann ›zwei herrliche Monate an dem wunder baren Orte, wobei ich die unschätzbare Gelegenheit hatte, mit Richard Wagner häufig genug zu verkehren. Kein Portrait kann den stets wechselnden, dem Gegenstande angepaßten Ausdruck des Auges, des feingeschnittenen beweglichen Mundes, der lebhaften Züge, des charakteristischen Mienenspiels wiedergeben. Nicht allein der Künstler, nein der Mensch Wagner und dessen Persönlichkeit war schlechthin unvergleichlich. Es ist mir mehr wie einmal im Gespräche mit ihm passiert, daß ich, ganz hingerissen von dem seltsamen Zauber seiner Unterhaltung, nur noch auf das merkwürdige »wie« achtete, nicht mehr auf das »was« seiner Rede, worauf er dann, plötzlich aufmerksam werdend, jedesmal sprach: »Aber Sie sagen ja gar nichts mehr!« – Wer dieses Mienenspiel nur einmal in der Unterhaltung beobachtet, der vergißt es nie wieder.‹63 Von einem am 8. Mai gemeinsam mit Plüddemann in Villa Angri verbrachten Abend berichtete uns Humperdinck, der Meister sei in bester Laune gewesen, habe einige Takte aus der Liebesmahlszene gespielt und dann erklärt, er beabsichtige [337] eine Aufführung der letzteren für den 22. Mai vorzubereiten. Eine ›Überraschung‹ für seine Frau könne es leider nicht sein, denn es müsse ›heillos einstudiert‹ werden. Außer den Kindern des Hauses sollten Humperdinck und Plüddemann mitwirken, während Rubinstein der Klavierpart anvertraut war. Es war extra ein Arrangement von ihm getroffen, um bei so geringer Stimmenzahl die Vorführung zu ermöglichen. Von den Proben mit den Kindern des Hauses sagt Plüddemann, es sei ganz ergreifend gewesen, wie er den jungen Mädchen, indem er mit leuchtenden Blicken auf sie hineinsang, den Sinn der hehren Verkündigung: ›nehmet hin mein Blut‹ so recht klar zu machen und sie durch seinen Eifer fortzureißen trachtete.64

So bereitete er sich selbst durch die, dem Kreise der Seinen eingeflößte Verehrung und Liebe jenes Labsal seines Daseins, das die Welt ihm nicht gewähren konnte. Denn eben um diese Zeit hielt in Berlin der deutsche Reichstag seine Sitzungen ab und sprach sich selbst und der herrschenden deutschen Kultur das Gericht, indem er die Anfang April 1880 eingereichte, mit über sechstausend Unterschriften gedeckte Petition um Abschaffung, resp. Beschränkung der Vivisektion kurzweg fallen ließ. Der Vorsitzende der Petitionskommission, der nationalliberale Abgeordnete für Leipzig, Bürgermeister Stephani, ein Herzensfreund des berüchtigten Leipziger Vivisektors Ludwig, ließ es geschehen, daß Professor Virchow, einer der eifrigsten Anhänger der bekämpften Mißbräuche, vor der Kommission eine Lobrede auf die Vivisektion halten durfte und auf das einfache Gutachten dieses Mannes, ohne im mindesten daran zu denken, auch einen Vertreter der entgegengesetzten Ansicht zu berufen und anzuhören, lehnte die Kommission es kurzweg ab, die Petition, wie auch die ähnlichen der Vereine von Hamburg, Leipzig und Hannover, dem Plenum des Reichstags vorzulegen. Auch ein am 5. Mai seitens des Fürsten Hohenlohe-Langenburg, mit Unterstützung von 45 Abgeordneten eingebrachter Antrag:


›die gedachten 4 Petitionen gegen die Vivisektion dem Herrn Reichskanzler zur Erwägung zu übergeben und zugleich das Ersuchen an denselben zu stellen, eine amtliche Untersuchung über die Mißbräuche der Vivisektion anzuordnen und über das Ergebnis derselben dem Reichstage im nächsten Jahre Mitteilung zugehen zu lassen‹,


kam nicht mehr zur Abstimmung, da der Reichstag schon am 8. Mai 1880 geschlossen wurde, so überraschend schnell, daß es dem immer noch fortwirkenden Eifer der Freunde der Sache noch nicht einmal gelungen war, die volle Zahl der eingelaufenen Unterschriften einzusenden Unterschriften, unter denen sich durch die tätige Teilnahme der Fürstin Bismarck und anderer hochgestellter Damen viele Mitglieder aus den höchsten Gesellschaftskreisen [338] befanden, darunter 25 Generale, 88 Stabsoffiziere und überhaupt 257 Offiziere. Ein schöner Beweis dafür, daß heroische Tapferkeit und erbarmungsvolles Mitleid Eigenschaften sind, die in der Regel zusammengehen.65 Das Gegenteil solcher ritterlichen und christlichen Gesinnung war nun aber leider weit und breit bei der tonangebenden Clique berufsmäßiger Literaten vertreten, welche den einflußreichsten und verbreitetsten Teil der deutschen Tagespresse beherrschten und gegen die jedes ideale Interesse im Gebiete der Kunst und Kultur erst immer wieder den Kampf auf Tod und Leben bestehen muß, wie die ganze bisherige Lebenserfahrung des deutschen Künstlers es lehrt. So geschah es, daß ein heiteres Mittagsmahl am Himmelfahrtstage in Villa Angri, an welchem auch Joukowsky teilnahm, nachdem soeben die letzte seiner Portraitsitzungen abgehalten worden war, ganz ernst und traurig endete. Der Meister berichtete nämlich von dem, was er eigentlich gern hätte verschweigen wollen: nämlich daß in der Vivisektions-Angelegenheit in Berlin die traurige Entscheidung gefallen sei. Die tiefe Trauer über dieses Erlebnis bestärkte ihn von neuem in dem Gedanken, aus dem deutschen Reiche auszutreten und sich in irgendeinem fernen Weltteil, in Amerika naturalisieren zu lassen: ›Was soll meine Kunst unter diesen rohen und schlaffen Menschen?‹ – ›In meinem deutschen Herzen‹, schrieb er an Wolzogen, ›sieht es düster aus, und denke ich immer mehr daran, mich und meine Kinder durch Option für Amerika dem deutschen Reiche zu entziehen. Den »Parsifal« soll es aber erst noch haben: ich bin entschlossen, es nur noch von inneren, nicht mehr aber von äußeren Umständen abhängen zu lassen, daß ich ihn schon im Sommer 1882 jedenfalls in Bayreuth zum besten gebe Ihr seid alle so vortrefflich und ich scheinbar so undankbar; das wird sich aber schon ausweisen: es kommt der Tag usw.‹66

Am Pfingstmontag, 17. Mai, traf Malwida zu mehrwöchigem Besuch in Villa Angri ein Abends gab es ›Gralsritter‹-Gesellschaft; d.h. Humperdinck und der junge Münchener Dr. Hartmann, Plüddemann und Rubinstein waren anwesend. Von den Unterhaltungen dieses Abends erwähnte uns Humperdinck gewisse ›philologische Erörterungen‹, divinatorische Namendeutungen und -ableitungen, wie sie den sinnenden Geist Wagners – in Ernst und Humor so häufig beschäftigten. So die Deutung des, den eigenen Zeit-und Landesgenossen Mozarts fremdartig klingenden, und daher am [339] liebsten französisch ausgesprochenen kerndeutschen Namens dieses Meisters aus ›Muotishart‹, einem alten Beinamen Wotans.67 Dann ging er scherzend zu dem Namen ›Humperdinck‹ über, der nach ihm eigentlich ›Humberting‹ heißen sollte und den er mittelst der patronymischen Schlußsilbe -ing (oder -ung) auf Humbert, Hubert, Hugibert, Hugbrecht (geistesberühmt) zurückführte. ›Italienisch‹, fügte er hinzu, ›wurde der Name Umbertini lauten.‹ Doch zog er sich diesmal früher als sonst von der Gesellschaft zurück, da es mit seiner Gesundheit nicht zum besten bestellt war und ein hartnäckiger Unterleibskatarrh auch seine allgemeine Stimmung nachhaltig beeinflußte. Trotz alledem trug er die deprimierenden Wirkungen eines solchen Unwohlbefindens nur ungern zur Schau, und ein Mittagsmahl an einem der folgenden Tage, woran auch Malwida teilnahm, schloß in recht heiterer Stimmung. ›Der Witz ist da – die Erde hat mich wieder!‹ rief er dazu aus. ›Das wäre mein größter Triumph, wenn ich Euch alle noch in meiner Todesstunde zum Lachen brächte!‹

›Und so durften wir uns hier‹, berichtet Malwida in ihren ›Erinnerungen‹, ›in der entzückend schönen Welt, die uns umgab, und der noch schöneren Geisteswelt, in der wir lebten, wenigstens für eine Zeitlang glücklich wähnen. Wagners Geburtstag nahte heran, und es wurden Vorbereitungen getroffen, ihn festlich zu begehen.‹ Nachdem noch der Vorabend des großen Tages, Freitag der 21. Mai, da draußen recht grau in grau, trüb und schaurig verlaufen war, wirkte nun die Natur selbst zur Verherrlichung des eigentlichen Festtages mit, durch einen leuchtend sonnigen Morgen, dessen strahlende Klarheit gleich in der Frühe beim ersten Öffnen der Läden in das Innere des Hauses eindrang und sich durch die ganze Dauer des Tages bis in die späten Abendstunden unverändert behauptete Liebe, Ehrfurcht und Dankbarkeit vereinigten sich, ihn mit allen sprechenden Zeichen der Ergebenheit zu schmücken: früh um acht brachten die vereinigten Kinder dem Erwachenden den ersten Gesangsgruß; um elf Uhr, nach dem ersten Frühstück, betrat er zum Empfang der eigentlichen Beglückwünschung die von vier Säulen getragene Halle, nachdem diese über Nacht von unsichtbaren Feenhänden in ein[340] schönes Wunder von Pracht und Reiz für das Auge umgewandelt war. Allerdings hatten diese unsichtbaren Hände arbeitsamer Tapezierer die ganze Nacht hindurch mit ihren Hämmern gepocht und geklopft, wie in Nibelheim; aber doch so möglichst wenig geräuschvoll, daß der zu Überraschende im entlegenen Schlafraum davon nichts vernommen hatte. Nun war die Halle durch einen Vorhang in zwei Teile geschieden: in dem einen war das Zelt aufgeschlagen, in welchem der Geburtstagstisch mit den reichen Gaben stand; in dem andern befand sich die Bühne, von der aus ihn ein von Frau Wagner gedichtetes hochpoetisches kleines Festspiel begrüßte. Es führte das Sternbild des Wagens redend ein, das mit seinen sieben Sternen der Zahl der Familienmitglieder entsprach, und wurde von den jungen Darstellern aus tiefer Empfindung heraus mit dem beseeltesten Ausdruck herrlich und zu tiefer Rührung des Meisters gesprochen.68 Dann zog er sich, zur Erholung von allen auf ihn eingedrungenen Gemütsbewegungen, auf kurze Zeit zurück. Inzwischen wurden Zelt, Theater, Gabentisch hinweggeräumt und alles in weitläufigeren Zwischenräumen und besserer Ordnung im Saale aufgestellt, der, – den vollendeten siebenundsechzig Jahren gemäß – mit ebensovielen, hochstämmigen, üppig blühenden Rosenstöcken geschmückt war. Die siebenundsechzig Blumentöpfe waren mit zierlich bemaltem Papier verkleidet, auf dem mit viel Humor und Originalität die Ereignisse eines jeden Jahres aus dem Leben des Geburtstagskindes eine bildliche Darstellung gefunden hatten. Die begabte Künstlerin, von deren Hand diese Darstellungen herrührten, war des Meisters eigenes Töchterlein Isolde, der wir im vorhergehenden schon (S. 133, auch 331) als geschickter Zeichnerin begegneten.69 Inmitten aller reichen Gaben hatte das prachtvoll gelungene, fast lebensgroße Portrait der Gemahlin des Meisters von Joukowsky seine Aufstellung gefunden. Nach kurzem Ausruhen, während dessen diese Umwandlung zaubergleich sich vollzogen, begab er sich in den Saal und verweilte hier eine volle Stunde ganz allein und ohne Zeugen, wobei er denn u.a. auch die soeben erwähnten bildlichen Kompositionen einer eingehenden Durchsicht unterzog. ›Mich‹, so berichtet Joukowsky, ›beglückte er durch den Ausspruch: ich hätte mein Bild mit dem Herzen gemalt.‹ Um ein Uhr ging das Mittagessen im Speisezimmer rechts von der Halle vor sich: auch dieser Raum war heute als Blumenzelt geschmückt. Da die Anzahl der Teilnehmer des Mahles am heutigen Tage ursprünglich dreizehn sein sollte, war ein darauf bezüglicher Spruch vorbereitet, der an das Geburtsjahr 1813, die 13 Buchstaben seines Namens, die Tischgenossen des heiligen Abendmahles und an einen Traum anknüpfte, in welchem er einmal dreizehn Sonnen am Himmel gesehen. Aber der Meister[341] hatte des Morgens erklärt, er wolle lieber nicht zu dreizehn bei Tische sein; deshalb wurden Tischordnung und Spruch verändert und ein ›vierzehnter‹ dazu eingeladen. Den Trinkspruch sprach Heinrich von Stein in gebundener Rede und in einer Form, die jeden einzelnen der Anwesenden zur Mitbeteiligung heranzog ›Dreizehn Namen‹, so berichtet der mitanwesende Plüddemann, ›waren darin für das Geburtstagskind erdacht und ein jeder der Tischgenossen wurde gefragt: »wie lässest Du ihn leben?« Ich z.B. hatte hierauf den »Meister« leben zu lassen. Nach dem Ende der Rede entstand beim Anstoßen der Gläser draußen ein starkes Geknatter; die hierzulande üblichen Böllerschüsse wurden abgebrannt. Der Meister erwiderte, nachdem er ungeduldig das Ende des Lärms abgewartet, in tiefer Rührung und in der eigentümlich ergreifenden Weise, in der nur Er zu sprechen verstand. Er gedachte des hinter ihm liegenden langen, qualvoll bewegten Lebens, welches nun in einem schönen harmonischen Frieden seinen Abschluß gefunden. Er ging davon aus, wie er einst – i. J. 1861 – auf der Altenburg in Weimar Liszts Gast gewesen; da habe es geheißen: »Wir sind dreizehn bei Tisch, einer muß sterben!« Er sei damals so ganz ohne Hoffnung gewesen und habe sein Leben als ein gänzlich verfehltes ansehen müssen, an dem ihm nichts mehr liegen konnte, und so habe er dann ausrufen müssen: »Laßt mich der Dreizehnte sein!«70 Doch sei das jetzt anders geworden; es sei für ihn noch ein Glück angebrochen, auf das er nicht mehr habe hoffen dürfen; deshalb hätte er ausdrücklich gewünscht, daß sie heute nicht 13 sein sollten. Während er früher sich immer gern als den Dreizehnten angesehen habe, sei er nun abergläubisch geworden und wolle auf sein Glück nicht trotzen. Dieses Glück faßte er nunmehr indem er auf das Bild des Siebengestirnes zurückkam in die Siebenzahl zusammen, die er mit den Seinigen bildete, so daß alle, die ihm fortan nahen wollten, ihn nur noch im Kreise der Sieben finden könnten; an diese Siebenzahl knüpfte er dann alles Weitere an, Himmelhochjauchzendes, Todbetrübtes, wobei in aller Augen die Tränen der Seligkeit glänzten. Man begab sich hiernach zum Kaffee in den Saal, wo die Kinder sich in dem Übermaß von Blumen so lieblich ausnahmen, daß er wiederholt das Gespräch unterbrach, um eine darauf bezügliche Bemerkung zu machen. Und zu der Lieblichkeit der Blumen und der Kinder kam dann noch die Anmut der Töne, indem Pepino aus der Nebenstube das für ihn ins Italienische übersetzte und durch die älteste Tochter Daniela ihm einstudierte Lied »Mignonne«71 zum Vortrag brachte. Dann lenkten die eingelaufenen Glückwunsch-Depeschen und Briefe aus allen Enden der Welt die Aufmerksamkeit auf sich und wurden zum Teil laut verlesen. Darunter vor allem der telegraphische Gruß des [342] königlichen Freundes und Gönners, demnächst solche von Friedrich Schön, Heckel, den »Leipzigern vom Wagnertisch« usw. usw., endlich von allen den getreuen Bayreuthern, von Feustel und Muncker bis zu diesem und jenem in Bayreuth zurückgebliebenen treuen Diener des Hauses, selbst dem Buchbinder Senfft. Auf des Meisters Wunsch trug dann – inmitten all dieser Jugend- und Rosenblüte – noch Rubinstein die Blumenmädchen-Szene vor. Nachdem dann die Gäste für einige Stunden entlassen waren, folgte eine einstündige Siesta, dann – um fünf Uhr – ein Spaziergang zur »Palme«, immer bei schönstem frischen Wetter. Für den Abend war eine Gondelfahrt auf dem Meerbusen in Aussicht genommen.‹ ›Als wir‹, so erzählt Plüddemann, ›bei der Villa Angri anlangten, fanden wir den Meister mit den Seinigen bereits an der Landungstreppe der Boote. Von hier aus ging in fünf Barken die Ruderfahrt über den mondbeglänzten Golf vonstatten. Die reichgebildeten, villengekrönten, schönen Ufer des Posilip nahmen sich vom Wasser unbeschreiblich herrlich aus; in Castellamare drüben wurde, wie zum Gruß, ein Feuerwerk abgebrannt. Unsere Schiffer hatten bengalische Fackeln mitgenommen, die weiß, rot, grün und schließlich wieder weiß leuchteten und in deren Scheine man alle Teilnehmer der Fahrt deutlich erkennen konnte. Zu alledem sang Pepino mit Begleitung der Mandoline die schönsten neapolitanischen Volkslieder; alles klatschte, und der Meister scherzte: »il Vesuvio dice bravo!« Die Ruderer griffen im Takt mächtig aus, eine Wettfahrt entwickelte sich: wir schossen auf der hellen, spiegelglatten Fläche dahin.‹72 Und über diese Fläche wölbte sich der wundervolle, sternklare Nachthimmel, dazu ganz laue Luft und hellste Mondesstrahlen, in weiter Ferne das glänzende Neapel, der Vesuv seine Garben auswerfend, alles in einer Glorie von trunkener Schönheit. Auf der Heimfahrt wurden wiederum bengalische Lichter von den Schiffern entzündet, so daß die Barken ›wie kleine Feuerinseln dahinschwammen‹,73 und die Kinder in Erwiderung der Gesänge Pepinos mit ihren frischen Stimmen den ›Gruß der Getreuen‹ anhebend, – das Ganze wie ein Traum in einem Märchen. In sanftem Wiegen der Barken längs den seligen Ufern näherte man sich der Villa, die in feenhaftem Glanz von ihrer Höhe herabstrahlte. Zum erstenmal war alle Lichtfülle des schönen Hauses aufgeboten und die von Karyatiden getragenen Wandkandelaber des Saales angezündet. Die Landungsstelle war erreicht, man stieg wieder aus, der Zug bewegte sich die Terrassen aufwärts und betrat zwischen den ragenden Säulen des Einganges den Saal, der mit seinem reichen Blumenschmuck bei hellster Beleuchtung in einen wahren Rosenhain verwandelt schien. Man büffettierte, und der Meister, tief bewegt, hatte dennoch für die jungen Freunde [343] so viel Scherz und Witz bereit, daß diese (nach Plüddemann) ›aus dem Lachen nicht herauskamen‹. Um aber ›den schönen Tag mit dem Schönsten zu beschließen, wurde dann das Musikzimmer geöffnet, und es begann eine Aufführung, die aus der Schönheit irdischen Seins zur einer Ahnung der Schönheit überirdischen Seins führte und die Seele mit dem reinsten Glücksempfinden erfüllte, welches Erdgebornen zu fühlen vergönnt ist‹.74 Rubinstein begab sich an den Flügel, und es erklangen die ersten Akkorde der Verwandlungsmusik aus dem ersten Akte des ›Parsifal‹. ›Rechts vom, Flügel‹, so schildert Humperdinck diesen Moment, ›waren wie eine Perlenschnur die festlich geschmückten Fräulein aufgereiht, deren jugendliche Gesichter leuchteten vor Erwartung und Aufregung. Ihnen gegenüber standen Plüddemann und meine Wenigkeit, jeder eine Gralsritterpartie in der Hand, im Hintergrund befanden sich als Zuhörer Frau Wagner mit Siegfried, ihr zur Seite Malwida von Meysenbug, Heinrich von Stein, Herr von Joukowsky und Dr. Hartmann aus München. In der Mitte des Kreises saß Wagner, vor sich auf einem Pult die ausgeführte Skizze des »Parsifal«, aus der er sang und dirigierte, Solist, Kapellmeister und Regisseur in einer Person. Mit seiner klangvollen umfangreichen Stimme, der alle Register zu Gebote standen, wußte er alle einzelnen Vorgänge in eindruckvollster Weise wiederzugeben, des Gurnemanz Mahnung, die Klagen des Amfortas um das verwaiste Heiligtum, Titurels weihevoll ernste Grabestöne. Dazwischen erklangen wie Engelsstimmen die Gesänge aus der Höhe, wechselnd mit den rauheren Tönen der Ritter und Knappen. Und wenn einmal ein Sopran versagte oder ein Tenor, dann half der Meister unmerklich aus und führte so ohne alle, Fährnisse das Werk zu glücklichem Ende. Als die letzten Klänge des »selig im Glauben!« leise verschwebten, schwieg alles in lautloser Entrücktheit, als hätte eine Offenbarung aus höherer Welt sich soeben verkündigt; und gewiß hat nie eine Aufführung des hehren Werkes in erhobenerer Stimmung, in innigerer Rührung und Ergriffenheit stattgefunden.‹75 Dann strömte alles in den Garten, wo Erfrischungen bereitstanden und balsamisch berauschende Düfte der Nacht sich mit fernem Lautenspiel und Gesang vom Gestade des Meeres mischten. Nach dem soeben Erlebten konnte man nur noch scheiden, und dies geschah denn von allen Seiten mit dem unsäglichsten Empfinden eines Glückes, das nicht von dieser Welt war. Nicht ein Mißklang hatte den Festtag in seinem ganzen Verlaufe gestört, und der Meister selbst bezeichnete ihn beglückt als den – ›jugendlichen Tag‹.

Für einen der nächsten Tage war ein größerer Ausflug in die Umgebung von Neapel geplant mit der ganzen Familie und den nächsten [344] Freunden, Malwida, Heinrich von Stein und Joukowsky. Der Versuch einer gemeinsamen Besteigung des Vesuv war kurz zuvor (11. Mai) durch ein Unwohlsein Wagners getrübt worden; er war im Observatorium zurückgeblieben; bloß die Kinder waren mit einigen Führern bis hinauf zum Krater vorgedrungen. ›Aber unsere Fahrt nach Amalfi und Ravello‹, so berichtet Herr v. Joukowsky, ›war desto gelungener.‹ Durch des letzteren fürsorgende Bemühung stand – zu des Meisters großer Befriedigung ein schöner Salonwagen mit breiten hellen Fenstern bereit, und wiederum konnte man, als er in dem geräumigen Coupé Platz nahm, von seinen Lippen das heitere ›begibt mein Herr sich auf die Reise‹ (S. 207) vernehmen. Es gab eine göttliche Bahnfahrt an Portici, Resina, Torre del Greco vorüber, zur Rechten das blaue, immer leise bewegte Meer, zur Linken die mächtigen Abhänge des Vesuv, längs dessen weit ausgedehntem Fuße der Zug einherglitt; dann landeinwärts durch die fruchtbare Talsohle des Sarno, an Pompeji vorüber und des weiteren über Angri, nach welchem die heimische Villa ihren Namen trug und in dessen Nähe einst der letzte Gotenkönig Tejas von Narses besiegt ward. Dann rückten die Berge allmählich immer mehr zusammen, weiter ging es mit starker Steigung durch das reizende Tal von La Cava bis an die Meeresküste und von Vietri aus zu Wagen auf der längs dem Golf von Salerno führenden Landstraße bis Amalfi. Der Besuch der alten Kathedrale S. Andrea verstimmte ihn eher, als daß er ihm Vergnügen bereitet hätte; doch der Abend auf der Terrasse des Albergo dei Cappucini, mit dem Blick auf die in tausend Farbenreflexen strahlende Wasserfläche und das ewig lustige Leben und Treiben an der Marina stellte die gute Laune wieder her. Von Amalfi ging es anderen Morgens früh nach einem heiteren Frühstück auf beschwerlichem Wege in voller Karawane zu Esel hinauf nach dem hochgelegenen Ravello, dessen tiefe grüne fruchtbare Talschlünde sich, gleich Stätten ewigen Wohlgefallens, vom hohen Gebirge abwärts bis zur meerumblauten Küste hinabziehen. Auf der erreichten Höhe schimmerten dann zwischen Zitronenplantagen die freundlichen Villen der alten Bergstadt mit ihrer reichen maurischen Architektur aus farazenisch-normannischer Periode und südlichen Flora, ihren Zedern vom Libanon und Himalaja, und australischem Farnkraut in Manneshöhe. Der Palazzo Rufalo (oder Raffoli), ein altes halbzerfallenes Schloß im maurischen Stil aus dem 12. Jahrhundert, mit seinem säulengetragenen, von Efeu überwucherten Torgebäude unter maurischer Kuppel, seiner von alten Bäumen beschatteten Kapelle, seinen wiederum mit rosendurchflochtenem Efeu bewachsenen, zum Teil unter der Masse desselben versteckten Marmorsäulchen und Gängen – erregte das allgemeinste Entzücken. Eine Marmortreppe führte einige Stufen hinauf in einen Rosengarten von zauberhafter Märchenpracht und -fülle: gedeckte Brunnen von Rosenhecken mit zahllosen, ihren Wohlgeruch mit dem Dufte der Myrten [345] vermischenden Blüten umrankt; wo das Auge nur hinblickte, prangende Blumen in den reichsten Farben und malerischesten Gruppierungen; Steinbänke im tiefsten Grün; kleine sarazenische Pavillons, ebenfalls mit Efeu und riesengroßen Schlingrosen umsponnen, überragt von ehrwürdigen Zypressenwipfeln oder starrblätteriger Aloe; rechts und links Wege und Nischen mit entzückenden Ausblicken auf das malerische Atrani (Masaniellos Geburtsort), auf die Bucht von Salerno, auf farbig sich abstufende Gefilde und heimliche Talgründe, wo zwischen kühlen Felsenwänden nur der murmelnde Bergbach das tiefe Schweigen unterbricht. Die üppige Fülle südlicher Vegetation aber, die Frühlingspracht schimmernder Blumen mit ihrem weich ausströmenden berauschenden Duft ließen diesen entlegenen Winkel der Erde wie ein märchenhaftes Paradies, einen wahren Zaubergarten erscheinen; inmitten der an Klingsors Schloß erinnernde maurische Palazzo, – mit einem Wort, die von der Natur selbst geschaffene richtige Umgebung für den zweiten Akt des ›Parsifal‹! Dieser Empfindung gab der Meister Ausdruck, als er in das ihm vorgewiesene Fremdenbuch die Worte einzeichnete: ›Klingsors Zaubergarten ist gefunden! Richard Wagner, mit Frau und Familie. 26. Mai 1880.‹76 Die Verwalter dieser, im Privatbesitz eines Engländers (Mr. Neville Reed) befindlichen Pracht, ein Schweizer Ehepaar namens Palumbo, rechneten es sich zur höchsten Ehre an, ihn und die Seinen in ihren Räumen zu bewirten; insbesondere erinnerte die Frau in ihrem ruhig ernsten Wesen in angenehmer Weise an die gute Vreneli.77 Da es damals in ganz Ravello keinen eigentlichen Gasthof gab, redete er den freundlichen Leuten zu, ein Hotel an dem Orte zu begründen, ein Vorschlag, der in der Folge wirklich ausgeführt und von den Unternehmern nicht bereut wurde.78 Einstweilen machte man sich zu weiterem Ritt über Sta Chiara nach dem sog. kleinen Pavillon auf, wo – mit Gesang von Pepino – Halt gemacht wurde. Dann beschaulicher Abstieg, während der Abendhimmel von lichtem Rosa zu immer dunklerem Rot sich färbte, und ein schöner Abend auf der Terrasse des Albergo dei Cappucini mit Gesprächen über die funkelnden Sterne am hohen Himmelsgewölbe. So schloß der zweite Tag dieses Ausfluges befriedigt ab; auf den nächstfolgenden fiel leider das Fronleichnamsfest mit seinen Umzügen, seinem heidnischen Prunk und kannibalischen Geräusch, welches[346] stets das Entsetzen des Meisters hervorrief, wogegen der elfjährige Siegfried, voller Begierde nach allem, was lebte und sich regte, im Laufe des Vormittags sechsmal in den Dom hin und zurücklief, um sich Auge und Ohr mit den kaleidoskopisch wechselnden Vorgängen zu füllen. In zwei Barken wurde noch eine herrliche Meerfahrt zur Grotte unternommen, dann ging es über das schöne Vietri zurück, immer im separierten Salonwagen und im Schoß der Familie, wobei sein Humor immer übermütiger sich erregte und zum Schluß Neapel bei der Ankunft wieder seinen ganzen großmächtigen herrischen Zauber ausübte. ›Daneben‹, so rief er, ›sähe doch alles übrige wie ein Idyll aus, und man käme sich hier vor wie in der Hauptstadt der Welt.‹

Fußnoten

1 Vedius Pollio, zur Zeit des Augustus.


2 ›Seit ich keine Zeitung mehr lese, bin ich ordentlich wohler und geistesfreier. Man kümmert sich doch nur um das, was andere tun und treiben, und versäumt, was einem zunächst obliegt.‹ (Vgl. ›Zahme Xenien‹: ›Wer hätt' auf deutsche Blätter acht‹ usw.)


3 ›Ich bin nicht so alt geworden, um mich um die Weltgeschichte zu kümmern, die das Absurdeste ist, was es gibt; man liest Folianten und Quartanten durch und wird um nichts klüger, als wenn man alle Tage in der Bibel läse. Man lernt nur, daß die Welt dumm ist, und das kann man in der Seifengasse hier zunächst auch erproben.‹


4 Vgl. Ges. Schr. X, S. 329: ›Man denke an Goethe, der Christus für problematisch, den lieben Gott aber für ganz ausgemacht hielt, im Betreff des letzteren allerdings die Freiheit sich wahrend, ihn in der Natur auf seine Weise aufzufinden; was denn zu allerhand physikalischen Versuchen und Experimenten führte‹ usw.


5 Straße am Fuße des Posilip, auf die Riviera di Chiaja mündend.


6 Zur Säkularfeier Friedrich Fröbels brachten die ›Bayreuther Blätter‹ i. J. 1882 (S. 119 ff.) ganz im Sinne des Meisters einen vortrefflichen Aufsatz über Kindergärten von G. Wittmer, der sich damit für alle Folgezeit unter ihre gediegensten Mitarbeiter einreihte.


7 Vgl. Gesammelte Schriften VIII, S. 13, auch 133.


8 Vgl. die Ausführungen dieses Gedankens in Dührings, damals noch nicht erschienenem, aber in seinem damaligen Gedankenkreise bereits präformiertem Buche über den ›Ersatz der Religion durch etwas Vollkommeneres‹, sowie die Schlußkapitel von Steins eigener, damals in ihm noch sehr lebendigen Schrift ›die Ideale des Materialismus‹.


9 Vgl. Gesammelte Schriften VIII, ›über Staat und Religion‹.


10 Zur Sache vgl. die Lehre Schopenhauers über den indischen Ursprung des Christentums, wenngleich unter ägyptischer Vermittelung (›Welt als Wille‹ II, S. 558, Schriften zur Ethik, S. 241 u. oft). ›Das reine ungemischte Christentum ist nichts anderes als ein Zweig des ehrwürdigen Buddhaismus, der nach Alexanders indischem Zuge seinen Weg bis an die Küsten des Mittelmeeres fand‹ (›Briefwechsel mit Liszt‹ II, S. 84).


11 Siehe die von Erich Kloss herausgegebene Briefsammlung ›Richard Wagner an seine Künstler‹, S. 386/87.


12 In dem ebenerwähnten Abdruck dieses Briefes findet sich der Druckfehler: ›Dennoch (für: demnach) veranlassen Sie Entscheidung!‹ (›Richard Wagner an seine Künstler‹, S. 387).


13 Joukowskys Mutter, eine geborene v. Reutern, gehörte dem deutsch-livländischen Adel an.


14 Diese ungedruckten Erinnerungen wurden uns durch die Güte ihres Verfassers zur Verfügung gestellt und durchziehen von hier ab unsere ganze nachfolgende Erzählung.


15 Vgl. Ges. Schr IX, S. 343/44: ›Was Goethe, seufzend und tief trauernd, in unsere nordischen Gefilde zurücktrieb, ist gewiß nicht bloß aus seinen persönlichen Lebensverhältnissen zu verstehen. Wenn auch ich zu verschiedenen Malen in Italien eine neue Heimat aufsuchte, so war das, was mich stets wieder davon zurücktrieb, mir leichter erklärlich: vielleicht deute ich es Ihnen am glücklichsten an, wenn ich sage, daß ich den naiven Volksgesang, welchen noch Goethe auf den Straßen hörte, nicht mehr vernahm, und dagegen den heimkehrenden Arbeiter des Nachts in den gleichen affektierten und weichlich kadenzierten Opernphrasen sich ergehen hörte, von denen ich nicht glaube, daß der männliche Genius Ihrer Nation sie eingegeben hat, – aber auch nicht der weibliche!‹ – Die geschlechtslose ›Opernmelodie‹ hatte ihren eigenen Quell, den naiven Volksgesang, trotz aller glücklichen Naturanlage einer melodischen Stimmbegabung, rettungslos verdorben und verschüttet!


16 Vgl. Band III des vorliegenden Werkes, S. 254. 285/86. 312/13 (nebst Anmerkung), 314.


17 Band I des vorliegenden Werkes, S. 114.


18 Vgl. Ges. Schr. X, S. 415: ›In welchem Verhältnisse Kolonien zu ihrem Mutterlande ganz naturgemäß verbleiben, hat uns Carlyle deutlich nachgewiesen: wie die Aste des Baumes, welche, von ihm losgelöst und neu verpflanzt, immer nur das Leben dieses Baumes in sich tragen, mit ihm altern und sterben, so bleiben die fernsten Verpflanzungen der Zweige eines Volkes dem Leben desselben unmittelbar zugehörig; sie können durch scheinbare Jugendlichkeit täuschen, und doch leben sie nur noch von derselben Wurzel, aus welcher der Stamm wuchs, alterte, verdorrt und stirbt‹ (Brief an Heinrich von Stein).


19 Frau Julie v. Abaza wird schon zehn Jahre früher, zugleich mit Frau v. Moukhanoff, unter den Teilnehmern der ersten Münchener ›Walküre‹-Aufführung erwähnt (Liszt, Briefe VI, S. 253); auch finden wir sie im Verzeichnis der Patrone der ersten Bayreuther ›Ring‹-Aufführung (sub Nr. 165).


20 Bekanntlich hatte einst Katharina II. die Errichtung eines großen russisch-byzantinischen Reiches unter der Herrschaft eines russischen Großfürsten geplant und ihren zweiten Enkel daraufhin ›Konstantin‹ taufen lassen, um bei den Griechen alte Erinnerungen zu erwecken.


21 Vgl. Band V des vorliegenden Werkes, S. 380.


22 Malwida berichtet von ihm in ihren Erinnerungen, wie er in Sorrent sich häufig ihr zugesellt, ›wenn wir abends auf der großen Hotelterrasse auf und niedergehend, die göttlichen Frühlingsabende genossen‹. ›Da entlud sich das Herz des schwer Gekränkten in bitteren Äußerungen über das ihm nach seiner Ansicht geschehene Unrecht und in Ausdrücken des unversöhnlichsten Hasses gegen Den, welchen er für den Urheber der erlittenen Verfolgungen hielt. Er war ein schwer leidender, gebrochener Mann, der nichts tun konnte um sich zu rächen, und das Gefühl seiner Ohnmacht lastete schwer auf ihm. Zuweilen kamen über ihn auch mildere, fast mystische Gedanken und Stimmungen, und es tat mir leid, daß er in ihnen nicht den Trost fand für die tiefe Kränkung, welche ihm in die ser unvollkommenen, von Eitelkeit und Herrschsucht erfüllten Welt zuteil geworden war‹ (›Lebensabend einer Idealistin‹, S. 144, verkürzt).


23 Vgl. Heinrich v. Stein, ›Ästhetik der Klassiker‹ (2. Abschnitt: ›Goethes Naturwissenschaft‹) enthalten in: ›Zur Kultur der Seele, gesammelte Aufsätze von K. Heinrich v. Stein‹ (Stuttgart und Berlin, 1906) einzeln auch in Reclams Universalbibliothek u. d. Titel: ›Goethe und Schiller‹. Über Düntzer vgl. L. Schemann in den ›Bayreuther Blättern‹ 1900, S. 52 ff.


24 Jean Antoine Gleïzès (1773–1843), ›Thalysia, ou la nouvelle Existence‹, 2me édition, 3 Vols. in 8° (Paris, Desessart, 1842); die erste Ausgabe war bereits i. J. 1821 an das Licht getreten, unter dem Titel: ›Thalysie, ou Système physique et intellectuel de la Nature.‹ Eine deutsche Übersetzung, von Robert Springer, erschien unter dem Titel ›Thalysia, oder das Heil der Menschheit‹, 1872 bei Otto Janke in Berlin.


25 Nietzsche, ›Briefe‹ I, S. 148 (Brief an Gersdorff vom 28. September 1869).


26 Die hiermit bezeichnete Auslegung ist nicht direkt in Glêïzès' ›Thalysia‹ enthalten, wohl aber in desselben Autors Schrift: ›Le Christianisme expliqué ou l'unité de croyance pour tous les chrétiens‹ (›Erläutertes Christentum oder die Einheit des Glaubens für alle Christen‹, Paris, 1830); und der Übersetzer R. Soringer weist in seinen Anmerkungen wie auch in seinem Vorwort zur ›Thalysia‹ hierauf als den, ernstlich erwogen, allgemein faßlichsten Kern des Christentums hin, – wie einst der heilige Franz von Assisi seine Kleider für ein Lamm dahingab, das man zur Schlachtbank führte, indem er sich dabei des ›sanftesten Lammes‹ erinnerte, welches für das Heil der Menschheit geopfert wurde. Der Gott Elohim des alten Testamentes, der das Tieropfer ausdrücklich forderte, durfte allerdings unter diesem Gesichtspunkt bedenklich genug erscheinen (Vgl. Gesammelte Schriften X, S. 310).


27 Man erinnere sich seiner auf die Marmorbüste von Kietz bezüglichen Äußerungen in Band IV des vorliegenden Werkes, S. 102/03 und vergleiche damit den in den Kietzschen ›Erinnerungen‹, S. 166, angeführten Ausruf: ›An meiner Büste liegt mir nichts, an der Büste meiner Frau alles!‹


28 ›Aus dem Nachlaß von Heinrich v. Stein‹ (Leipzig, Breitkopf & Härtel, 1888), biographisches Vorwort.


29 Siehe: Heinrich von Stein, ›Giordano Bruno, Gedanken über seine Lehre und sein Leben‹ (Berlin, 1900), S. 72. In der getreuen Wiedergabe einzelner dieser leidenschaftsvollen Gedankendichtungen hat Stein sich nicht genug tun können; so ist z.B. das Sonett ›Ursache, Urding und ein ewig Eines‹ auf S. 69 der eben zitierten Schrift einige Jahre später in einer bei weitem vollendeteren Form in den ›Bayreuther Blättern‹, 1885, S. 224, zugleich mit einem anderen (›Wem dank' ich's, daß ich nun mit freier Seele‹) zum Abdruck gelangt, in der es nun einzig noch beachtet werden sollte, nicht mehr in jener früheren unvollkommeneren Gestalt.


30 Diese große Pulsader Neapels, von dem Largo del Palazzo bis zum Museo nazionale 25 Minuten lang, und von früh bis spät voller Bewegung, war i. J. 1540 durch den Vizekönig Don Pedro de Toledo angelegt, dem sie ihren Namen verdankt; sie trug ihn bis zur Annexion Roms im Herbst 1870 und heißt seitdem im offiziellen Sprachgebrauch Strada di Roma.


31 Richard Wagner, ›Bayreuther Briefe‹, S. 292.


32 ›Bayreuther Briefe‹, S. 293/94. Diese an Feustel gerichteten Zeilen sind vom 4. März datiert; die gleiche Nachricht von der beabsichtigten Verlängerung des neapolitanischen Aufenthaltes ist aber schon in einem Briefe an Angelo Neumann vom 20. Februar ausgesprochen, und sie wiederholt sich in zwei Briefen vom 5. März an Wolzogen und an Seidl (›R. W. an seine Künstler‹, S. 388 und 310), immer unter der gleichen Berufung auf die ihm dringend empfohlenen Seebäder.


33 ›Richard Wagner an seine Künstler‹, S. 387/88.


34 Neumann, ›Erinnerungen‹, S. 105.


35 Wortlaut des Briefes von Angelo Neumann selbst mitgeteilt, S. 106 seiner ›Erinnerungen‹.


36 ›Richard Wagner an seine Künstler‹, S. 310/311.


37 ›Richard Wagner an seine Künstler‹, S. 388/89.


38 ›Bayreuther Briefe‹, S. 292/93.


39 In dem Artikel ›Parsifal-Skizzen, persönliche Erinnerungen usw. von E. Humperdinck‹, in der Wiener Zeitung ›die Zeit‹, 1907, Nr. 1735, 1738 und 1744. Schon zu Beginn des Jahres (2. Januar) hatte er gelegentlich eines Besuches beim deutschen Gesandten in Rom, Herrn von Keudell, von der bevorstehenden Ankunft des Meisters die erste Kunde erhalten; doch dauerte es immerhin noch zwei volle Monate, bis er – 2. März – Rom verließ, um sich von dort aus nach Neapel zu begeben.


40 So nannte sich eine Gesellschaft junger Musiker, die damals in München, zur Fahne des Meisters schwörend, das Verständnis für das Wesen der Wagnerschen Reform und die Pflege der Bayreuther Kunstbestrebungen sich mit jugendlichem Idealismus zur ernsten Aufgabe gemacht hatten.


41 A. a. O.


42 Vgl. Band V des vorliegenden Werkes, S. 77. 298. 317.


43 Pietro Cossa, geb. 1830 zu Rom, † 1881 zu Livorno, der bedeutendste Tragiker der neuitalienischen Periode, der namentlich in seinem ›Nerone‹ eine wirklich dichterische Kraft bekundet haben soll; über den Eindruck dieses Stückes auf den Meister vgl. Band V des vorliegenden Werkes, S. 324.


44 Leonardo Leo (1694–1744), einer der hervorragendsten und berühmtesten Begründer und Meister der neapolitanischen Schule, von dessen Schülern u.a. Jomelli und Piccini zu hohem Ruf gelangten. Von seinen (gegen 60) Opern und Oratorien, seinen Messen im Palestrinastil und sonstigen genialen Erzeugnissen im Gebiete der geistlichen Musik, in deren Zahl sich auch das obenerwähnte achtstimmige Miserere (a capella) einreiht, befinden sich die Manuskripte zum Teil noch heute in der wertvollen Handschriftensammlung des Conservatorio zu Neapel.


45 Gesammelte Schriften VII, S. 144/45.


46 ›Wehe der Equipage, die sich dann auf den gefüllten Straßen noch etwa nichtachtend zu zeigen wagt; sie wird unerbittlich vertrieben; denn heute herrscht,lo struscio, das Rauschen der seidenen Kleider im Auf- und Abwallen der Promenierenden, die hier bis in die frühesten Morgenstunden ihren dichtgedrängten Corso halten und eine Kirche nach der andern besuchen, lustig und erregt, aber in gedämpfter Weise: es müßte denn auf irgendeinem Balkon Kasperle auftauchen und durch seine Witze die gestaute Menge zum unbändigen Lachen verleiten, während man überall auf den Seitenstraßen, bis hoch die Treppen zu S. Elmo hinauf, die Kinder ihre Osterlämmchen gleich Hündchen an seidenen Bändern führen sieht‹ (Th. Scheffer, ›Neapel‹, S. 195).


47 Via di Roma No. 289.


48 Vgl. Band III des vorliegenden Werkes, S. 148/49.


49 Band III des vorliegenden Werkes, S. 51.


50 Bekanntlich hatte es Bülow gewagt, die letzten fünf Klaviersonaten Beethovens zyklisch zusammenzufassen, und durch diese Vorträge das kunstverständige Publikum in Berlin, Bremen, Würzburg, Leipzig, Dresden, Hamburg, ja selbst in London und Edinburgh zur Bewunderung hingerissen. Vgl. S. 257 dieses vorliegenden Bandes.


51 Frau von Schleinitz.


52 So berichtete darüber W. Tappert in der ›Allg. Deutschen Musikzeitung‹ vom 13. Februar 1880. ›Herr Joseph Rubinstein ist ein vortrefflicher Musiker und ausgezeichneter Pianist‹, heißt es weiter in diesem Bericht; ›nach meinem Empfinden hat er vieles wunderbar, manches sonderbar gespielt. Gleich das erste Präludium (C dur, das von Gounod verarbeitete!) mißfiel mir sehr. Tausig würde eine Anschlagstudie daraus gemacht und möglichst den Ton der alten Tasten-Instrumente nachgeahmt haben, – Herr Rubinstein zeigte dieses Bestreben nicht‹ usw. Dieser Bericht kam Wagner unter die Augen und er bemerkte dazu, wie fehlgegriffen dieses Urteil des Berliner Kritikers sei: gerade er habe Rubinstein den Rat gegeben, bei seinem Vortrag nur auf die bedeutende Harmoniefolge den Akzent zu legen.


53 Vgl. den Briefband ›Richard Wagner an seine Künstler‹, S. 312.


54 Ebendaselbst, S. 311.


55 ›Bayreuther Briefe‹, S. 292. Vgl. Band IV des vorl. Werkes, S. 170: ›Mit Deutschlands Wiedergeburt und Gedeihen steht und fällt das Ideal meiner Kunst – nur in jenem kann dieses gedeihen!‹


56 Vgl. den auf S. 176 zitierten, gerade auch an Jenkins gerichteten Ausspruch über das ›Vaterland‹: ›Woher käme denn die Trauer, wenn man es nicht so liebte!‹


57 Band III des vorliegenden Werkes, S. 484, Band V, S. 165. 182. 217. 248 usw.


58 Band V des vorliegenden Werkes, S. 217. 299. 339.


59 Richard Wagner, ›Gedichte‹ (Berlin, 1905), S. 127: ›Es gibt viele, die über mich herzogen, doch gibt's nur einen Herzog!‹


60La bataille ou défaite des Suisses à la journée de Marignan‹, zuerst gedruckt in dem Sammelwerk, ›Inventions musicales de Jannequin‹ (Lyon 1544); nach langer Vergessenheit zuerst 1823 in Paris durch Choron zu neuem Dasein erweckt; vgl. ›Allg. Deutsche Musikzeitung‹, 1880, S. 158.


61 Die beiden Briefe an Seidl vom 6 und 16. April 1880 finden sich in dem Briefbande ›Richard Wagner an seine Künstler‹, S. 313/14; der Brief an Neumann vom 24. (tatsächlich 26.) April in des letzteren ›Erinnerungen‹, S. 108; in der ganzen Kette fehlt kein einziges Glied!


62 Humperdincks Notizen über die Ergebnisse lauten wie folgt: ›3. Mai. Mit dem Meister und Josef Rubinstein im Konservatorium. Einige Vorträge der Chorschule und zwar modern inhaltlose Kompositionen. R. W. unzufrieden. Beklagt sich beim Direktor, daß die alten italienischen Meister vernachlässigt würden; man solle doch die Tradition der berühmten Neapolitanischen Schule besser pflegen. (Verlegenheit.) Zum Schluß zeichnet er auf Wunsch ins Fremdenbuch, indem er das Gralmotiv aus »Parsifal« mit der Bezeichnung »Il santo Gral« hinzufügt.‹


63 Kürschners ›Wagner-Jahrbuch‹, 1886, S. 89.


64 Ebendaselbst, S. 92.


65 War doch auch zwei Jahre zuvor in England ganz dieselbe Erfahrung gemacht worden: als eine Deputation an den Minister des Innern zur Befürwortung eines totalen Verbotes der Vivisektion abgeordnet werden sollte, erklärten sich innerhalb der ersten Woche sofort vierzig Generale und Admirale, unter ihnen die gefeiertsten und mit dem Viktoriakreuz geschmückten Kriegshelden (das Viktoriakreuz wird bekanntlich in der englischen Armee nur für Taten der größten Bravour verliehen!) dazu bereit, der Deputation beizutreten!


66 ›Richard Wagner an seine Künstler‹, S. 390.


67 Später des näheren ausgeführt durch H. v. Wolzogen: ›Muotishart, der Held des Mutes, so lautet sein Name, und der Wolfgang gehört ihm ureigen an. Von dem »Muotisheer« erzählt uns die schwäbische Sage, von der wilden Jagd Wotans, des Herrn germanischer Muteshärte, und den »Gang der Wölfe« kennen wir wohl, der deutschen Wölfinge, welche dem göttlichen Vater auf Schritt und Tritt in die Jagden und Schlachten mit Riesen, Hunen und Hundingen folgten. Freilich, die Fremdartigkeit der Kulturwelt, in welche der Wotan vom sagenhaften Salzburger Untersberge hinaustrat, – die verfeinerte gar sehr die mächtige Gestalt des göttlichen Urbildes, und aus dem harten Mute des alten Heiden ward das zarte Gemüt des Kindes seiner Zeit. Aber der Kern blieb unversehrt, er strahlte aus den Augen unter dem fremdartigen Puderhaar und tönte aus den Melodien »der Geist des deutschen Gottes« der Wahrhaftigkeit des Gemütes‹ (›Bayreuther Blätter‹, 1885, S. 42).


68 Malwida von Meysenbug, ›Lebensabend einer Idealistin‹, S. 154.


69 Vgl. M. Plüddemann, ›Eine Geburtstagsfeier in Neapel‹ (in Kürschners ›Wagner-Jahrbuch‹ 1886, S. 90/91).


70 Vgl. Band III des vorliegenden Werkes, S. 334.


71 Band I des vorliegenden Werkes, S. 348. 404.


72 Plüddemann, a.a.O., mit Ergänzungen aus dem Bericht Malwidas.


73 M. von Meysenbug, a.a.O.


74 Malwida von Meysenbug, a.a.O., S. 155.


75 Humperdinck, in der Wiener ›Zeit‹, 1907, Nr. 1735, ergänzt durch den Bericht Malwidas.


76 Die photographische Reproduktion dieser Inschrift ist durch alle nachmaligen Besucher Ravellos in unzähligen Exemplaren in alle Welt verbreitet.


77 Vgl. Band IV des vorliegenden Werkes, S. 28. 171 ff. 440 f. u. oft.


78 ›Ich habe es ihm in die Hand versprechen müssen‹, sagte die würdige Frau Verwalterin späterhin einem ihrer Gäste, ›car il était irrésistible! Irrésistible!‹ wiederholte sie mit Nachdruck. Ein Handschreiben, in welchem der Meister der Familie Palumbo für die damalige gastliche Aufnahme in ihrem Privathäuschen dankte, hängt sorglich eingerahmt am Ehrenplatz ihres schönsten Zimmers. (Vgl. E. Galli, ›Richard Wagner als Hotelbegründer‹ im ›Berliner Tageblatt‹ vom 5. Dezember 1905).


Quelle:
Glasenapp, Carl Friedrich: Das Leben Richard Wagners in 6 Büchern. Band 6, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1905, S. 292-348.
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